Wie sich mein Blick auf die Welt änderte, als ich in eine inklusive WG einzog

© Peter Gericke

Leben und Lieben

Wie sich mein Blick auf die Welt änderte, als ich in eine inklusive WG einzog

Es ist etwas anderes, ob man sich gegenseitig braucht, um die Miete zahlen zu können – oder um das Leben zu bewältigen.

Profilbild von Serie von Esther Göbel

Jan-Hendrik steht nackt unter der Dusche und seift sich ein, ich sitze auf dem Toilettendeckel, schaue aus dem Fenster und warte darauf, dass er fertig wird. Ich bin nervös. Nicht nur, weil Jan-Hendrik nackt ist. Sondern vor allem, weil er behindert ist.

Zwei Tage zuvor sitze ich mit Michaela Spitz in ihrem Auto, sie biegt langsam nach links in die Einfahrt ein, die zu dem Haus führt, in dem Jan-Hendrik, 18, wohnt. Zusammen mit Michaelas Tochter Nina, 30, und zwei anderen Mitbewohnerinnen, Chris und Angie, Mitte und Anfang zwanzig. „Am Anfang haben die Leute mich angeguckt, als wär ich ein Eichhörnchen“, erinnert sich Michaela. Sie stoppt den Motor und zieht die Handbremse. Ob die Nachbarn überhaupt einverstanden seien mit ihrer Idee einer inklusiven WG, hätten Bekannte damals zu ihr gesagt. „Aber wieso hätte ich die denn fragen sollen?“, fragt Michaela jetzt mich und wartet gar nicht erst auf eine Antwort, „Nina is’ doch kein Alien!“

Michaela steigt aus, ich folge ihr, schaue einmal an dem braun gekachelten Reihenhaus hoch, in dem ich die nächsten zwei Tage wohnen werde. Aus einem Fenster im ersten Stock lacht mir ein runder Aufkleber entgegen, blauer Smiley auf weißem Hintergrund. „WG-mal-anders“ steht da in blauen Buchstaben.

Es war ein weiter Weg für mich bis hierher. Einmal quer durch Deutschland, von Berlin bis nach Goch, 30.000 Einwohner, Kreis Kleve. Viele Gärtnereien, plattes Land, Holland um die Ecke, und ein Februar-Himmel so weit und blau, als kenne er keine Grenzen. Ich hatte mich auf den Weg gemacht, weil mir Wochen vorher etwas aufgefallen war.

Wieso sehe ich eigentlich so wenig behinderte Menschen in der Öffentlichkeit?

Ich hatte in Hans Roslings Buch Factfulness über den „Instinkt der Kluft“ gelesen und daraufhin meine Serie zum Thema Zuversicht gestartet (hier kannst du meinen kostenlosen Newsletter abonnieren, um keine Folge zu verpassen). Mit dem Instinkt der Kluft meint Rosling das Gedankenmuster, in einer binären Ordnung zu denken: schwarz – weiß. Frau – Mann. Gut – böse. Homosexuell – heterosexuell. Erste Welt – Dritte Welt. Diese Kluften ziehen sich durch unsere Köpfe, unsere Leben, den Alltag, sagt Rosling: Heute – morgen. Jung – alt. Normal – anormal. Oder auch: Behinderte Menschen – nicht-behinderte Menschen.


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Ich war stutzig geworden: Wieso sah ich eigentlich so selten einen behinderten Menschen in der Öffentlichkeit, überlegte ich – und das in einer Großstadt wie Berlin? Nicht auf dem Weg zur Arbeit, nicht in der U-Bahn, nicht im Supermarkt, nicht im Kino, nicht im Museum, nicht auf einem Konzert. Als ob es Menschen mit Behinderung gar nicht gäbe. Als ob man sie verstecken würde, dachte ich – und erschrak sofort bei dem Gedanken.

Laut Statistischem Bundesamt gibt es in Deutschland 7,8 Millionen Schwerbehinderte, das ist rund ein Zehntel der Bevölkerung. Wie leben sie? Ich wusste es nicht. Dabei sind 7,8 Millionen Menschen keine Ausnahme, eben keine Seltenheit. Und doch: Ich kenne keinen einzigen behinderten Menschen, musste ich feststellen. Und schämte mich plötzlich dafür. Jetzt, wo die Sache mir überhaupt erst aufgefallen war. Also begann ich zu googlen, ins Blaue hinein. Ich wusste noch nicht einmal, wonach ich suchte.

Irgendwann fand ich Michaela auf Facebook. Und ihre Tochter Nina. In Ninas WG scheint die künstliche Grenze zwischen behinderten und nicht-behinderten Menschen ausradiert, die Kluft längst übersprungen zu sein. Wie Jan-Hendrik, Nina, Chris und Angie zusammenlebten, konnte ich mir trotzdem nicht vorstellen. Jan-Hendrik als Autist, Nina, die das Down-Syndrom hat, Chris und Angie, beide nicht-behindert. Ich wollte wissen, wie dieses Zusammenleben aussah. Also buchte ich ein Zugticket nach Goch.

In der WG-mal-anders gibt es viel Verantwortung und wenig Freiheit – auf den ersten Blick

Deswegen sitze ich jetzt mit Michaela in der WG-Küche, rutsche nervös auf der Eckbank hin und her. Die anderen sind zwar noch nicht da, aber ich hatte mich schon während der Zugfahrt gefragt: Wie begrüßt man einen Autisten? Soll ich Nina die Hand geben? Versteht Jan-Hendrik überhaupt, was ich zu ihm sage? Was, wenn ich mich falsch verhalte bei der Begrüßung?

Was mir als erstes auffällt, als ich mich in der WG umsehe, die sich über das ganze Haus erstreckt: Überall hängen Pläne. Ninas Wochenplan, Jan-Hendriks Wochenplan, Ninas Diätplan, die Betreuer-Dienstpläne mit kleinen Fotos von allen. Rote, gelbe, blaue Farbmarkierungen, alles straffer durchorganisiert und getaktet als bei jeder Familie. Im Wohnzimmer geht es weiter: Das Protokollbuch für jeden Tag, die Medikamentenkladde, ein DIN-A4-Blatt, das Auskunft darüber gibt, was Jan-Hendrik alles allein kann oder nicht. Wäsche falten: mit Anleitung. Wäsche waschen: mit Anleitung. Spülmaschine einräumen: allein. Brot schmieren: allein. Die meisten Punkte auf der Liste gehen nur mit Anleitung. Klingt nach viel Verantwortung für Chris und Angie, denke ich. Und nach wenig Freiheit für sie.

Ich lebe auch in einer WG, meistens geht bei uns jeder seinen eigenen Weg. Es gibt Tage, da sehe ich meine Mitbewohner gar nicht. Ob ich hier leben könnte?

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Die erste, die an diesem Abend nach Hause kommt ist Chris, Mitte 20, hochgewachsen, Brille auf der spitzen Nase. Sie steht kurz vor ihrem Bachelor-Abschluss im Fach Angewandte Naturwissenschaften und hat die natürliche Autorität und Freundlichkeit einer sanften, aber bestimmten Krankenschwester. Dann Willie, Michaelas Mann, klein, sympathisch, rheinische Frohnatur wie seine Frau, ich mag ihn auf Anhieb. Wenig später trudelt die erste Betreuerin mit Nina ein: rundlich, klein, rötlich-braun schimmernde Bob-Frisur. Als ich Nina die Hand schüttle, drückt sie sie nur ganz zart zurück, schaut verlegen an mir vorbei, wirft den Kopf in den Nacken und lacht.

Ein Schlüssel dreht in der Haustüre, Jan-Hendrik kommt mit seiner Betreuerin. Er ist schmal, trägt kurzes Haar, Brille, Jeans, dazu Hoodie. Sagt kein “Hallo”, und auch sonst erst einmal nichts. Verschüchtert blickt Jan-Hendrik mich kurz an, dann verunsichert zu den anderen hinüber. Ich bin auch verunsichert, drücke nervös meinen Rücken durch. „Hallo, ich bin Esther“, sage ich und spüre, wie verkrampft es klingt. Jan-Hendrik sagt nichts und setzt sich auf seinen Platz am Küchentisch. Möglichst weit von mir weg. Er rollt mit den Augen, setzt sich seine Kopfhörer auf. Ein paar Minuten später kommt auch Angie nach Hause, langes, blondes Haar, Kapuzenpulli, schwarze Brille. Angie mag Rock-Musik, interessiert sich für Autos und folgt ansonsten der Strategie: weniger Worte sind mehr.

Hier hat Angie beides: ihr eigenes Reich und Familienanschluss

Eine Stunde später steht Chris am Herd und kocht das Abendessen, Michaela läuft mit der Bohrmaschine durch die Küche, Nina hat sich in ihr Zimmer verdrückt und übt Gardetanz, Jan-Hendrik deckt den Tisch, WG-Papa Willi repariert das Waschbecken im Gästezimmer, und ich versuche, endlich weniger verkrampft zu sein. Vor allem bezogen auf Jan-Hendrik, der nur auf Aufforderung einzelne Wörter spricht, die ich aber nicht verstehen kann, und jeden Blickkontakt mit mir vermeidet.

Aus dem ersten Stock dringt Karnevalsmusik nach unten, Nina wäre gern bei der Prinzengarde der KCC Goch dabei, genauer gesagt bei den Funkemariechen, jeder dort kennt sie, „und Nina is’ ja total karnevalsverstrahlt“, sagt Michaela. In der Stammkneipe der Prinzengarde, im „Porte“, feiert die Truppe heute Abend, eigentlich wäre Nina gern dorthin gegangen, „sie is’ ja ’ne Party-Queen“, sagt Chris. Da, wo etwas los ist, ist Nina dabei, und zwar mittendrin. Aber heute findet die Party ohne sie statt. Chris ist im Dienst und hätte mitgehen müssen ins „Porte“, was ihr an diesem Freitagabend zu viel ist.

Angie und Chris haben beide neben einem Mietvertrag noch einen Arbeitsvertrag: 42 Stunden im Monat auf 450 Euro-Basis, etwa zehn Stunden pro Woche leisten sie Betreuungsdienste in der WG. Sie helfen Jan-Hendrik beim Zähneputzen oder duschen, gehen einkaufen, erinnern Nina daran, dass sie ihr Zumba-Training nicht vergessen darf. „Wir sind dafür da, dass die beiden hier möglichst selbstständig leben können“, sagt Chris. Beide, sowohl Nina und Jan-Hendrik, brauchen eine 24-Stunden-Betreuung, obwohl man das vor allem Nina nicht anmerkt. Aber ohne würde sie zum Beispiel vergessen, regelmäßig zu essen, zum Sport zu gehen, den Takt des Alltags einzuhalten.

Also doch eher Zweck-WG, frage ich. „Nee“, sagt Angie. „ich finde das schön so.“ Wenn sie nach Hause komme, sei fast immer jemand da, sagt sie. Dann setzt Angie sich erstmal in die Küche, bisschen quatschen. Auch wenn sie keinen Dienst hat. „Das kommt hier schon nah an Familie ran“, sagt sie. Vorher wohnte Angie in einer anderen WG, „Horror“, wie sie sagt. Ihre Mitbewohner veruntreuten ihre Miete. Angie zog aus, so schnell sie konnte, danach wollte sie eigentlich allein in eine Wohnung ziehen, „aber hier hat mir das Konzept gut gefallen“. In der WG-mal-anders hat Angie beides: ihr eigenes Reich unterm Dach – und Familienanschluss durch die WG.

Ob es hier schwieriger sei als in einer anderen Wohngemeinschaft, frage ich Chris. „Das kann ich echt nicht beurteilen“, sagt sie, „ich hab noch nie in einer anderen WG gewohnt.“ Seit vier Jahren lebt sie mit Nina unter einem Dach, mit einem halben Jahr Pause: Einige Monate, nachdem Chris in der WG-mal-anders eingezogen war, zog sie aus und mit ihrem heutigen Exfreund zusammen. Aber nach sechs Monaten war Schluss – und Chris heilfroh, dass sie in die WG-mal-anders zurückkehren konnte. Wo es besser passt und sie sich wohlfühlt.

Trotzdem will ich wissen: Würden beide auch hier wohnen, wenn dabei nicht auch noch der Nebenjob drin wäre? „Klar“, sagt Angie trocken und guckt mich an, als wäre die Frage so unsinnig wie unnötig, „wieso denn nicht?“

In Deutschland ist man gut darin, Behinderte „wegzuverwalten“

„Ja“, sagt auch Chris, obwohl das Zusammenleben natürlich manchmal anstrengend sei. Vor allem, weil so viele fremde Menschen – die Betreuer, die sich in ihren Diensten abwechseln – ständig durch ihr Zuhause liefen. „Aber ich hab hier gelernt, mich besser abzugrenzen“, sagt Chris, „und die Dinge einfach mal sein zu lassen, auch wenn sie schräg sind.“ Wenn Jan-Hendrik etwa beim Essen seine Kopfhörer aufsetzt und Weihnachtslieder hört, weil ihm sonst alles zu viel wird, oder dass er es gerne mag, wenn jemand im Badezimmer sitzt und auf ihn wartet, während er duscht oder die Zähne putzt.

Es war Mutter Michaela, die die Idee mit der WG-mal-anders hatte. „Nina wollte irgendwann von zu Hause ausziehen, unbedingt,“, sagt sie. Bloß: wohin? Willi und Michaela wollten sie nicht in eine Wohneinrichtung stecken, von der man eine halbe Stunde von der Peripherie in die Innenstadt fahren müsste, rein ins Leben. „In Deutschland ist man schon sehr gut mit Behinderten“, sagt Willi. „Aber in Deutschland ist man auch sehr gut im Verwalten. Wenn man als behinderter Mensch eine bestimmte Diagnose hat, geht man erst in die Sonderschule, dann kommt man von dort in die Werkstatt, dann kommt man in eine Wohneinrichtung; das ist alles so eng, dass man da gar nicht mehr rauskommt. Und wenn man selbst nicht die Kraft hat, seine Wünsche zu äußern – und das hat der behinderte Mensch meistens nicht gelernt – dann wird man wegverwaltet.“

Für Willi und Michaela war klar: Nina sollte nicht wegverwaltet werden. Sie hatten Nina nie versteckt, sondern ihr „Bienchen“ immer zu ihrem eigenen Willen ermutigt. Und dann fand Michaela an einem Samstagabend vor sieben Jahren das Haus, in dem Chris, Nina, Jan-Hendrik und Angie heute leben. Als sie auf der Coach lag und im Internet surfte.

Michaela kontaktierte die Immobilienbeauftragte; man kannte sich aus dem örtlichen Karnevalsverein. Beim ersten Besichtigungstermin läuft Michaelas Kopfkino schon auf Hochtouren, als sie durch das damals noch verwohnte Haus läuft: Die Küche, der Garten, oben das Dachgeschoss, wo man noch jemanden unterbringen könnte. Sie ist angetan, erzählt Willi von ihrer Vision. Der kauft das Haus, privat – und die beiden setzen ihre Idee um. 2014 eröffnet die WG-mal-anders. Aller Kritik zum Trotz. Obwohl eine privat geführte WG für Menschen mit Behinderung unüblich ist. „So 50 würde ich schätzen, gibt es vielleicht in Deutschland“, sagt Michaela. Genaue Zahlen existieren nicht.

Früher nannte man Menschen wie Nina „Mongos“ – aber wer definiert eigentlich, was normal ist?

„Ich kriege viel Feedback von Privatpersonen, dass mehr und mehr inklusive WGs entstehen“, sagt Tobias Polsfuß, 26, der die Online-Plattform Wohn:Sinn an den Start gebracht hat, auf der er Infos und Erfahrungsberichte über inklusive Wohngemeinschaften sammelt oder eine Wohn-Tauschbörse anbietet. Vor rund drei Jahren ging Tobias mit seiner Seite online, mittlerweile ist aus der Idee ein Verein erwachsen, und für Tobias aus seinem ehemaligen Hobby ein Nebenjob.

Tobias wohnt selbst in einer „WG-mal-anders“ in München – mit neun Mitbewohnern und Mitbewohnerinnen. Fünf von ihnen haben eine geistige Behinderung, vier nicht. „Ich wollte mehr Trubel und Gemeinschaftssinn in meinem Leben, das habe ich hier gefunden“, sagt Tobias über seine WG, die auch einmal im Jahr gemeinsam in Urlaub fährt. Italien, Kroatien, im vergangenen Jahr waren sie am Chiemsee. München ist ein guter Ort für ein solches Projekt – erst im vergangenen Jahr hat das Land Bayern ein Sonderprogramm zur Förderung von inklusivem Wohnraum beschlossen: 400 Millionen Euro sollen in den nächsten 20 Jahren fließen.

Zurück in Goch erinnert sich Michaela daran, wie man früher auf Menschen wie ihre Tochter schaute: „Da haben die Leute ja noch ‚Mongos‘ gesagt und die Straßenseite gewechselt“, sagt sie. „Das ist heute besser.“ Trotzdem war der Weg bis zur WG-Eröffnung schwer. Wie sollten Michaela und Willi ihre Idee finanzieren? Wie organisieren? Und wer sollte eigentlich mit Nina einziehen? „Das größte Problem waren gar nicht die Nicht-Behinderten“, sagt Michaela, „sondern die Eltern von den anderen jungen Erwachsenen mit Behinderung!“ Wieso, das kann Michaela bis heute nicht verstehen.

Als ich abends im Gästezimmer im ersten Stock liege, denke ich über das Wort „normal“ nach. Was heißt das, normal? Wer definiert, was normal ist? Wer demnach dazugehört – und wer nicht? Allein die Mehrheit? Sind 7,8 Menschen in Deutschland nicht normal, nur weil sie das Attribut „schwerbehindert“ tragen? Ist Nina weniger „normal“ als ich, nur weil sie beim Sprechen ein bisschen undeutlich nuschelt? Nina arbeitet in einer Werkstatt, mag Schlager, ist ein Michael-Wendler-Fan, mag Karneval, hat Freunde, auch einen Exfreund, mag Sex, sagt, wenn sie etwas stört, ist manchmal genervt, hat an anderen Tagen schlechte Laune, wenn sie nicht gerade ihren Kopf lachend in den Nacken wirft – alles ziemlich „normal“. Wo also verläuft die Grenze? Und wer zieht sie?

Langsam weicht meine Scheu

Am nächsten Morgen beim Frühstück bin ich nicht mehr so nervös wie am Abend zuvor. Nina sitzt mir in Leggings und ihrem Wendler-Shirt gegenüber, sagt wenig, interessiert sich nicht sonderlich für den Gast aus Berlin und verdreht die Augen, weil Jan-Hendrik so lange braucht, um sein Käsebrot zu essen. Dass er dabei schon wieder Weihnachtslieder über Kopfhörer hört, kommt mir nicht mehr seltsam vor, dass er auf einem Stuhl hin- und her rutscht, auch nicht. Nur, dass er mit seiner Nase manchmal ganz nah an mich heranrutscht, um an mir zu riechen, oder dass er beim Frühstück seine Nase auch in jede Wurst- und Käsepackung steckt, daran muss ich mich noch gewöhnen.

Aber ich merke, wie auch seine Scheu sich langsam legt: In manchen Momenten beobachtet er mich, sucht keine körperliche Distanz von einigen Metern mehr. Wenn ich ihn etwas frage, gibt er manchmal Ein-Wort-Antworten zurück. Und er lächelt mich jetzt oft an. Es ist eine non-verbale Kommunikation, eine, die über Anwesenheit funktioniert, nicht über Worte. Ein vorsichtiges Herantasten, das aber schon wirkt: Ich fühle mich viel entspannter als gestern, kein Unwohlsein mehr. Einmal umarmt Jan-Hendrik mich und lächelt dabei, einfach so, völlig unangekündigt. Ich bin kurz perplex, aber dann freue ich mich und drücke ihn zurück.

Noch beim Frühstück frage ich Nina, wie sie es eigentlich in der WG findet.
„Och jo.“
„Och jo? Eher gut oder eher schlecht?“
„Nee, schon gut!“
„Würdest du denn nochmal zu Willi und Michaela ziehen?“
„Nö, nich!“, sagt Nina, wirft wieder ihr rotes Haar in den Nacken und grinst.

Und dann, irgendwann im Verlaufe dieses Wochenendes, an dem für mich die Grenze zwischen behindert und nicht-behindert verschwimmt und sich eine Kluft schließt, ereignet sich die Szene im Badezimmer. Jan-Hendrik soll duschen, „und wer soll denn mitgehen?“, fragt Michaela ihn. Weil Jan-Hendrik eben lieber duscht, wenn jemand mit im Bad sitzt und auf ihn wartet. „Esther“, sagt er. Ich zucke innerlich zusammen. Wie jetzt? Ich? Nein, das kann ich nicht. Hilfesuchend schaue ich Michaela an, „das ist schon okay“, sagt sie und nickt ermutigend, „wenn was schiefgeht, rufst du einfach.“ Mir ist unwohl mit der Situation, aber ich will mich nicht drücken. Also trotten Jan-Hendrik und ich in den ersten Stock ins Bad.

Während ich auf dem Toilettensessel sitze, verstehe ich den Reiz der WG-mal-anders

Ich bin überfordert, Jan-Hendrik ist schließlich ein mir fremder junger Mann, ich weiß nicht, wie ich mich verhalten und wo ich hinschauen soll, während er sich auszieht. Erst den Pulli, dann das Shirt. Danach die Jeans, die Socken, zuletzt die Unterhose. Ich falte alles bis auf die Unterhose zusammen, nur, um mich selbst von meiner Nervosität abzulenken, und schaue dabei angestrengt an Jan-Hendrik vorbei. Der scheint sich komplett wohzufühlen und steht schon in der Dusche. Ich atme ein paarmal tief ein und aus. Vor lauter Hilflosigkeit setze ich mich auf den Toilettendeckel und blicke aus dem Fenster, während zwei Meter neben mir das Wasser rauscht. Für Jan-Hendrik scheint die Situation nichts Unangenehmes zu haben. Also versuche ich, mich zu entspannen. Bis hierhin alles okay, denke ich.

Und dann muss ich an meine WG in Berlin denken. In der jeder und jede vollkommen autark sein Leben lebt; keiner braucht den anderen, nie kommt man sich zu nah, immer ist jeder individuelle Raum abgesteckt. Und in dem Moment verstehe ich den Reiz der WG-mal-anders: die Nähe, das Gefühl, von anderen Menschen wirklich gebraucht zu werden.

Beides muss man aushalten können; dass Chris immer mit offener Zimmertüre schläft, falls mal etwas sein sollte, auch wenn sie nicht im Dienst ist; dass Jan-Hendrik sich nur in Angies Anwesenheit die Zähne putzen will; dass Mutter Michaela mindestens jeden zweiten Tag vorbeischaut. Aber allein ist in dieser WG niemand. Und das, was andere als Behinderung wahrnehmen, ist hier für alle längst normal.

Am anderen Morgen, als mein Zug zurück nach Berlin fährt, bringen Chris und Jan-Hendrik mich zum Bahnhof. „Esther wieder?“, fragt Jan-Hendrik und meint damit, wann ich wiederkomme. Es tut mir leid, dass ich ihm nicht begreiflich machen kann, wieso dies ein einmaliger Besuch war und warum ich nicht am Abend wieder mit am WG-Tisch sitzen werde. Zum Abschied umarme ich ihn. Ein bisschen fester als noch am Tag zuvor.


Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel; Illustration: Peter Gericke.