Ich hätte es nicht für möglich gehalten. Aber wie falsch das Raster ist, mit dem ich auf unsere Welt blicke, habe ich kürzlich ausgerechnet dadurch verstanden, dass ich mir Fotos von Toiletten angeschaut habe.
Wer sind wir? Wie sehen wir uns selbst? Und wie die anderen? In meinem Fall könnte man diese Fragen beispielsweise mit folgenden Stichworten beantworten: Ich bin Esther, 35 Jahre alt, nicht verheiratet, keine Kinder, Single. Ich wohne in Berlin, also in Deutschland und damit in der westlichen Welt. Ich habe studiert, bin zwar katholisch getauft, aber eigentlich nicht religiös.
Allein aus diesen wenigen Parametern ergibt sich ein Bild, leitest du beim Lesen bestimmte Dinge ab, die du meiner Person zuschreibst. Hätte ich geschrieben, ich lebte in Dakar statt in Berlin, sei muslimischen Glaubens und nicht katholisch getauft, hätte sich vor deinen Augen ein anderes Bild von mir zusammengesetzt. Und wenn ich statt Berlin Tel Aviv angegeben hätte, statt Single verheiratet, statt kinderlos vier Kinder und statt nicht-religiös jüdisch, wäre es wieder ein anderes Bild gewesen.
Das ist – erstmal – kein Problem. Wir alle denken in bestimmten Kategorien. Ohne sie würden wir uns in dieser Welt gar nicht zurechtfinden. Wir denken in Pauschalisierungen, als würden wir ein Raster über alles legen, was wir sehen und hören. Wir denken in Normen, nach denen wir uns ausrichten, in Größen und Zahlen, die uns bewerten, in Einzelbeispielen, die wir zur Regel erheben, oder in persönlichen Erfahrungen, wie wir in unserem Kopf in allgemeine Standards umwandeln. Jeder von uns tut das, fast wie in einem Reflex. Hans Rosling nennt das den „Instinkt der Verallgemeinerung“.
Der Mensch braucht Kategorien, um durchs Leben und durch die Welt zu navigieren; so, wie ein Autofahrer Straßenschilder zur Orientierung benötigt. Warum? Weil es sonst unmöglich wäre, in dieser komplexen Welt zurechtzukommen, müssten wir doch jede Situation, vor die wir gestellt werden, und jeden Menschen, den wir treffen, jeden Tag aufs Neue einordnen, ohne zu wissen, wonach eigentlich.
Gängige Kategorien für dieses Raster sind beispielsweise Religion, Kultur und geografische Herkunft eines Menschen. Weil sie genau das bieten: Orientierung. Für sehr viele Menschen spielt die geografische Heimat eine wichtige Rolle, ebenso wie ihre Religion und ihre Kultur. Genau an dieser Stelle aber fängt das Problem an. Weil Religion und Kultur oder die Antwort auf die Frage, in welchem Land ein Mensch lebt oder aus welchem er stammt, schnell zu Pauschalisierungen führen – und damit zu falschen Verallgemeinerungen.
Zum Beispiel zu der Annahme, dass das Leben der Menschen im Westen sich sehr vom Leben der Menschen in den sogenannten Entwicklungsländern unterscheidet. Oder dass ich mit einer Frau meines Alters, die in Saudi-Arabien lebt, wohl nicht viel gemein haben kann. Und mit einem Mann aus Äthiopien schon gar nicht, oder?
Denn die Frau aus Saudi-Arabien kann doch wohl nicht dieselbe Ahnung von einem selbstbestimmten Leben in sich tragen, die auch ich in mir trage, sie lebt im Gegensatz zu mir auch nicht in einer Demokratie, spricht eine andere Sprache, sie lebt eingebettet in einen religiösen Kontext, sie wird von einer anderen Kultur geprägt – also wird sie wohl ein komplett anderes Leben führen als ich. Genauso wie der Mann in Äthiopien sich fundamental von mir unterscheiden muss, nicht wahr? Denn er lebt doch in einem armen Land, oder nicht? Wahrscheinlich kennt er keine Elektrizität, er spricht eine andere Sprache, er hat andere Wünsche als ich, einen anderen Alltag.
Stimmt, hätte ich genauso beantwortet, diese Fragen – wenn ich nicht gerade sehr intensiv Fotos von Toiletten rund um den Globus studiert hätte.
Die Fotos stammen von einer Homepage, die sich „Dollar Street“ nennt. Dahinter steht eine Frau aus Schweden, Anna Rosling Rönnlund. Sie ist die Schwiegertochter von Hans Rosling, dessen Buch Factfulness den Anstoß für diese Serie gegeben hat. Genau wie ihr Schwiegervater stellte sich auch Anna Rosling Rönnlund die Frage: Wie können wir unsere Welt verstehen? Und sie besser für andere verständlich machen?
Weil Rönnlund Kunst und Sozialwissenschaften studiert hat, suchte sie zunächst in beiden Fächern nach Antworten. Doch die Wege, die ihr die Kunst aufzeigten, waren ihr zu abstrakt; die Worte, die die Soziologie ihr anbot, zu theoretisch. Es müsste doch einen einfacheren Weg geben, dachte Rönnlund. Einen praktischeren, einen, der viel schneller einen Zugang schafft zu jenen, um die es ihr ging: den Menschen, in ihrem Alltag.
Rönnlund betrachtete Zahlen, erstellte Statistiken, jahrelang. Und dann kam ihr plötzlich eine Idee: Was, wenn man einfach nur die Kategorien verschieben müsste, um sich ein genaueres Bild der Welt machen zu können – und wenn man diese Kategorie nicht in trockenen Statistiken darstellen würde, sondern in Fotos?
Sie stellte sich also die Frage: Was, wenn nicht Kategorien wie Kultur, Religion oder das Herkunftsland das Denken eines jeden einzelnen über den jeweils anderen formen würden? Wenn wir die Menschen nicht mehr nach Begriffen wie „westliche Welt“ versus „Entwicklungsländer“ sortieren würden, gläubig versus nicht-gläubig, sondern zum Beispiel anhand ihres Einkommens? Könnten wir dann mehr voneinander verstehen?
Genau das ist das „Dollar-Street“-Projekt. Eine riesige Fotodatenbank, in der Familien rund um den Globus zeigen, wie sie leben. Wie sie ihr Schlafzimmer gestalten, welche Zahnbürste sie verwenden, welches Besteck sie zum Kochen benutzen und wie ihre Toilette aussieht. Das Dollar-Street-Projekt ist eine soziologische Fotoarbeit, wenn man es so nennen möchte; eine faszinierende Reise rund um den Globus, von zu Hause aus, per Mausklick.
Seinen Namen verdankt es der Idee, die hinter dem Projekt steht: Rönnlund stellte sich die Welt als eine Straße vor, in der alle Menschen ihren Platz haben. Die ärmsten wohnen am linken Ende der Straße, die reichsten am rechten, die anderen irgendwo dazwischen. Deswegen ist auf den Fotos der jeweiligen Familien immer auch eine Summe in Dollar angegeben: Es ist der Wert, den die jeweilige Familie nach eigener Auskunft pro Monat zum Leben zur Verfügung hat. Die Skala reicht von 25 Dollar auf der linken Seite bis zu rund 11.000 Euro auf der rechten.
Da ist zum Beispiel Familie Howard aus den USA. 4.650 Dollar können sie im Monat ausgeben. Wer auf ihr Bild klickt, lernt mehr über die Familie: Die Howards stammen aus Colorado, Vater Bryan ist 51 Jahre alt und arbeitet als Sales Manager, Mutter Christina ist ebenfalls 51, sie arbeitet als Hausfrau. Die Howards haben zwei Kinder, Tochter Savanah ist 15, Sohn Seth 11 Jahre alt. Zusammen lebt die Familie seit 14 Jahren in einem Haus mit vier Zimmern, das ihnen gehört. Natürlich hat das Haus der Howards eine zuverlässige Stromversorgung, fließendes Wasser – und eine Toilette nach westlichem Standard, mit einer Wasserspülung in einem Badezimmer und einer Kloschüssel, auf die man sich setzen kann. Vater Seth arbeitet 60 Stunden pro Woche, einen Teil des Geldes, das er verdient, verwenden die Howards für Urlaube, außerdem sparen sie ein bisschen. Die nächste große Anschaffung, die die Familie plant, ist ein Auto für Tochter Savanah.
Und dann sind da zum Beispiel die Lius aus China. Zwischen ihnen und den Howards liegen tausende Kilometer, doch ihre Leben sehen sich erstaunlich ähnlich: Vater Zeyong ist 53 Jahre alt und arbeitet als Investor, seine Frau Xiaoquin, eine Managerin in einer Versicherungsfirma, ist 50 Jahre alt. Beide arbeiten rund 70 Stunden pro Woche. Das Paar hat eine Tochter, Junran, 24, die in den USA studiert, pro Monat hat die Familie 4.743 US-Dollar zur Verfügung. Die Lius leben seit 14 Jahren in einem Haus mit drei Zimmern, das ihnen gehört, dort leben auch noch Großvater Hong Cheng, 77 Jahre alt, und Großmutter Shixiang, 75. Natürlich verfügen die Lius in ihrem Haus über fließendes Wasser, das man unbesorgt trinken kann, über Strom – und über eine anständige Toilette. Einen Teil ihres Geldes gibt die Familie für Urlaube aus, aber sie sparen auch.
Wer will, kann über beide Familien noch sehr viel mehr erfahren: Wie sie ihr Besteck aufbewahren, wie ihr Schlafzimmer aussieht, welche Hygieneartikel sie verwenden oder wie der Ort ausschaut, an dem sie kochen. Es ist, als würden Familie Howard und die Lius einem vom Bildschirm aus zuwinken und einem die Tür in ihr Leben öffnen. Das Interessante daran: Wer die Fotos aus dem Alltagsleben beider Familien vergleicht, dem fällt irgendwann auf, wie wenig sich die Bilder unterscheiden – dabei leben beide Familien doch tausende Kilometer voneinander entfernt, sprechen nicht dieselbe Sprache, teilen keine gemeinsame Kultur.
Das allein ist schon faszinierend genug. Man kann dasselbe nun aber auch auf der anderen, der linken Seite der Skala durchspielen und dort zum Beispiel Familie Sinare kennenlernen. Die Sinares leben in einer Zentralregion Burkina Fasos in Westafrika, Vater Karim, 38, arbeitet als Maurer, seine Frau Ami, 32, verkauft Erdnüsse. Beide schuften rund 50 Stunden die Woche. Das Paar lebt mit seinen vier Kindern im Alter von zwei Monaten bis 11 Jahren in einem Ein-Zimmer-Haus, das sie selbst gebaut haben, der sechsköpfigen Familie steht pro Monat eine Summe von 45 Dollar zur Verfügung. Das Haus der Sinares hat keinen Strom, sie benutzen Batterien, damit sie nicht im Dunkeln sitzen müssen, außerdem teilt sich die Familie eine Toilette mit drei anderen Familien. Fast ihr gesamtes Geld geben die Sinares für Essen aus, sie waren noch nie im Urlaub. Ihr großer Traum ist ein Familien-Fahrrad.
Eine andere Familie, die ebenfalls auf der linken Seite der Straße wohnt, sind die Jaques aus Haiti. Das Monatseinkommen der Familie beträgt 39 US-Dollar, Vater Thomas ist 57 Jahre alt und arbeitet als Bauer, seine Frau Marielene, 43, kümmert sich um die beiden Kinder Michma, 15, und Jackson, 6 Jahre alt. Thomas arbeitet 49 Stunden die Woche. Die Familie lebt in einem Ein-Zimmer-Haus, das sie selbst gebaut hat, sie haben keinen Strom und keine eigene Toilette, die nächste sichere Wasserquelle liegt etwa eine Stunde von ihrem Haus entfernt. Neunzig Prozent ihres monatlichen Einkommens geben die Jaques für Essen aus, sparen können sie nichts. Sie träumen davon, sich irgendwann einmal ein besseres Haus leisten zu können.
Und auch hier gilt wieder: Das Alltagsleben der beiden Familien ist sich viel ähnlicher, als ich jemals vermutet hätte, denn auch sie leben – wie die beiden Familien auf der rechten Seite der Dollar Street, die wir zuvor verglichen haben – tausende Kilometer voneinander entfernt, in zwei völlig verschiedenen Ländern. Trotzdem sind die Ähnlichkeiten im Alltagsleben frappierend: Beide Familien kochen auf offenem Feuer, in beiden Haushalten gibt es einen einzigen großen Löffel, den sie zum Kochen benutzen, der Strom kommt aus Batterien, die Straße vor beiden Familienhäusern ist ungeteert, man teilt sich eine einzige Zahnbürste, das Shampoo besteht aus einem Stück Seife, gegessen wird auf dem staubigen Boden, der Müll irgendwo draußen auf einen Haufen geworfen.
Dieser „Aha!“-Effekt beim Betrachten der Fotos verstärkt sich noch, wenn man auf einen Blick zum Beispiel nur die Schlafzimmer, die in der Dollar Street liegen, vergleicht – oder eben die Toiletten. Das sieht dann zum Beispiel so aus:
Stell Dir vor, bei dieser Foto-Toilettenleiste würden sich keine Ländernamen am jeweiligen Bildrand finden – wer könnte dann noch sagen, aus welchem Land die Toiletten stammen? Einzig eine Sache wird deutlich: Das Einkommen hat einen großen Einfluss darauf, wie wir leben – vielleicht sogar einen stärkeren als Kultur oder die geografische Herkunft. Wer am linken Ende der Dollar Street lebt, muss unter ziemlich schlechten Bedingungen auf die Toilette gehen, wohingegen die Menschen auf der rechten Seite der Dollar Street nur einige Schritte in eines ihrer Badezimmer machen müssen und dezent die Tür hinter sich schließen können.
Wer jetzt denkt, dieses Fazit sei banal (natürlich beeinflusst Geld unser aller Leben), hat noch nicht zu Ende gedacht: Die eigentliche Erkenntnis aus dem Dollar-Street-Projekt ist, wie die vermeintliche Ferne zwischen Menschen in unterschiedlichsten Kontexten schwindet, sobald man die Kategorie der Betrachtung verschiebt.
Als Anna Rosling Rönnlund auf einem Vortrag ihr Projekt erklärte, sagte sie einmal: „Wir benutzen diese Fotos als Datensätze, um mit Länder-Stereotypen aufzuräumen. Denn wenn du diese Bilder betrachtest, fällt dir auf: Die Menschen, die in deinem Einkommenssegment liegen, leben auf eine ähnliche Weise wie du.“
Sätze wie „In Afrika leben alle Menschen in ärmlichen Verhältnissen!“ oder „Eine Frau aus China lebt doch ein ganz anderes Leben als ich!“ machen keinen Sinn, das zeigt Rönnlunds fotografischer Datensatz – so wie Verallgemeinerungen niemals Sinn machen.
Wir alle sind uns näher, als es zunächst den Anschein hat.
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.