Des einen Unglück ist oft das Glück eines anderen. Wo jemand einen Job verliert, wird für jemand anderen eine Stelle frei; wo eine alte Liebe rostet, rührt jemand anderswo schon frischen Lack an. Und so begann der Aufstieg des Rechtsanwalts Thomas G. aus der Kleinstadt Z., als die politische Karriere des Stadtrats Frieder F. endete. Jener F. hatte eines blauen Januartages auf dem Marktplatz der mittelalterlichen Altstadt einem Grüppchen fröstelnder Journalisten verkündet, dass er die Partei der Deutschnationalen verlassen werde und somit auch aus deren Fraktion im Stadtrat austrete, mit sofortiger Wirkung, da er sich von deren Mitgliedern sowohl bevormundet als auch hintergangen fühle.
Für die Ortsgruppe der berüchtigten Deutschnationalen ging diese Entscheidung mit gemischten Gefühlen einher, denn einerseits war man froh, den widerspenstigen Herrn F. los zu sein, dessen „kontroverser Charakter“ oft genug das einzige war, was einstimmigen Entscheidungen der Partei im Wege stand (für die Deutschnationalen besiegelten einstimmige Entscheidungen das Ende einer Sitzung, so wie für andere der Orgasmus das Ende des Geschlechtsakts bestimmt) – andererseits bedeutete der Rücktritt von Frieder F. ein strategisches Problem großer Tragweite, denn die Partei verlor dadurch den Status einer Fraktion im Stadtrat und damit leider auch die Ansprüche auf ein Büro und ein Mitarbeitergehalt im beziehungsweise vom Rathaus.
Die Partei war nun in der misslichen Lage, schnell einen Stadtrat einer anderen Fraktion zum Wechsel überreden zu müssen. Leider, so stellten die Parteimitglieder fest, hatte man alle anderen Fraktionen in der Vergangenheit ausgiebigst beleidigt, mehrmals, und war auch zurückbeleidigt, gar zum Feinde erklärt worden, einmütig selbst von miteinander verfeindeten Parteien.
So kam es, dass der Rechtsanwalt Thomas G. beim Montagsstammtisch der Nationalen erschien, mit triumphalen Gesten seine in immenser Beleibtheit begründete Unsicherheit überspielend, um seine an gewisse Bedingungen geknüpfte Wechselbereitschaft anzuzeigen. Seine Motivation begründete er so: Aus der Fraktion der „sogenannten“ Freien Demokraten (der er bisher angehörte) habe sich der Geist der Demokratie längst verflüchtigt, alles werde immer nur kleingeredet und nie etwas Großes gemacht, dabei müsse doch jetzt, wo es im Land so schlimm zugehe wie nie, gehandelt werden, und in eben jener „Laberpartei“, der er bislang angehöre, sehe der Herr Advokat seine öffentlich bei Gerichte bewiesene und immer wieder in den Dienste des „kleinen Mannes“ gestellte Argumentationskraft sowie seinen Gestaltungsdrang nicht in dem Maße erkannt und zu Nutzen gebracht, wie es einem Mann seiner politischen Talente gerecht werde.
Die Lokalzeitung hatte Herrn G.s erstaunliche Erklärung gerade noch rechtzeitig vor Redaktionsschluss erreicht. Der letzte verbliebene Mitarbeiter im spärlich beleuchteten Regio-Newsdesk formulierte geschwind eine Nachricht daraus.
Der angenehme Redeschwall des Herrn G., der noch Stunden, so der Eindruck der Nationalen, hätte andauern können, sein staatsmännischer Bauchumfang sowie sein forsches Auftreten beeindruckten die Anwesenden sichtlich. Es animierte sie unbewusst dazu, gerader zu sitzen und mehr Fremdwörter zu benutzen als üblich. Zudem stellte sich bald ein unbestimmtes Gefühl von Erhabenheit bei allen Beteiligten ein, das unter dem Einfluss reichlich fließenden Bieres zu einem flüchtigen Hochgefühl anschwoll, denn schließlich wurde hier gerade ein politischer Feind in die eigenen Reihen aufgenommen, eindrücklicher Beweis der so lästerlich in Abrede gestellten Toleranz und Humanität der Nationalen, und nicht zuletzt auch ihrer Attraktivität, denn ein Mann mit so viel Prestige, Menschenkenntnis und Bildung wie der Herr Strafverteidiger wäre sicherlich in jeder anderen Partei auch willkommen gewesen.
Schon am folgenden Morgen vermeldete die Lokalzeitung, dass die Fraktion der Nationalen, deren drohende Auflösung bereits in den sozialen Netzwerken höhnisch gefeiert worden war, durch den Wechsel des Herrn G. ihre Arbeit fortsetzen könne. Herr G. selbst wurde in der Meldung damit zitiert, dass er über die Parteiengrenzen hinweg zahlreiche Glückwünsche für seine Entscheidung erhalten habe und sich darauf freue, nun sein Mandat im Namen der Bürger noch besser, weil in einer dynamischeren, zeitgemäßeren Partei ausüben zu können.
Als einen ersten Schwerpunkt seiner Tätigkeit nannte er die Verhinderung des geplanten Moscheebaus in Z. Mehrere zukünftig betroffene Anwohner der Stadt hätten ihn gebeten, sich für die Verhinderung einzusetzen, da man nicht bald fünfmal am Tag durch die Schreie eines Muezzins aus dem Bett geschüttelt werden wolle, zumal es hier, im christlichen Abendland, darauf auch gar kein Anrecht gebe. Die Lokalzeitung hatte Herrn G.s erstaunliche Erklärung gerade noch rechtzeitig vor Redaktionsschluss erreicht. Der letzte verbliebene Mitarbeiter im spärlich beleuchteten Regio-Newsdesk erkannte sofort deren Brisanz – obwohl er selbst aufgrund mehrerer Unpässlichkeiten in der Belegschaft erst seit wenigen Tagen und auch nur vertretungsweise in der Stadt Z. seinem Handwerk nachging –, formulierte geschwind eine Nachricht daraus und tauschte sie gegen eine andere, unwichtigere aus.
Die Nachricht wurde sofort zum Gesprächsthema in der Stadt. Die Fraktion der internationalen Linken beantragte eine Aussprache im Rat, da man die Debatte über ein so sensibles Thema nicht den Nationalen überlassen dürfe, so der Sprecher, der sich darüber hinaus wünschte, der Oberbürgermeister hätte in diesem Fall „etwas mehr Fingerspitzengefühl in der Informationspolitik“ bewiesen. Die Partei der Grünen reagierte, indem sie das große Plakat mit dem ersten Artikel des Grundgesetzes aus dem Keller holte und an das Gebäude gegenüber vom Rathaus hängte. Dutzende Aufkleber und Graffiti mit der Aufschrift „Religion ist scheisze“ tauchten quasi über Nacht im ganzen Stadtgebiet auf, konnten jedoch keiner politischen Gruppierung eindeutig zugeordnet werden. Der Sprecher der christlich-jüdischen Gesellschaft erklärte, dass der Bau einer Moschee für die Kleinstadt Z. nicht nur keine Bedrohung, sondern im Gegenteil sogar ausdrücklich zu begrüßen sei, ja sogar ein Zeichen der Toleranz und Friedlichkeit aussenden könnte, das den schlechten Ruf der grimmigen Stadt wieder geraderücken helfen könnte. Allerdings müsse darauf geachtet werden, dass dies nicht von islamistischen oder antisemitischen Kräften ausgenutzt werde.
Wolle man auch in Zukunft vertrauensvoll und im Sinne aller Bürger miteinander umgehen, müsse nun zunächst geklärt werden, wer was wann genau wusste.
An diversen Dönerläden und einem kurdischen Obst- und Gemüsehandel tauchten frische Hakenkreuzschmierereien auf. Islam ja, Islamismus nein, hieß es von Seiten der Christdemokraten, die zudem ihrem Entsetzen Ausdruck verliehen, dass sie als die größte Fraktion im Stadtrat nicht eher in die Pläne eingeweiht worden waren, ein Versagen der sozialdemokratischen Stadtspitze. Wolle man auch in Zukunft vertrauensvoll und im Sinne aller Bürger miteinander umgehen, müsse nun zunächst geklärt werden, wer was wann genau wusste.
Die Sozialdemokraten betonten die laizistische Natur des deutschen Staates und verurteilten die Erklärung der Christdemokraten als unwürdigen Versuch, das Grundrecht der Muslime von Z. auf freie Religionsausübung für eine Schmutzkampagne gegen die Stadtspitze zu missbrauchen, was nur im Zusammenhang mit den bald anstehenden Lokalwahlen stehen könne, bei denen derartiges Verhalten vom Wähler, der solch billige Manöver freilich leichtens durchschaue, sicherlich entsprechend goutiert werde.
Die Sprecherin des Oberbürgermeisters ließ nach zwei Tagen mitteilen, dass in der Baubehörde tatsächlich ein Bauantrag eines muslimischen Mitbürgers eingegangen, jedoch noch nicht bearbeitet worden sei und man aus Datenschutzgründen keine weiteren Angaben dazu machen könne. Von weiteren Anfragen sei außerdem abzusehen, so der Rat an die Medienvertreter, auch im Interesse des sozialen Friedens in der Stadt.
Derweil trafen auch die ersten Journalisten aus der Landes- und Bundeshauptstadt in Z. ein, um über den Streit der Befürworter und Gegner der Moschee zu berichten und der lokalen Bevölkerung mit Ratschlägen bezüglich der angemessenen politischen Haltung zu Hilfe zu kommen. Eine Befragung von Passanten in der kopfsteingepflasterten Fußgängerzone offenbarte diesbezüglich ein breites Spektrum an Meinungen, wobei letztlich eine knappe Mehrheit keine Einwände gegen einen Moscheeneubau geltend machte.
„Ich werde euch nämlich ein kleines Geheimnis verraten, und wer von sich weiß, sein Gewissen, das ist ein bisschen sensibel, er hat einen ganz leichten Schlaf oder so, der möchte doch bitte lieber jetzt mal weghören, oder besser noch: gehen.“
Die allgemeine Aufregung ging natürlich auch an der kleinen muslimischen Gemeinde von Z. nicht vorbei, und so kam es, dass zwei Wochen nach dem Wechsel des Rechtsanwalts G. zu den Deutschnationalen so viele Menschen zum Freitagsgebet erschienen, dass sich die Anwesenden zu langen Erörterungen darüber hinreißen ließen, ob dies nicht gar der Tag sei, an dem so viele Muslime wie nie zuvor in dem mit teuren Teppichen ausgelegten kleinen Gebetsraum drängten, den die Gemeinde in einer ehemaligen Kantine im Gewerbegebiet hinter dem Krankenhaus eingerichtet hatte. Das Staunen darüber, sowie das fröhliche Aufeinandertreffen zahlreicher Bekannter, die sich lange nicht gesehen hatten, ließen eine gewisse Festtagsstimmung aufkommen, in der die Frage nach dem mysteriösen Moscheeneubau für eine Weile ganz in den Hintergrund zu treten schien, zumal sich auch niemand die Blöße geben mochte zuzugeben, gar nichts Genaues darüber zu wissen und damit automatisch ein längeres Fortbleiben vom Gemeindeleben einzugestehen. Man erwartete allgemein, dass einer der drei Männer, die den Ältestenrat der Gemeinde bildeten und abwechselnd den Vorbeter gaben, nach dem Gebet das Wort ergreifen und für Aufklärung sorgen würden.
Doch nach dem Gebet verrann die Zeit beständig über Fragen der Ernährung und des Wohlbefindens und plötzlich war es spät und der Ältestenrat blieb allein auf der Bank im heizkörperlosen Flur der ehemaligen Kantine sitzen, zwischen Gebetsraum und Schuhregal, leicht fröstelnd, stark ratlos.
„Wer könnte hier eine Moschee bauen wollen? Ohne mit der muslimischen Gemeinde im Ort zu sprechen? Die Saudis, oder was? Das macht doch alles keinen Sinn, Brüder“, sagte Herr Yussuf K.
„Wir hätten einfach selbst die Initiative ergreifen sollen. Hätten wir uns mehr angestrengt, hätten wir vielleicht schon eine Moschee bauen können. Aber wir dachten, wir werden für immer die einzige muslimische Gemeinde hier sein. Nun haben wir den Salat“, sagt der ehrenwerte Herr Khaled A. und schüttelte ärgerlich mit den Perlen seines Rosenkranzes im Raum herum, „was glaubt ihr denn, wer noch zu uns kommt, wenn es einmal eine Moschee gibt, mit schönen Teppichen und Kandelabern?“
„Vielleicht hast du recht“, antwortete Yussuf K., „nun rächt sich unser Zögern. Wir dachten zuerst an uns, wollten der Gemeinde ein Häuschen zum Wohlfühlen erbauen, statt einen Tempel Gottes. Unsere erste große Investition sollte es sein. Wie egoistisch! Nun, da wir endlich das Land gepachtet, den Architekten beauftragt, den Bauantrag ins Rathaus getragen haben – nun kommt uns jemand zuvor, und baut die erste Moschee der Stadt.“
„Und die einzige“, ergänzte der stille Mehdi, „denn eine zweite Moschee wird in dieser Stadt bestimmt nie erlaubt werden. Gott ist groß.“
„Gott ist groß“, sagten auch die anderen, und ohne weitere Worte löschten sie das Licht, schlossen den Raum ab und liefen zu ihrem Auto.
Beim nächsten Montagsstammtisch der Deutschnationalen war die Stimmung so gut wie nie. Zwei potenzielle neue Mitglieder und etliche Interessenten standen um die Gruppe der Politiker herum, in deren Mittelpunkt G. strahlte wie die liebe Sonne nach einem Vulkanausbruch, bewundert für seine argumentatorischen Fähigkeiten und seinen Gestaltungsdrang: „Agieren statt Reagieren“, erklärte er den Nationalen, „das ist das Geheimrezept! Wenn man nämlich mal was macht und nicht immer nur labert und labert, bis alle die gleiche Meinung haben (nämlich gar keine Meinung), dann sieht man auch Ergebnisse. Da haut man auch mal daneben, aber wo gehobelt wird, fallen halt Späne. Deswegen ist es auch wichtig, dass wir hier zusammenhalten. Ich werde euch nämlich ein kleines Geheimnis verraten, und wer von sich weiß, sein Gewissen, das ist ein bisschen sensibel, er hat einen ganz leichten Schlaf oder so, der möchte doch bitte lieber jetzt mal weghören, oder besser noch: gehen.“
In beiden Kulturen, so stellte man fest, bedeutete Bakschisch dasselbe.
Der Rechtsanwalt stützte sich mit beiden Armen auf den Tisch und schaute in die Runde wie ein Fischer ins leere Netz. Niemand ging, so setzte er seine Rede fort: „Es gibt gar keinen Plan, hier in der Stadt eine Moschee zu bauen. Das habe ich mir ausgedacht und als Gerücht im Internet und der Presse gestreut!“ Unter viel Johlen und Klatschen und Prusten erklärte Herr G. dann, was die Anwesenden schon verstanden hatten: dass nämlich die Befürworter der Moschee unter mindestens fünf Parteien wählen könnten, es für alle Gegner jedoch nur eine Alternative gebe: „Uns, die Deutschnationalen!“ Und ob es die Moschee nun gab oder nicht, ist doch letztlich gar nicht wichtig, Hauptsache, man weiß, wofür man steht.
Zwar hätten einzelne ältere Parteimitglieder an jenem Abend tatsächlich Bedenken anzumelden gehabt angesichts der postfaktischen Agitation des neuen Fraktionsmitgliedes, auch bezüglich seiner Missachtung der althergebrachten Hackordnung am hiesigen Stammtisch. In Erinnerung des unschönen Abgangs des kontroversen Frieder F. und zugunsten der allgemeinen guten Stimmung, stimmte der Stammtisch jedoch einstimmig dafür, schon am kommenden Montag eine Anti-Moschee-Demonstration zu organisieren.
Die Demo wurde fortan jeden Montag wiederholt und zog von Woche zu Woche mehr Teilnehmer und bald auch eine Gegendemonstration an, bei der die Moschee-Befürworter für den der Öffentlichkeit immer noch unbekannten zukünftigen Moscheebauer Geld und Unterschriften sammelten. Das erzürnte und beschämte jedoch den Ältestenrat der muslimischen Gemeinde der Stadt Z., der sich in den vielen Jahren seines ehrenamtlichen Engagements über eine solche Sammelaktion der hiesigen Bevölkerung zu seinen Gunsten noch nie erfreuen durfte. Der Rat der Muslime von Z. setzte nun alle Hebel in Bewegung, entdeckte längst verschollen geglaubte Kräfte der Rhetorik und subtilen Subversion wieder, und erfuhr nicht nur von einem Mitglied der Deutschnationalen, dem es im Schatten des Herrn G. zu frostig geworden war, von dessen dreister Lüge, sondern schaffte es sogar, den Bauantrag für das geplante Gemeindezentrum um zwei Minarette und eine Kuppel zu ergänzen. In beiden Kulturen, so stellte man fest, bedeutete Bakschisch dasselbe. Die Medien und die Deutschnationalen bekamen davon erst Monate später etwas mit, als die markanten muslimischen Fertigteiltürme bereits in den Himmel des Gewerbegebietes hinterm Krankenhaus wuchsen.
Man hätte nun erwarten können, dass der Rechtsanwalt G. durch diese unvorhergesehene Entwicklung in Ungnade fiel, denn ob das Gerücht wahr war oder nicht, in einem waren sich die Deutschnationalen immer einig, eine Moschee sollte es in Z. nie geben. Tatsächlich wurde Herr G. auch nie wieder beim Montagsstammtisch gesehen. Die Führungsspitze seiner Partei berief ihn nämlich in die Hauptstadt, um ihn dort mit größeren Aufgaben zu befassen. Die Strategen hatten erkannt, dass es gar nicht der Ausgang von G.s Experiment war, der für den Erfolg zählte, sondern dass man derjenige war, der das Experiment durchführte.
„So ist es”, dachte sich der stille Mehdi, als er stolz auf die neue Moschee zu Z. blickte, die erste in der Stadt und die erste gar im Umkreis von mehr als 70 Kilometern, „des einen Unglück ist oft das Glück eines anderen“.
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.