Gestern Nacht habe ich schon wieder monogam geträumt. Ich wusste nicht, dass so etwas überhaupt möglich ist. Aber im Traum traf ich einen ziemlich schönen Mann – ausgerechnet auf einem Kreuzfahrtschiff, wo ich im Wachzustand nie hingehen würde. Er stand hinter dem Frühstücksbuffet, ich war hungrig und bezaubert und kurz davor, ihn zu küssen. Dann kam mir blitzartig der Gedanke: „Moment, du bist doch verheiratet!“ – und schon ließ ich den Typen links liegen und ging weg.
Auch mein Mann, mit dem ich seit acht Jahren zusammen bin, hat diese treuen Träume. Bei ihm fing es noch früher an. Als er mir das erste Mal davon erzählte, war ich fast bestürzt. Wenigstens im Schlaf sollte man doch fremdgehen dürfen! Dann kamen die Träume auch bei mir. Spätestens jetzt ist wohl klar, dass sich etwas in mir umgestellt hat.
Ich dachte, Monogamie sei etwas, das man sich ständig erarbeitet, für das man seinen Drang nach der Magie des Verknalltseins und der Verlockung anderer Körper im Griff haben muss. Ich dachte, sie sei auf einer gewissen Ebene ein immerwährender Kampf gegen mächtige biologische Kräfte. Niemand hat mir gesagt, dass dieser Kampf ein Ende haben kann.
Liebe jenseits von Traumhochzeitsversprechen
Wenn ich den letzten Absatz mit Anfang zwanzig gelesen hätte, wäre ich entsetzt gewesen. Ich hätte nicht an Frieden gedacht, sondern an Langeweile und Aufgeben, an den Tod der Neugier. Tja. Wenn ich mit meinem jüngeren Ich reden könnte, würde ich sagen: „Kleines, du hast noch eine Menge Stress mit Männern vor dir. Du wirst es ‚Spaß‘ nennen, und du wirst denken, das sei deine eigene Idee. In Wirklichkeit bist du ziemlich gehirngewaschen davon, was die Gesellschaft, in der du lebst, unter sexueller Freiheit versteht. Und du hast ganz schön Angst davor, jemandem wirklich nah zu sein.“
Damals hatte ich einen großen Plan: Man bräuchte, dachte ich, eine freie Liebe 2.0, also wie der Hippiekram aus den 60ern, nur weniger chaotisch und mit weniger Parolen: Einfach ein praktikables Beziehungsmodell für Menschen, die Liebe realistisch und jenseits von Traumhochzeitsversprechen sehen und das der Tatsache Rechnung tragen konnte, dass jeder zweite Partner sowieso fremdgeht. Dass das monogame Beziehungsmodell in den letzten Zügen lag, schien klar: Links und rechts von mir krachten Beziehungen zusammen und kletterten die Scheidungsraten in die Höhe, Esther Perels „Mating in Captivity“ (übersetzt: „Paarung in Gefangenschaft“, das in Deutschland unter dem fürchterlichen Titel „Wild Life“ erschienen ist) war die Bibel für mich und andere, die das Beziehungsmodell ihrer Eltern infrage stellten.
Darin schreibt die Psychologin Perel, dass wir alle zwei fundamentale Bedürfnisse haben, die einander leider völlig widersprechen: einerseits Verlässlichkeit und Sicherheit, andererseits Neues und Überraschungen. Es ist normal, beides zu wollen, aber sehr schwer, es zu verwirklichen, denn wir müssen dafür den gleichen Menschen spannend und erregend finden, der uns Sicherheit und Vertrautheit bieten soll. Weil das kaum zu schaffen ist, gehen so viele Menschen fremd.
Verletzlichkeit abschaffen geht nicht
Die Diagnose stimmt. Aber die Konsequenz, die ich daraus gezogen habe – dass es hoffnungslos ist, sein Leben oder auch nur ein paar Jahre mit nur einem Partner verbringen zu wollen, auch sexuell – war falsch. Ehrlich gesagt war es nur die Bestätigung einer Schlussfolgerung, die in dem Moment fertig war, in dem ich herausfand, dass meine erste große Liebe fremdgegangen war. Ein Riesendrama und ein bis dahin ungekannter, wilder Schmerz, der in mir den Entschluss reifen ließ, das ich diese Art Verletzlichkeit abschaffen musste.
Vielleicht wollte ich, als ich nach der freien Liebe suchte, einfach eine Fähigkeit haben, von der ich dachte, dass Männer sie hätten, dieses unemotionale Spaßhaben. Ich dachte, so sähe Unabhängigkeit aus und nickte heftig bei Sprüchen wie „Wahre Liebe lässt frei”. Es war aber gar kein echter Freiheitsdrang, sondern der Versuch, ein unzerstörbares Beziehungsmodell zu finden. Das aber gibt es erstens nicht. Und zweites wird man innerlich ganz schön taub, wenn man versucht, nicht mehr verletzlich zu sein.
Es ist heutzutage viel schwerer, gute Argumente für Monogamie zu finden als für offene Beziehungen oder Polyamorie. Im Internet findet man wahre Massen an Informationen und Meinungen dazu, und nahezu immer geht es darum, warum Monogamie falsch, langweilig, überholt, patriarchalisch und vor allem unnatürlich ist. Besonders gerne taucht die Natur als Begründung dafür auf, warum Männer angeblich nicht anders können, als untreu und promisk zu sein, Frauen dagegen wählerisch und treu.
Das Natur-Argument kann mir den Buckel runterrutschen
Ein auch unter Wissenschaftlern verbreitete Sichtweise lautet: Aus Sicht der Natur ist Sperma billig herzustellen, deswegen können Männer ohne große biologische Kosten mit vielen Partnerinnen schlafen. Sie sind dann sogar besonders erfolgreich, weil sie ihre Gene weit verbreiten. Weibliche Eizellen dagegen sind nur begrenzt vorhanden und damit biologisch teuer. Frauen tun also gut daran, ihren Partner genau auszuwählen, nämlich einen, der stark ist und sie versorgen kann und bitte auch da bleibt, um den Nachwuchs groß zu kriegen. Evolution und so, ist klar.
Heute denke ich: Das Natur-Argument kann mir den Buckel runterrutschen. Die meisten Aussagen über unser angeblich biologisch programmiertes modernes Paarungsverhalten lassen sich ziemlich leicht auseinandernehmen. Die Biologin Zuleyma Tang-Martinez zeigt das in diesem Artikel sehr gut: Erstens funktioniert die Kostenabwägung nicht. Ja, ein Mann produziert täglich Millionen Samenzellen, die braucht er aber auch, um eine einzige Eizelle befruchten zu können. Von „billig“ kann also keine Rede sein.
Zweitens sind auch Männer wählerisch bei der Auswahl ihrer Partnerinnen – wenn möglichst viel Nachwuchs das Ziel ihres Paarungsverhaltens ist, was soll der Geiz? Warum sind sie nicht einfach biologisch darauf programmiert, mit allen Frauen, die dem Alter nach fruchtbar sein könnten, ins Bett zu gehen? Drittens, in großen Teilen der Tierwelt verhalten sich die Weibchen alles andere als züchtig und treu, sondern paaren sich mit verschiedenen Partnern und bekommen Nachwuchs von unterschiedlichen Vätern. Viertens, schon mal von Spermienkonkurrenz gehört? Das ist die Konkurrenz von Spermien eines oder mehrerer Männchen um die Chance zur Befruchtung einer Eizelle. Mit anderen Worten: Der Stärkste gewinnt. Ein wunderbares biologisches Argument dafür, dass Frauen promisk sein sollten, oder?
Ich könnte noch mehr biologische Argumente nennen, aber ich bin der Meinung, dass es ziemlich sinnlos ist, sein Beziehungsmodell daran zu orientieren. Wir haben Sex und Fortpflanzung dank Verhütungsmitteln längst fast vollständig voneinander getrennt, allein das wäre ein Grund, weniger überzeugt über angeblich natürliches Verhalten zu schwafeln. Vor allem aber wird immer dann von der biologischen Programmierung des Menschen geredet, wenn man Dinge verteidigen möchte, die man einfach gerne machen will. Ich sage: Wirf dein Smartphone weg und jage dein Mittagessen mit grobem Werkzeug im Wald, dann können wir gerne weiter darüber reden, warum Rumvögeln für dich eine biologische Notwendigkeit ist.
Beziehungen sind aufwändig wie Zweitjobs
Was die besseren Argumente gegen Monogamie und für Polyamorie und offene Beziehungen betrifft, von Esther Perel und vielen, vielen anderen klugen Menschen: Ja, da sind sehr gute Gedanken dabei. Und ich wäre die letzte, die sagen würde, dass Monogamie einfach ist und das Modell, dem sich alle unterwerfen müssen. Im Gegenteil: Ich bewundere jeden Menschen, der es schafft, sexuell und emotional nicht-exklusive Beziehungen zu leben, ohne sich selbst und andere damit unglücklich zu machen. Das geht, ich habe es selbst gesehen.
Aber: Wenn Monogamie hart ist, dann sind offene Modelle noch härter. Es ist schon schwierig genug, sich auf einen Menschen richtig einzulassen und durch den ganzen Quark an Emotionen und Problemen zu waten, den so ein Miteinander mit sich bringt. Vom Energie- und Zeitaufwand her ist das manchmal wie ein zweiter Job, und Kinder sind da noch nicht mal mitgedacht. Ich habe in meinem Leben noch andere Pläne, als mich ständig mit Beziehungen und Gefühlen auseinanderzusetzen. Die fast immer auch noch exponentiell zunehmen, sobald man Liebhaber oder Zweitpartner einzubauen versucht. Es gibt Menschen, die das mögen, die es lernen, mit Eifersucht klarzukommen und die sogar wunderbare neue Dimensionen an Großzügigkeit und Liebe entdecken. Ich fand vor allem Stress und Drama. Das bisschen Aufregung und Spaß ist das echt nicht wert.
Was es allerdings sehr wert ist: Die Zeit und Mühe, die ich darein gesteckt habe, mich auf den Mann zu konzentrieren, mit dem ich zusammenlebe, und ihn lieben zu lernen. Ich sage das absichtlich so, denn wer behauptet, Liebe sei etwas, das von selbst passiert, ist ein Idiot. Oder verwechselt sie mit der rasanten Verknalltheit, die am Anfang stattfindet – und die super ist, keine Frage. Das ist aber kein Deal, der auf Dauer angelegt ist, sondern mehr der kostenlose Probemonat, der dich dazu bringen soll, das Produkt so gut zu finden, dass du zu zahlen bereit bist.
Anschließend zahlst du ganz schön: Mit deiner Zeit, deiner Aufmerksamkeit und deiner Geduld beim gefühlt 1.047. Streit oder mühseligen Diskussion. Mit kleinen und großen schmerzhaften Rissen, die sich in den unvermeidlichen Krisenmomenten durchs Herz ziehen. Durch irgendeine Beziehungsalchemie entsteht daraus manchmal mit der Zeit ein tiefes, ruhiges Zusammenglück, das gegen nervöse Verknalltheit so schwer wiegt wie Gold gegen Glitzerfolie. Ehrlich gesagt: Ich weiß nicht, wie genau das funktioniert. Aber eine Mischung aus Gesprächsbereitschaft, Glück und purer Sturheit scheint zu helfen.
Pubertieren bis Mitte 70 – geht es auch würdevoller?
Was nicht heißt, dass schöne und interessante Menschen mich kalt lassen würden. Aber auf das scharfe Einatmen, das so jemand bewirken kann, folgt ein ruhiges Ausatmen: Ich freue mich über die Anziehung, übrigens ganz ohne schlechtes Gewissen, aber ich muss diese Person nicht haben. Zumal man manche Erlebnisse nicht endlos wiederholen muss, oder? Wie oft muss man sich im Leben verlieben, bis man diese Erfahrung ausgeschöpft hat, wie oft den Ego-Kick erleben, den das Begehren oder Erobern anderer bringt? Ich weiß, das entspricht nicht dem Geist dieser Zeit, in dem man immer etwas zu verpassen scheint, in dem Sexyness ein Statussymbol ist und Männer dank Viagra in Sachen Persönlichkeitsentwicklung pubertieren können, bis sie Mitte 70 sind.
Aber come on, geht es auch ein bisschen würdevoller? Und damit meine ich nicht, dass man trocken vergrauen muss, sobald einmal Pusten für die Kerzen auf dem Geburtstagskuchen nicht mehr reicht. Ich bin ein großer Fan der Serie „Grace and Frankie“, weil ich darin zum ersten Mal in einer Mainstream-Produktion alte Menschen sehe, die schön sind, aber auch alt und gebrechlich, die sich verlieben und übers Sterben nachdenken und bei alldem Würde bewahren.
Die berühmte israelische Soziologin Eva Illouz, die wie keine andere im letzten Jahrzehnt das Dilemma moderner Partnerschaften auseinandergepflückt hat, sagt: „Die moderne Beziehung ist überfrachtet mit Erwartungen, die kaum zu erfüllen sind. Gleichzeitig bildet das Paar, das auf Kontinuität angelegt ist, einen Gegenentwurf zum kapitalistischen Imperativ der Flexibilität. Ist es gerade deshalb wegweisend?“
Ich finde: Gute Frage. Hinter Aussagen wie „Liebe lässt frei“ steckt ja oft eine verkappte Konsumhaltung: Man hat einfach keinen Bock, auf irgendetwas zu verzichten, das Spaß macht und das zu haben ist. Und es ist eine Krankheit unserer Zeit, dass ungezügelter Genuss ein Ersatz für Lebenssinn sein soll.
Ich glaube, dass Monogamie ein totales Comeback erleben könnte, wenn sie einen neuen Namen bekäme, der weniger konservativ und unfroh klingt. Ich schlage „Beziehungsminimalismus“ vor. Ich gebe zu, es klingt nicht sexy, aber Minimalismus liegt total im Trend, und die Ansage, dass man sich in Sachen Beziehung einfach mal auf ein Qualitätsprodukt beschränken kann, ist zeitlos. Ich wette, ich könnte darüber einen Blog schreiben, minimalistlover.com oder so, der wäre sofort ein Hit.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.