Evas Mann verliert die Sprache

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Leben und Lieben

Evas Mann verliert die Sprache

Eva und Romano sind ein zufriedenes Paar. Dann fällt der Sprachwissenschaftler Romano eines Nachts vom Rad – und kennt nur noch drei Worte: ja, nein, abaup.

Profilbild von Esther Göbel
Reporterin für Feminismus

Diese Geschichte veröffentlichen wir mit der freundlichen Genehmigung des Schweizer Magazins Reportagen. In dem zweimonatlich erscheinenden, unabhängigen Magazin berichten Autor:innen in spannenden Reportagen aus aller Welt. „Evas Mann verliert die Sprache“ stammt aus einer besonderen Ausgabe: dem Leserheft, in dem die Autor:innen nur Geschichten ihrer Leser:innen erzählen. Jeder, der ein Krautreporter-Abo abschließt, bekommt eine kostenlose Print-Ausgabe von Reportagen. Für diejenigen, die schon Mitglied bei uns sind, gibt es das Print- und Digitalabo vergünstigt.


Noch immer stehen ihre beiden Namen draußen an der Haustür, als würde er jeden Moment wieder nach Hause kommen. Aber nicht ein gemeinsamer Name, wie das üblich ist bei verheirateten Paaren. Nein, zwei: Romano Müller, zwölf Buchstaben, und Eva Cignacco, elf Buchstaben. Wobei er sie immer Ewa rief, die italienische Art. Das v in ihrem Namen nicht hart ausgesprochen, sondern als weiches w.

Ewa und Romano. 31 Jahre lang ein Paar, 14 davon verheiratet. „Romano e Eva Venezia 2. 5. 2003“, so steht es eingraviert in der Innenseite ihres Eherings aus Gold, „Eva e Romano Venezia 2. 5. 2003“, so steht es in seinem.

„Unsere Liebe war Schicksal“, sagt sie. „Ich habe in ihm immer meinen Mann gesehen. Trotz allem. Am meisten Angst hatte ich in den vergangenen Jahren davor, dass die anderen in ihm einen Idioten sehen könnten.“

Ihr Mann: Romano Müller, eigentlich Roman, aber wegen einer Affinität fürs Italienische hatte er sich in jüngeren Jahren einfach ein o ans Ende gehängt, und dabei war es geblieben. Er, Prof. Dr., Pädagoge, Psychologe, Spracherwerbsforscher, Buchautor, Experte für Mehrsprachigkeit, Dozent an der Pädagogischen Hochschule Bern, fließend in Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch, Spanisch und Schweizerdeutsch, dazu ein paar Brocken Türkisch. Ein Mann von Welt und des Wortes, geboren 1949 in Zug in der Innerschweiz als Sohn eines Dachdeckers.

Romano, der leidenschaftlich diskutierte, forschte, schrieb, der Grass liebte, Frisch und Dürrenmatt. Der streng war, mit sich, seinen Studierenden und der Sprache, keinen Fehler duldete, ganz Wissenschaftler. Für den es Probleme nur gab, um sie zu lösen. Der seine Korrespondenzen stets akkurat führte, der in Gesprächen keinen Widerspruch zuließ, dem Gegenüber ein „Was redest du denn für einen Blödsinn?!“ an den Kopf knallte, wenn es sein musste, der Eva beim Tango dominant führte, ihr Bücher über Hannah Arendt und Lyrik von Hilde Domin schenkte, und der oftmals am Abend nach getaner Arbeit noch mit tief gebeugtem Rücken am Schreibtisch saß. Auch später noch, als alles längst anders war.

Heute sitzt Eva, 57, in ihrem Garten in Bern, den Romano so sehr liebte, zwischen blühenden Sonnenblumen, Hortensien und wildem Wein. „Diese Kunstkarten“, sagt sie, „haben Sie die vorhin gesehen im Bücherregal? Da ging er immer hin und suchte sich eine aus, und dann hat er immer dem und dem geschrieben. Es gab so einen feinen Filzstift, mit diesem Stift war seine Schrift am schönsten. Die Farbe war Blau.“

Ihr schrieb er auch. Karten zum Geburtstag, zur Versöhnung, kleine Liebesbotschaften zwischendurch. Zum letzten Mal 2011. Danach ging es nicht mehr.

Vorne auf der Karte prangt ein großes rotes Herz, es nimmt die ganze Vorderseite ein, und weil jeder Buchstabe schon damals eine riesige Anstrengung für ihn war, steht in der Karte in Druckbuchstaben und roter Schrift nur: „I LOVE YOU! EVA CIGNACCO + ROMANO MÜLLER.“ Sie denkt damals öfter daran, ihren Mann zu verlassen.

„Wir sind ein dialektisches Paar“

Eva: zwölf Jahre jünger als Romano, in sich gekehrt, emotionaler. Geboren in Italien als Tochter eines Drehers und eines Dienstmädchens, als Migrantenkind gemeinsam mit den Eltern nach Basel ausgewandert. Sie, die sich von seiner Weltläufigkeit angezogen fühlt, als beide sich auf einer Studienreise in die Osttürkei kennenlernen, sie 25, er 37. Die zunächst den Beruf der Hebamme erlernt, viel später mit der Unterstützung ihres Mannes in den Niederlanden ihren Master of Nursing Science macht und noch viel später, mit 52, ihren Doktor.

Die zum ersten Mal medizinische Literatur in einer Bibliothek findet und liest, weil ihr Mann sagt, dort könne sie doch mal vorbeischauen. Die ihm Contra gibt, wenn er beim Streiten mal wieder zu laut wird, die sich zur Expertin für Schmerzempfinden bei Neugeborenen entwickelt und zur Dozentin am Institut für Pflegewissenschaften in Basel heranreift, fließend in Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch, Spanisch und Schweizerdeutsch. Die über all die Jahre ihr eigenes Konto hat, keine billige Romantik von Romano braucht, kein Kind will genauso wenig wie er, die ihren Weg geht, mit ihm gemeinsam. Gestärkt durch ihn, der all ihre Manuskripte und Arbeiten für die Uni liest, der sie das Reisen lehrt und das Diskutieren – Romano eröffnet ihr die Welt.

Es ist keine leichte Liebe, die beide in diesen Jahren teilen. „Wir sind ein dialektisches Paar“, sagt Romano manchmal, so als hätte er damals schon geahnt, was auf sie zukommen würde.

Die beiden diskutieren viel, doch reden wenig über sich als Paar. Dafür reisen sie gemeinsam: Deutschland, USA, Argentinien, Marokko, Tessin, und immer wieder Italien. Doch es gibt Zeiten, da verlieren sie sich fast in der Eigenständigkeit des jeweils anderen. Eva pendelt jeden Tag zwischen dem gemeinsamen Haus in Bern und ihrer Arbeit in Basel, Romano vertieft sich in seine Lehrtätigkeit und sein Schreiben. Er geht keinem Streit aus dem Weg, dafür oft seinen Emotionen. Aber er sagt ihr regelmäßig: „Ich ha di sehr gärn.“ Ich habe dich sehr gern, auf Schweizerdeutsch.

Das ist wichtig für Eva. Und wenn sie am Wochenende gemeinsam beim Frühstück sitzen und zufrieden die Berner Zeitung durchblättern, sagt er zu ihr: „Eva, wir als Paar, wir können so viel zusammen! Wir können so viele Sprachen, wir können mit Menschen umgehen, reisen, tanzen, unterrichten. Zusammen können wir die Welt verändern!“ „Ja“, denkt Eva, „das stimmt. Wie schön wir es zusammen haben!“

Romano fällt in den Schnee, aus der Welt heraus – als hätte das Weiß seine Worte verschluckt

Bis zum 25. Januar 2010. Als Romano nach einem gemeinsamen Tangoabend mitten auf der Straße plötzlich vom Rad sackt. Eingehüllt ins Dunkel der Nacht fällt er in den weichen Schnee, aus der Welt heraus. Als hätte das Weiß all seine Worte verschluckt.

Die letzten Bücher, die er las und die immer noch in seinem Zimmer auf dem Nachttisch liegen, weil Eva sie noch immer nicht beiseite räumen kann:
Harald Fritzsch: Quarks. Urstoff unserer Welt
Gedichte von Tomas Tranströmer: Das große Rätsel
Ein zweiter Band von Tranströmer: Die Erinnerungen sehen mich
Von der Fachstelle für Rassismusbekämpfung: Wie sagen wir es den Medien?
Alfred Brendel: Nach dem Schlussakkord.
Und ganz unten im Stapel Michael Donner: Stroke – Schlaganfall

Eva hockt neben ihm auf der Straße, panisch. Sie ruft den Krankenwagen, Romano wird mit Blaulicht ins Krankenhaus eingeliefert, bewusstlos, er wird intubiert, Schläuche überall, niemand weiß, ob er überlebt. Ob er ein Pflegefall wird. Ob er je wieder zu Sinnen kommt.

Die Ärzte diagnostizieren: „sensomotorisches, distal und armbetontes Hemisyndrom rechts mit Aphasie und bucco-lingualer Apraxie“. Das entscheidende Wort: Aphasie. Schädigung der sprachdominanten Gehirnhälfte, hervorgerufen durch eine Hirnblutung.

Eva steht an Romanos Bett, sie schaut auf den bleichen Schlauchmenschen darin, der für sie immer noch ihr Mann ist, lauscht dem Piepen der Maschinen, die ihn am Leben halten, und sagt sich: „Er hat immer nach Lösungen für ein Problem gesucht. Der denkt doch jetzt schon, wie komme ich aus dieser Scheiße wieder raus?!“ Aber als Romano endlich aufwacht, nach vier Tagen im Koma, ist die Scheiße größer als befürchtet: Romano, der Professor, kann nicht mehr sprechen. Auch nicht mehr schreiben. Wie viel er überhaupt noch versteht, weiß niemand. „Nichts“, sagen die Ärzte zu Eva.

Aus dem Buch Sozialpsychologische Grundlagen des schulischen Zweitspracherwerbs bei Migrantenschüler:innen von Romano Müller, 1997:
„Hier wird nun die Rolle von sozialen, psychologischen und institutionellen Faktoren beim Erwerb der schulischen Zweitsprache und beim Schulerfolg theoretisch durchleuchtet und empirisch untersucht. Es entsteht ein Geflecht von vielfältigen Zusammenhängen. Dieses zeigt auf, dass ohne die Reform der schulischen Sprach- und Auslesepraxis die Fähigkeit, zweisprachig zu sein, weiterhin in ein schulisches Versagen verkehrt wird.“

Was bleibt, sind drei Wörter – ja, nein, abaup

Romano Müller, dem wortgewandten Weltenwandler, bleiben nach der Hirnblutung nur noch drei Wörter, um sich der Welt mitzuteilen: „ja“, „nein“ und „abaup“. „Abaup“ ist für ihn alles, was nicht „ja“ oder „nein“ ist. Als hätte jemand eine dicke Glaswand zwischen ihn und die Welt gezogen. Er allein hinter dem Glas, durch das kaum ein Laut nach außen dringt. Abgetrennt von allem, auch von Eva. Ein Paar, dem die Sprache abhandenkommt.

Am Anfang sitzt Romano im Rollstuhl, still und starr. Die ganze rechte Körperhälfte bewegungsunfähig. Er schaut durch Eva hindurch oder an ihr vorbei. Als ob sie gar nicht da wäre. Die Stille und bald auch eine tiefe Traurigkeit umgeben ihn wie ein Kokon, aus dem er sich nicht herausbewegen kann.

„Ich will dich nicht so sehen, Romano“, sagt Eva zu ihm. „Das macht mir Angst.“ Sie glaubt nicht, was die Ärzte ihr sagen, die in ihm nur noch den Patienten sehen, ein Defizit nach dem anderen: schwere kognitive Beeinträchtigung, kein Sprachverständnis, kein logisches Denken und Handeln mehr. Lieber bringt Eva Romano seine Hemden von zu Hause mit, bestellt eine Friseurin ins Krankenhaus. Damit ihr Mann wieder aussieht wie ihr Mann. Jeden Tag besucht sie ihn, vor oder nach der Arbeit. Dann streicht sie ihm, der immer so viel Wert auf seine Autonomie legte, mit einem Waschlappen über die Arme und erzählt ihrem Mann, welcher Wochentag heute ist.

Knapp drei Wochen bleibt Romano in der Akutklinik, danach folgen sechs Monate Reha, intensive Logopädie. Mittels eines gebastelten Katalogs lernt er mühsam die Namen der einzelnen Familienmitglieder neu: Wenn auf der einen Seite oben ein Foto von Eva zu sehen ist, steht darunter in dicken Druckbuchstaben ihr Name in Lautschrift – mit einer Skizze zum entsprechenden Buchstaben, die zeigen soll, wie Romano seinen Mund bewegen muss, um ihn auszusprechen. E-F-A. Er lernt auch die Namen seiner Nichte, I-N-E-S, und die seines Neffen, E-M-I-L-L-I-O. Wie ein Kind lernt er wieder, was Sprache ist und wie das Zusammenspiel von Laut und Schrift funktioniert. Jeder einzelne Buchstabe wird zum Kampf.

Eva kämpft auch.
Wie viel kann eine Liebe tragen?
Eva geht zur Psychotherapie.

Eva entwickelt eine eigene Kommunikation mit ihrem Mann

Zu Hause schaut Romano politische Talksendungen im Fernsehen. Und Filme. Im Esszimmer des Paares steht ein großes Regal voller DVDs. Intensiv studiert er jeden Morgen die Berner Zeitung. Doch die Ärzte sind sich sicher: Er versteht den Inhalt nicht. Aber einmal, als Romano und Eva zusammen die Polit-Talkshow „Anne Will“ im Fernsehen anschauen, regt Romano sich über einen der Gäste furchtbar auf, sagt heftig „Nein, nein, NEIN!“, die Stirn gerunzelt, den Kopf schüttelnd. Da denkt Eva: „Er versteht sehr wohl, was dort gesprochen wird!“

Mit der Zeit entwickelt sie eine eigene Kommunikation mit ihrem Mann, eine Art Ratespiel: Wenn er zu Hause zu ihr kommt, fragt sie: „Willst du mir etwas sagen?“ Antwortet er mit „Ja, ja, ja“, konzentriert sie sich und fragt weiter. „Geht es um dich?“ „Nein!“ Eva fragt weiter. „Geht es um mich?“, „Neeeiin, nein, nein!“, antwortet Romano. „Geht es um das Haus?“ – „Nein, nein, nein!“ – „Um den Garten?“ – „JA!“ – „Ah, um die Blumen?“ – „Ja! Ja, ja, ja!“ – „Ich soll sie gießen, findest du?“ – „JA! Ja, ja!“

In einem kleinen Journal notiert Eva Romanos Fortschritte. Am 8. 6. 2010 vermerkt sie unter dem Wort „Neuropsychologe“:
„Aufmerksamkeitstraining: schnell, vorschnell und dadurch manchmal unsorgfältig.
Rechnen: vor allem, wenn Zahlen gesehen werden.
Logopädie: schwere Apraxe, Kompensation: Schreiben.
Leseverständnis: Schwankungen, einzelne Sätze.“

Sie und Romano richten sich neu aus und zusammen im Alltag ein. Trotz seiner Krankheit verreisen sie weiterhin. Mit einem befreundeten Paar fahren sie 2014 mehrere Wochen durch die Südstaaten der USA, Romano auf dem Beifahrersitz, die Frauen auf der Rückbank. Allein reisen Eva und ihr Mann nach Marokko und Arezzo, Italien. Wenn Eva zu Hause in Bern morgens um Viertel nach acht das Haus verlässt, um zur Arbeit nach Basel zu fahren, steht Romano am Badezimmerfenster, schaut ihr hinterher und winkt, bis Eva mit ihrem Velo vom Gartentor um die nächste Straßenecke biegt.

Danach liest er Zeitung, vor allem die Aktienkurse und Todesanzeigen interessieren ihn, aber auch alle anderen Seiten. Die, die er nicht richtig versteht, soll Eva ihm am Abend vorlesen, er legt die Seite stets für sie auf seinem Schreibtisch bereit, bevor er in seinem Kellerstudio verschwindet. Dort malt er. Romano zeichnet Porträts in kräftigen Farben und großem Format, klar und kraftvoll, immer mit Holzstift. Seine Bilder leuchten. Berge von bunten „Pablo“-Stiften liegen auf der Arbeitsplatte im Keller, umrahmt von raumhohen Bücherregalen. Obwohl Romano bis zu jenem Tag im Januar 2010 Rechtshänder war, bringt er sich das Malen mit links bei, da seine rechte Körperhälfte noch immer unbeweglich ist. Manchmal zeichnet er Eva. Dann sitzt sie vor ihm, und er schaut sie an. Endlich einmal wieder: von ihm angeschaut werden.

Romano ist gereizt – Eva verliert die Geduld

Jeden Montag bekommt er Besuch von Ivana, einer lebenslustigen rothaarigen Italienerin, die das Paar von früheren Tangoabenden kennt. Wenn Ivana kommt, legt Romano eine Fado-CD für sie beide ein, die beiden kochen zusammen, und Ivana spricht mit ihm auf Italienisch. Romano versteht alles. Die fünf Sprachen, die er einmal fließend sprach, sie sind noch in ihm. Manchmal kritzelt er in schiefen Buchstaben ein englisches Wort aufs Papier oder ein französisches, einfach so, als hätte sein Gehirn einen Witz gemacht oder die falsche Synapse angeknipst.

Jeden Dienstagabend schaut sein Studienfreund Martin vorbei, Mathematiker. Weil Romano es sich wünscht, studieren die beiden Logarithmus-Reihen. Mittwochs begleitet Romano seine Frau in den ersten zwei Jahren zur Arbeit nach Basel. Donnerstag und Freitag sind Therapietage: Logopädie, Physiotherapie. 15 Monate nach dem Unfall braucht Romano den Rollstuhl nicht mehr.
Es geht besser.
Und dann wieder schlechter.

Aus dem medizinischen Bericht von Dr. med. F. Camponovo, Klinik Bethesda, Bern, vom 11. 8. 2010:
„Herr Müller war im Kontakt meist zugänglich. Er nahm an der Untersuchung bedingt kooperativ teil. Bei Konfrontation mit Schwierigkeiten Frustration: Abbruch der Aufgaben, Gereiztheit. Er deutete an, dass die Untersuchung sowieso schlecht ausfallen würde. Spontansprache: kaum Wortproduktion. Sprach- und Instruktionsverständnis eingeschränkt. (…) Stimmung deutlich bedrückt, depressiv wirkend.“

Ist das wirklich noch Evas Mann?

Manchmal verliert sie die Geduld. Romano sagt nicht nur „abaub“, wenn er nicht „ja“ oder „nein“ meint. Auch sie ist „abaup“. So ruft er sie. „Wieso sagst du nicht Eva?“, schreit sie ihn einmal an. „Wieso nicht? E-V-A!“, ruft sie, stellt sich vor ihn und spricht jeden Buchstaben übertrieben laut und deutlich aus, um ihm zu zeigen, wie es geht. „Du lernst das doch in der Logopädie! Du kannst das doch! Sag E-V-A!“ Aber Romano kann es nicht. In solchen Momenten denkt sie daran, wie es wäre, zu gehen. Weg von Romano – zu Heiner.

Eva verliebt sich neu – in einen Geschichtenerzähler

Heiner, den sie als junges Mädchen schon einmal liebte mit aller Unschuld der ersten Liebe, sie 17, er 20. Beide sind damals ineinander vernarrt, viel mehr passiert nicht. Sie ist zu schüchtern, er zu ungeduldig. Der gemeinsame Weg trennt sich – um sich dreißig Jahre später, 2006, wieder zu verzweigen. Völlig ungeplant, einfach so. Mit derselben Zufälligkeit, mit der in Romanos Kopf dreieinhalb Jahre später eine Ader platzen und in sein Sprachzentrum bluten wird.

Im Sommer 2006 kommt Eva gerade von ihrem Vorstellungsgespräch am Institut für Pflegewissenschaften, sie ist auf dem Weg zum Essen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester, da sieht sie ihn. Völlig unerwartet, am helllichten Tag läuft er in Basel an ihr vorbei. Sie bleibt stehen, dreht sich irritiert um. Es dauert einen Moment, bis sie sich sicher ist: Das ist doch Heiner! Er bleibt auch stehen. Beide sind überrascht, verlegen. Sie sprechen kurz, tauschen das Wichtigste aus. „Ich habe mich gerade um eine Stelle beworben“, sagt Eva. „Ich arbeite als Geschichtenerzähler, ich erzähle Geschichten für Kinder und Erwachsene“, sagt Heiner. Sie lächeln.

Eva sagt, sie müsse weiter, zum Essen, Heiner drückt ihr einen Flyer in die Hand und sagt, sie solle sich melden. Ein halbes Jahr vergeht. Sie schreiben ein paar E-Mails hin und her. Harmlos. Irgendwann fragt er sie: „Wollen wir nicht mal einen Kaffee zusammen trinken?“ „Ja, lass uns einen Kaffee trinken!“, schreibt Eva zurück. Sie weiß zwar nicht genau, warum – was soll ich diesem Menschen nach dreißig Jahren erzählen, fragt sie sich. Aber sie willigt ein.

Sie treffen sich in Basel in einem Café, reden stundenlang. Irgendwann ist es Abend. „Ich muss jetzt wirklich gehen“, sagt Eva. „Ich fahr dich zum Bahnhof“, antwortet Heiner. Es ist der Moment, in dem Eva sich neu in Heiner verliebt. Mit ihm ist da plötzlich jemand, der sich kümmert. Um sie! Von Romano kennt Eva das nicht. Bei ihm muss sie sich selbst um sich kümmern. Wo ihr Mann sie am Abend fragt: „Was hattest du heute für einen Tag?“ fragt Heiner: „Wie geht’s dir heute?“ Wo ihr Mann bei Ärger im Büro rät: „Eva, du musst auf Distanz gehen, bleib gelassen“, fragt Heiner: „Ja und was macht dieser Ärger mit dir?“

Heiner. Der so anders ist als Romano. Ein Chaot, Künstler, ein Träumer. Die Wohnung durcheinander, den Bart lässt er gern mal ein paar Tage als Stoppelbart stehen. „Er ist ein sehr schöner Mann“, sagt Eva. „Mein Naturbursche“, so nennt sie ihn.

Heiner erzählt ihr von seinem Bühnenprogramm, „Chili und Erdbeeren“, erotische Geschichten für Erwachsene, mit denen er durch die Schweiz tingelt. Mit ihm kann sie leidenschaftlich sein, sie genießt seine Zuwendung. Die beiden gehen eine Beziehung ein.

Eva denkt darüber nach, Romano zu verlassen. Sie beichtet ihm ihre Liebe zu Heiner, doch Romano will nichts davon wissen, verdrängt und wehrt ab. „Ausgerechnet für einen Geschichtenerzähler willst du mich verlassen?“, ist das Einzige, was er erbost zu Evas Geständnis zu sagen hat.

Und dann kommt der 25. Januar 2010.
Jener Tag, an dem Romano eingehüllt ins Dunkel der Nacht auf die Straße fällt, in die Stille hinein. Der Schnee so blank wie weißes Papier.

Heiner fühlt sich erst überflüssig – und geht dann

Heiner unterstützt Eva, gibt ihr Halt in den schwierigen Anfangsmonaten mit Romano, der nicht mehr spricht. Dafür spricht Heiner mit ihr, holt sie aus der Stille heraus. Aber mit der Zeit wird er immer ungeduldiger. „Wann bauen wir uns eine Zukunft zusammen auf?“, fragt Heiner. „Ich muss erst schauen, dass Romano wieder auf die Beine kommt“, sagt Eva, „dann sehen wir weiter.“ „Wann?“, fragt Heiner wieder. „Wir müssen noch warten“, sagt sie. Eva bleibt bei Romano.

Im Oktober 2010, ein halbes Jahr nach Romanos Hirnblutung, verlässt Heiner sie. „Ich bin hier das dritte Rad am Wagen, ich weiß nicht, wo mein Platz ist“, sagt er. Die beiden kommen noch einmal zusammen, zwei Jahre später, aber nach einigen Monaten ist wieder Schluss. Eva bleibt bei ihrem Mann.
Wann immer sie und Romano in Urlaub fahren, packt sie Bücher ein, die sie „gemeinsam“ lesen: Sie liest vor, er hört zu.

Die Seiten, die ihn besonders interessieren, markiert er für sie durch akkurat gesetzte Eselsohren. Sie hat stets ein kleines Heft in ihrer Tasche. Falls sie zusammen in einem Restaurant sitzen und Eva durch ihre Fragetechnik nicht versteht, was Romano ihr sagen will, kritzelt er notfalls ein Bild in das kleine Heft. Und Eva fragt so lange um die Skizze herum, bis sie durch sein „Ja, ja, jaaa!“ oder „Nein, nein, neeiiiin!“ herausfindet, was er meint.

So finden die beiden ihre Kommunikation wieder, fast ohne jedes Wort. Sie „unterhalten“ sich mittels Blicken, Skizzen, „ja“, „nein“, Evas detaillierten Nachfragen. „Einmal habe ich gedacht, dass wir viel dynamischer sind als andere Paare, die miteinander sprechen können“, sagt Eva heute. „Wir mussten uns wirklich um unsere Kommunikation bemühen.“

Eva spürt die Last von Romanos Körper – er wird zu schwer

Trotzdem: Eva ist in jenen Jahren die Überlegene. Sie gibt den Ton an, organisiert alles, pflegt Romanos geliebten Garten, wird zu seinem Sprachrohr – sie eröffnet ihm die Welt.

Das allerletzte Buch, das Eva ihrem Romano vorliest, Anfang September 2017: Tschick von Wolfgang Herrndorf. Die beiden sind im Urlaub in Pisogne, einem kleinen Ort am Lago d’Iseo westlich vom Gardasee gelegen, es ist das Heimatdorf von Evas Mutter. Seit jener Winternacht 2010 fahren sie mindestens einmal im Jahr hierher. An einem sonnendurchfluteten, fast spätsommerlichen Tag sitzen sie auf einer Parkbank, umgeben von drei riesigen alten Zedernbäumen. Eva liest Romano die letzten Sätze aus dem Buch vor.

„Ich dachte, dass ich das ohne Tschick nie erlebt hätte in diesem Sommer und das es ein toller Sommer gewesen war, der beste Sommer von allen, und an all das dachte ich, während wir da die Luft anhielten und durch das silberne Schillern und die Blasen hindurch nach oben guckten, wo sich zwei Uniformen ratlos über die Wasseroberfläche beugten und in einer stummen, fernen Sprache miteinander redeten, in einer anderen Welt – und ich freute mich wahnsinnig. Weil, man kann zwar nicht ewig die Luft anhalten. Aber doch ziemlich lange.“

Nachdem sie das Buch zugeklappt hat, sagt sie: „Komm, wir legen uns unter die alten Bäume.“ Romano sagt „Ja, ja, ja“, sie stützt ihn, hilft ihm, sich hinzulegen. Eine Stunde liegen sie gemeinsam im Gras, eng nebeneinander, schauen in den Himmel und beobachten, wie die Wolken durchs das Blätterdach über ihnen vorbeiziehen. Eva ist glücklich.

Dann sagt sie: „Lass uns gehen, wir müssen los.“ Sie steht auf, hievt ihn hoch, stützt ihn mit all ihrer Kraft, spürt die Last seines Körpers auf ihrem. „Da dachte ich“, sagt sie heute, „dass ich das nicht mehr lange so machen kann.“

Sechs Wochen später, am 23. 10. 2017, einem goldenen Oktobermontag, stirbt Romano. Eva findet ihn bäuchlings in der Küche liegend, das Gesicht blau angelaufen, als sie abends von der Arbeit nach Hause kommt. Den Tisch hat Romano noch gedeckt, den Salat in der Schüssel vorbereitet, im Ofen steht ein Nudelauflauf.

„Wir sind uns begegnet, um diesen Weg gemeinsam zu gehen“

Sie hat in seinem Zimmer nichts verändert. Auch neun Monate nach seinem Tod liegt alles an seinem Platz. Rechts auf der Kommode neben der Tür: sein Portemonnaie, sein Handy, eine Prepaid-Karte, sein abgewetzter Steiff-Teddy aus Kindertagen, ein gerahmtes Foto von ihr, Mitte dreißig, lächelnd und mit kurzem Haar im Urlaub. Auf seinem Schreibtisch der letzte Zeitungsartikel, den er las: Die Geschichte des Tanzes ist auch die Geschichte der Sehnsucht nach Glück.

Eva ist jetzt ohne Romano. An einem Julitag im Sommer 2018, als im Garten vorm Haus die Hortensien, Sonnenblumen und Brombeeren blühen, steht Eva in der Küche, ungefähr dort, wo sie Romano am Boden liegend fand. Vor ihr auf dem Küchentisch liegt die „I love you“-Karte von 2011, an der Wand über dem Küchentisch hängen Fotos von ihrer Familie, der Nichte, dem Neffen. Und ein Foto von Romano, aus dem gemeinsamen Urlaub in Weimar 2016, Besuch des Goethe-Hauses. Romano in der Großaufnahme, im Hintergrund Goethes Garten, Romano lacht sein Schuljungenlachen, das sich einmal über das ganze Gesicht zieht und noch immer jene Anziehungskraft besitzt. Die weiß-grauen Haare liegen ihm zerzaust um den Kopf.

Warum hat Eva ihn in den acht Jahren nach der Hirnblutung eigentlich nicht verlassen? Sie hat doch oft daran gedacht. Und da war Heiner.
Eva seufzt. Jetzt ist sie es, die nach Worten sucht.
Dann sagt sie: „Ich habe in ihm immer meinen Mann gesehen.
Er und ich, wir sind uns begegnet, um diesen Weg gemeinsam zu gehen.“


Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.