Picasso soll gesagt haben: Gute Künstler kopieren, große Künstler stehlen. Auch in der Filmmusik sind die Grenzen zwischen guten und großen Künstlern fließend, aber wirklich originelle Filmmusik ist selten. Die beliebtesten Soundtracks haben so offensichtliche Vorbilder in der symphonischen Musik, dass klassische Musiker die Ohren anlegen. Besonders im Science-Fiction-Genre.
So hat zum Beispiel Überbösewicht Darth Vader aus „Star Wars“ sein eigenes Thema: den von John Williams komponierten Imperial March. Die Idee, Figuren oder Situationen bestimmte musikalische Gebilde zuzuordnen, gab es schon lange vor Williams. Richard Wagner gilt als Meister dieser „Leitmotiv“-Technik, die er in seinen Opern auf die Spitze trieb. So gehört zu Siegfried aus dem „Ring des Nibelungen“ ein aus 19 Noten bestehendes „Heldenmotiv“, das ihr euch hier anhören könnt. Und im „Krieg der Sterne“ hören wir Variationen des Imperial March eben meist dann, wenn der schwer atmende Darth Vader auftaucht:
John Williams: Imperial March aus „Star Wars V: Das Imperium schlägt zurück“ (1980)
Leitmotive zu benutzen ist das eine, sich ganze musikalische Ideen auszuleihen, das andere. Der Imperial March klingt nämlich verdammt nach dem Mars aus Gustav Holsts Orchestersuite „Die Planeten“. Die läppische 64 Jahre vor dem Imperial March uraufgeführt wurde:
Gustav Holst: Mars aus „Die Planeten“ (1914-1916)
https://www.youtube.com/watch?t=266&v=L0bcRCCg01I
Holst interessierte sich mehr für Mythologie als Astronomie, so klingt Mars denn auch eher nach dem Kriegsgott als dem staubigen Planeten. (Wie ein Planet klingen könnte, dazu gleich mehr.) Aber was solls – die „Planeten“ hatten enormen Einfluss auf die Entwicklung der Filmmusik. Hört euch auch mal die anderen Sätze an – vieles klingt sehr filmisch.
Im Weltraum herrschen klare Fronten: Wer nicht Team „Star Wars“ ist, ist Team „Star Trek“. In der Welt des Raumschiffs Enterprise geht es allerdings musikalisch nicht viel origineller zu. Hört euch mal den Anfang der Titelmusik zu „Raumschiff Enterprise: Das nächste Jahrhundert“ an:
Alexander Courage & Jerry Goldsmith: Star Trek: The Next Generation Main Title (1994)
https://www.youtube.com/watch?v=p5kcBxL7-qI
Und jetzt die ersten paar Takte von Gustav Mahlers erster Sinfonie:
Gustav Mahler: 1. Sinfonie, 1. Satz (1889)
https://www.youtube.com/watch?v=Svrfpveyd70
Das erste Intervall – also der Abstand zwischen zwei Tönen – in beiden Stücken ist gleich: eine abfallende Quarte. So sieht das in der Partitur bei Mahler aus.
Jetzt könnt ihr natürlich achselzuckend sagen: so what, zwei Töne, was ist das schon?
Aber guckt mal genauer in die Partitur. Mahler schrieb: „Wie ein Naturlaut.“ Er bezieht sich damit auf eine Idee aus dem antiken Griechenland: Pythagoras (oder seine Anhänger, man weiß es nicht genau) ging davon aus, dass die Himmelskörper umgeben sind von unsichtbaren Kugeln („Sphären“), die auf dem Weg durchs All Geräusche von sich geben, einen für menschliche Ohren unhörbaren harmonischen Zusammenklang (der auf Griechisch bezeichnenderweise „symphōnía“ heißt). Das All hat also einen Klang.
Dass der Kosmos von „Star Trek“ und Mahlers sinfonisches Universum mit dem gleichen Intervall beginnen, ist kein Zufall. Wenn man die ersten Töne seiner ersten Sinfonie komponiert und man mit dem Selbstbewusstsein eines Gustav Mahler gesegnet ist, dann macht man es nicht unter der Entstehung des Kosmos. Mahler wusste, als er sich an seine erste Sinfonie setzte: Die Arbeit, die ich hier anfange, wird mich am Ende umbringen. Einige der größten Komponisten überlebten die Komposition ihrer zehnten Sinfonie nämlich nicht, darunter der von Mahler verehrte Beethoven. Seine Zehnte blieb unvollendet – und Mahler sollte seine auch nicht überleben. Mehr als neun Sinfonien sind nicht zu schaffen. Schon gar nicht, wenn sie solche Ausmaße wie die von Mahler haben. (Seine achte Sinfonie, die „Sinfonie der Tausend“, die er als Liebeserklärung an seine Frau Alma schrieb, verlangt neben dem Orchester nach zwei großen gemischten Chören, einem Knabenchor, elf Gesangssolisten, sechs Harfen, einem Klavier, einer Orgel und einem separat platzierten Fernorchester aus vier Trompeten und drei Posaunen.)
Wer also in diesem Wissen seine erste Sinfonie beginnt, für den ist der Anfang nicht nur eine Abfolge irgendwelcher zwei Töne. Aus Millionen Möglichkeiten, eine Sinfonie zu beginnen, hat Mahler diese zwei Töne ausgewählt – und zwar mit voller Absicht.
Und jetzt Achtung, wir überspringen die in Deutschland schwer bewachte Grenze zwischen Hoch- und Unterhaltungskultur: Womit beginnt man eine im Weltall angesiedelte Erzählung, die von den Abenteuern einer Raumschiff-Crew berichtet, die dorthin fliegt, „wo nie ein Mensch zuvor gewesen ist“? Womit würde man eine Geschichte kosmischen Ausmaßes beginnen, die an ihrem Ende nichts weniger als die gesamte Entstehung des menschlichen Lebens aufs Spiel setzt (hier eine Zusammenfassung der letzten Doppelfolge). Womit würde man so eine Geschichte beginnen, wenn nicht mit einem solchen Intervall? Es geht um nichts weniger als alles.
Den Projektor übertönen, Gefühle auslösen: Filmmusik hat viele Aufgaben
Erstaunlicherweise werden diese allergrößten Geschichten, auch wenn sie hundert Jahre in der Zukunft spielen, mit Musik befeuert, die hundert Jahre alt ist. Die Musikwissenschaftlerin Alessa Harden schreibt in ihrer Analyse der Musik zu „Star Trek“: „Die Zukunft scheint mit einem positiven Bild verknüpft zu sein und ist musikalisch fast identisch mit der Vergangenheit.“ Filmmusik klingt tatsächlich fast immer spätromantisch, also nach der europäischen Orchestermusik am Ende des 19. Jahrhunderts.
Aber warum?
Es hat vermutlich mit einer Reihe zusammenfallender historischer Ereignisse zu tun: Während die Filmprojektoren um 1900 herum noch so laut waren, dass sie von Livemusik im Vorführraum übertönt werden mussten, begann Mitte der 1920er Jahre der Siegeszug des Tonfilms. Die Musik wurde dann immer weniger live in den Kinos gespielt, sondern von den Filmstudios produziert. Das passierte meist an der US-Westküste, wohin jüdische Komponisten aus Europa vor den Nazis geflüchtet waren. Während also in Europa die Nazis wüteten, hielten sich komponierende Flüchtlinge in den USA mit schönen Melodien für Hollywood über Wasser.
Noch vor der NS-Herrschaft gab es in Europa aber Versuche, die uralten Regeln, wie europäische Musik gebaut wird, über den Haufen zu werden. Ich habe es in Teil 2 der Klassikreihe schon erwähnt: Arnold Schönberg erfand in den 1920er Jahren die Zwölftonmusik, bei der alle zwölf Töne einer Oktave gleich wichtig sind und es nicht die eine erwartbare Harmonie gibt, die Zuhörer*innen als schön empfinden. Diese Musik klingt für die meisten Menschen völlig unverständlich, und nur sehr wenige Leute hören sie sich freiwillig an. Sie konnte also nicht die Funktion der Filmmusik erfüllen: Gefühle hervorzurufen oder zu verstärken. (Es versteht sich von selbst, dass diese intellektuelle Musik von den Nazis als „entartet“ diffamiert wurde und auch Schönberg wenigstens eine Zeit in den USA leben musste.)
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In den USA ging es erst mal hauptsächlich melodisch weiter, während man in Deutschland große Zweifel hatte, ob es nach dem Holocaust ein ästhetisches „Weiter so“ geben konnte. Von Theodor W. Adorno stammt der Satz: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“ Und auch wenn er den Satz später relativierte, blieb eine furchtbare Tatsache: Offenbar konnten alle schönen Künste die Katastrophe nicht verhindern. Das Volk der Dichter und Denker, das Volk Bachs und Beethovens, ist zu Unfassbarem fähig.
Es ist furchtbar, dass man einen Artikel über Filmmusik nicht schreiben kann, ohne die Konzentrationslager zu erwähnen. Aber so lässt sich am besten verstehen, warum Filmmusik bei klassischen Musikerinnen und Musikern einen so schlechten Ruf hat. Sie bringt nicht nur nichts Neues und kocht die alten Formeln immer wieder neu auf. Sondern sie ist unkritische, manipulative Funktionsmusik, die nur von außen so aussieht wie klassische Musik.
Filmmusik soll meist nicht bewusst auffallen und im Hintergrund die Gefühle des Publikums beeinflussen – oder sie soll die eine wiedererkennbare Melodie haben, die den ganzen Film lang so oft wiederholt wird, bis sie noch dem begriffsstutzigsten Zuschauer ins Ohr geht. Filmmusik ist ästhetisch reaktionärer Geschmacksverstärker im Dienste der Unterhaltung und keine Kunstform von eigenem Rang – so die Sicht kritischer klassischer Musiker. Und im Nachkriegs-Europa so zu tun, als hätte sich nichts verändert, ist zumindest fragwürdig.
Das Spannungsfeld zwischen absoluter Musik (also Musik, die für sich selbst stehen kann) und der Filmmusik (die eine Funktion erfüllt) verkörpert am besten der österreichische Komponist Erich Wolfgang Korngold. Auch er ging 1934 in die USA und arbeitete dort als Filmkomponist. Als Jude entschied er 1938, dass er nicht nach Europa würde zurückgehen können. Wenn man heute Musik von Korngold hört, sagt man sich unweigerlich: Das ist doch Filmmusik! Dabei ist es genau umgekehrt: Korngolds Stil war so prägend für amerikanische Filme, dass Hollywood irgendwann einfach nach Korngold klang. Hört euch den letzten Satz seines Violinkonzerts in D-Dur von 1947 an und ihr wisst sofort, was gemeint ist:
Erich Wolfgang Korngold: Violinkonzert in D-Dur, 3. Satz (1947)
https://youtu.be/lcGEGl5bdbk?t=1037
Dieses Ähnlichkeitsproblem haben aber nicht nur europäische Auswanderer. Der US-amerikanische Komponist Howard Hanson schrieb 1930 seine zweite Sinfonie („Romantic“). Und während diese Musik in Deutschland nie gespielt wird, kommen einem die Melodien und die Instrumentierung merkwürdig bekannt vor. Ein Teil des ersten Satzes wurde ohne Hansons Zustimmung im Finale und Abspann des ersten Alien-Films verwendet. Zudem diente das Werk als John Williams’ Vorlage für seine Musik zu „E.T“. Am Anfang des dritten Satzes kann man das gut erahnen:
Howard Hanson: 2. Sinfonie, 3. Satz (1930)
https://www.youtube.com/watch?v=nN4li1lVReQ
Hansons Musik wurde also rückwirkend zu Filmmusik, was sie für naserümpfende Kenner als ernstzunehmende Musik disqualifiziert.
In der modernen Filmmusik gibt es natürlich mehr als nur die immer gleiche Nachahmung der Spätromantik. Einige Komponistinnen und Komponisten versuchen, das Spektrum um Jazz, Pop, Hiphop und elektronische Musik zu erweitern. Und sie bemühen sich, einzelnen Filmen einen erkennbaren Sound zu geben, zum Beispiel mit Instrumenten jenseits des klassischen Orchesters. So beginnt John Newman seine Filmmusik zu „American Beauty“ (1999) mit einem Marimbaphon, einer Art Xylophon. Dieser Soundtrack wurde noch Jahre später als Hintergrundmusik in Dokumentarfilmen zu allen möglichen Themen verwendet. Irgendwie wertet diese Musik noch die letzte Provinzpossen-Doku auf.
Der Rückgriff auf bestehende Filmmusik muss nicht schlecht sein. In der hervorragenden Amazon-Serie „Homecoming“ (2018) haben sich die Macher eine zusätzliche ästhetische Komplikation überlegt: Der gesamte Soundtrack sollte nur aus schon bestehender Filmmusik bestehen. Ihr Regisseur und Showrunner Sam Esmail erzählte dem amerikanischen Magazin Billboard, dass diese Entscheidung unfassbare Arbeit und Kosten produzierte, weil es um teils obskure Filmmusik aus den 1970ern ging, deren Rechteinhaber nur schwer zu ermitteln waren.
Am entscheidenden Wendepunkt der Serie aber, einem Moment großer Klarheit und bitterer Einsicht zugleich, kommt Musik zum Einsatz, die älter ist als alle Filme. Am Dreh- und Angelpunkt der ganzen Serie läuft ein 1733 komponiertes Menuett von Georg Friedrich Händel. Kein Filmmusikverdacht, aber ganz großes Kino.
Georg Friedrich Händel: Das Menuett (4. Satz) aus der Klaviersuite in B-Dur, HWV 434 (1733) in der Bearbeitung für Klavier von Wilhelm Kempff
https://www.youtube.com/watch?v=4wXS_7qUwTs
Weitere hörenswerte Filmmusik:
- John Corigliano: The Red Violin Concerto (aus „The Red Violin“)
- Laura Karpman: Paris Can Wait (aus „Paris Can Wait“)
- Michel Legrand: Les Parapluies de Cherbourg (aus „Les Parapluies de Cherbourg“)
- Michael Giacchino: Married Life (aus „Up“)
- Mychael Danna: Finale (aus „The Ice Storm“)
- Hans Zimmer: Time (aus „Inception”)
- David Shire: Main theme (aus „The Conversation“)
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.