Wie ein mutiger Komponist vor hundert Jahren die Musik neu erfand – und damit deinen Geschmack von heute prägt

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Leben und Lieben

Wie ein mutiger Komponist vor hundert Jahren die Musik neu erfand – und damit deinen Geschmack von heute prägt

Über den Versuch, die westliche Musiktradition zu überwinden, warum daraus Elektro geworden ist, ob ein Hanauer Heavy Metal erfunden hat, und wie sich die Persiflage auf ein Klavierkonzert anhört.

Profilbild von Gabriel Yoran

Zu Beginn des letzten Jahrhunderts geschah in der klassischen Musik etwas Bemerkenswertes, das viele Menschen gar nicht mitbekommen haben: der Tod, oder besser der vermeintliche Tod der Musik, wie wir sie kennen.

In der fünften Folge haben wir uns mit „klassischer“ Musik beschäftigt, die heute komponiert wird. Dabei ging es vor allem um mehr oder weniger radikale Neuinterpretationen sehr viel älterer Musik, meist aus dem Barock. Es ging um Brücken schlagen von heute 250 Jahre in die Vergangenheit.

Diesmal geht es um die jüngere Vergangenheit in der klassischen Musik, nämlich um das 20. Jahrhundert. Natürlich lassen sich in einem kurzen Artikel nicht 100 Jahre Musikgeschichte, nicht mal 100 Jahre westliche Musikgeschichte, und auch nicht 100 Jahre westliche Musikgeschichte für klassisches Sinfonieorchester zusammenfassen. Darum geht es mir auch gar nicht.


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Ich will euch anhand einer ziemlich willkürlichen, aber diversen Auswahl zeigen, welche unglaublich unterschiedliche Musik in der klassischen Tradition das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat – und wie ein Wiener Komponist bereits in den 1920ern ungewollt dem Electro den Weg geebnet hat.

Viele in der westeuropäischen Klassikszene glaubten in den 1920ern, dass die Musik, die darauf basiert, dass einige Töne wichtiger sind als andere, am Ende ist. In dieser sogenannten tonalen Musik weiß man immer ungefähr, wie es weitergeht, oder zumindest, dass es an dieser oder jener Stelle noch nicht vorbei sein kann. Musik, bei der man sagen kann, ja, das ist harmonisch. Und wenn es mal unharmonisch ist, weiß man zumindest, okay, das kann ich kurz aushalten, das wird sich eh gleich schön harmonisch auflösen.

Die Zwölftonmusik stellt alles infrage, was wir unter Musik verstehen

Der in Österreich geborene Komponist Arnold Schönberg wollte diese jahrhundertealte Tradition überwinden, diese Tradition, die unsere Hörgewohnheiten so sehr geprägt hat, dass man alles davon Abweichende erstmal furchtbar findet. Jahrelang experimentierte er mit Musik, die diese ehernen Regeln verletzt, ein früher Versuch war sein zweites Streichquartett von 1908:

Arnold Schönberg: Streichquartett Nr. 2 (1908)

https://youtu.be/Pj1jnvkgSCM?t=18

Es sieht noch aus wie ein normales Streichquartett (also zwei Geigen, eine Bratsche und ein Cello), und irgendwie kommt einem das auch noch bekannt vor, aber andererseits auch nicht.

Schönberg wollte aber nicht die bestehende Tradition verlassen, um die Tür zu einer Welt aufzustoßen, in der alles erlaubt ist. Er wollte dieser neuen Musik ein neues Regelwerk geben, die Zwölftontechnik. Sehr grob gesagt, müssen in der Zwölftonmusik alle zwölf Töne einer Tonleiter gleich oft vorkommen. Keine Note darf bevorzugt werden, es darf kein Zentrum geben, um das alles kreist, auf das harmonisch alles zuläuft, wie wir es seit Jahrhunderten kennen.

Diese Idee war nichts weniger als eine Revolution, denn die Zwölftontechnik stellt alles infrage, was wir musikalisch kennen und lieben. Die erste Komposition, die sich diesem Regelwerk unterwirft, ist vermutlich Schönbergs Serenade op. 24, die er zwischen 1920 und 1923 komponiert hat. Vorsicht, das wird jetzt schwierig, aber versucht euch mal darauf einzulassen – ihr hört jetzt eine Musik ohne Zentrum:

Arnold Schönberg: Serenade op. 24 (1920-1923)

https://www.youtube.com/watch?v=2k_ZPqpCs90

Das klingt für die meisten Ohren schon sehr ungewöhnlich. Und daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Die Zwölftonmusik hat glühende Fans und empörte Gegner, aber dieser Kampf spielt sich praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit ab – nur ein sehr kleines Publikum geht in Konzerte dieser sogenannten Neuen Musik, die zwar weit mehr als die Zwölftonmusik umspannt, aber generell weit entfernt ist von den verbreiteten Hörgewohnheiten. Von der Neuen Musik sind die meisten Leute, die Klassik oder Pop hören, etwa gleich weit weg.

Ist die Zwölftonmusik also nur eine Fingerübung überspannter Akademiker? Nicht ganz. Sie hat nämlich erstaunliche Entwicklungen in der Musik angestoßen: die serielle Musik, die Minimal Music und nicht zuletzt die elektronische Musik. Wer die Traditionen komplett überwinden will, der muss perverserweise auch den Menschen überwinden mit seinen beschränkten Möglichkeiten, Musik zu machen. Die Vision des Komponisten soll nicht mehr durch die Möglichkeiten von Interpreten und Instrumenten eingeschränkt sein. Dass man dann die musikalische Idee gleich vom Computer synthetisieren lässt, liegt da fast auf der Hand.

Stimmen aus dem Synthesizer als spätes Echo Schönbergs

Schönbergs treuherziger Wunsch, man möge seine Melodien „kennen und nachpfeifen“, blieb verständlicherweise unerfüllt. Und heute glaubt man auch zu wissen, warum – angeblich ist die Zwölftonmusik einfach mit den meisten Hirnen inkompatibel. Aber die Idee, Musik zu machen, die nicht mehr von Menschen auf traditionellen Instrumenten gespielt werden muss, war in der Welt – und die heutige Produzentenpopmusik ist ohne von der Technik getunten Stimmen der nach Aussehen gecasteten Bands undenkbar: Stimmen aus dem Synthesizer als spätes Echo Schönbergs.

So wurden Komponisten in den verschiedensten musikalischen Gattungen von der Zwölftonmusik beeinflusst, auch wenn uns freundlicherweise das Ende der tonalen Musik erspart geblieben ist. Statt in einem Regelwerk zur Gleichbehandlung von Tönen suchten die meisten Komponistinnen und Komponisten das Neue anderswo.

Da wäre zum Beispiel Paul Hindemith. Er hat 1922 Metal erfunden. Also vermutlich nicht, aber zumindest klingt der 4. Satz seiner Bratschensonate so. Hindemith kommt aus dem beschaulichen hessischen Hanau, aber das hinderte ihn nicht daran, das Publikum ordentlich vor den Kopf zu stoßen. Die Bezeichnung des Satzes, den wir gleich hören lautet „Rasendes Zeitmaß. Tonschönheit ist Nebensache“. Wenn ihr das hört, denkt daran: Dieses Stück ist fast hundert Jahre alt.

Hindemith: Bratschensonate – 4. Satz (1922)

https://youtu.be/NyuMgOefl7I?t=21

Ich denke beim Hören der Musik des 20. Jahrhunderts oft: Wow, so früh war das! So ging es mir, als ich den Hindemith erstmals gehört habe, und so ging es mir bei dem folgenden Stück des Kanadiers Colin McPhee:

Colin McPhee: Tabuh-Tabuhan (1936)

https://www.youtube.com/watch?v=P-91jyAs5no

Minimal Music, also Musik, in der nur kleine Dinge passieren, diese aber wieder und wieder und über einen langen Zeitraum, wird heute oft mit Philip Glass in Verbindung gebracht. Aber als McPhee „Tabuh-Tabuhan“ geschrieben hat, war Glass nicht mal geboren.

McPhee hat lange auf Bali gelebt und verheimlicht nicht die Quellen seiner Inspiration. Ohne den Einfluss indonesischer, indischer und afrikanischer Musik wäre Minimal Music, wie wir sie heute kennen, kaum denkbar.

Julius Eastman: 1990 obdachlos und vereinsamt gestorben, 2018 in Berlin gefeiert

Und anstatt hier wieder nur Philipp Glass abzufeiern (oder sanft zu verspotten), möchte ich eure Aufmerksamkeit auf den zu Unrecht nicht so bekannten Amerikaner Julius Eastman lenken. Eastman war Afroamerikaner und schwul, lebte in den 1980ern auf der Straße und starb 1990 vereinsamt und völlig unbemerkt von der Musikszene an einem Kreislaufstillstand. Da hatte er schon seit Jahren getrunken und zu viele andere Drogen genommen. Er hätte es verdient, für seinen dramatischen Minimalismus noch zu Lebzeiten den Ruhm zu erhalten, der ihm jetzt endlich zuteil wird. Beim Eröffnungskonzert des renommierten Berliner MaerzMusik-Festivals wurde 2018 ausschließlich Eastman gespielt.

Julius Eastman: Gay Guerilla (1979)

https://www.youtube.com/watch?v=BOhynJVU4LM

Im 20. Jahrhundert erleben wir die Spätausläufer der Romantik (wir erinnern uns: das ist in der Musik die Epoche, die etwa das 19. Jahrhundert umspannt) und radikale Erneuerer wie Schönberg praktisch gleichzeitig. Man muss sich nur vor Augen halten, dass das Schönberg-Streichquartett, das wir eben als erstes gehört haben, ein Jahr vor dem folgenden Stück hier uraufgeführt wurde – die Unterschiede könnten kaum größer sein:

Sergei Rachmaninow: 3. Klavierkonzert – 3. Satz (1909)

https://www.youtube.com/watch?v=MOOfoW5_2iE&t=1647

Das ist das Ende einer der Top-Edelschmonzetten des Repertoires, Sergei Rachmaninows drittes Klavierkonzert. Bei Schönberg erleben wir den kühnen Versuch, aus den tonalen Traditionen auszubrechen, während fast gleichzeitig Rachmaninow einen hemmungslosen, fast eine dreiviertel Stunde andauernden tonalen Gefühlsausbruch abfeiert, der einem heute noch die Tränen der Rührung in die Augen treibt.

Wir wären aber nicht im postmodernen 20. Jahrhundert, wenn nicht alles ironisch gebrochen würde. Denn auch mit Zitat und Ironie lässt sich Neues schaffen. So wie in der postmodernen Architektur mittelalterliche Giebel und Türmchen in knallbunten Farben wiederkehren, ist es auch in der Musik. Und so komponierte 60 Jahre nach Rachmaninow der Finne Einojuhani Rautavaara sein erstes Klavierkonzert – und das klingt zumindest in meinen Ohren wie eine wüste Parodie auf den eben gehörten typischen Rachmaninow-Sound:

Einojuhani Rautavaara: 1. Klavierkonzert (1969)

https://www.youtube.com/watch?v=JFIGoB7rK70&t=1

Rautavaara schreibt einige Akkorde, die der Pianist hier mit der rechten Hand anschlägt, gar nicht mehr als einzelne Noten auf, sondern als sogenannte Cluster, also als einen ganzen Haufen eng zusammenliegender Noten: Hau einfach rein!

Im 20. Jahrhundert passieren also die musikalisch unterschiedlichsten Dinge gleichzeitig. Dafür ein letztes Beispiel: Gloria Coates ist eine in München lebende Amerikanerin, die ihre 7. Sinfonie denen gewidmet hat, „die die Mauer friedlich zu Fall brachten“. Ihre Musik wird manchmal „semitonal“ genannt, weil es bei ihr oft um die Töne zwischen den Tönen geht. Die kontinuierliche Veränderung der Tonhöhe nennt man Glissando. Und Coates ist eine Meisterin dieser Technik:

Gloria Coates: Symphony No. 7 „Dedicated to those who brought down the Wall in peace“ (1989/90)

https://www.youtube.com/watch?v=SdMWBeJF-8I

Im 21. Jahrhundert ist wirklich alles erlaubt

Und was ist heute? Wenn das 20. Jahrhundert eine Explosion der Stile und Schulen war, bei der alles scheinbar sauber Getrennte, die „Ernste“ und die Unterhaltungsmusik, untrennbar miteinander vermischt wurden, stehen wir heute staunend im Konfettiregen. Das 21. Jahrhundert startet mit eklektischer Musik, die sich nicht mehr in Schubladen stecken lässt. Jetzt ist wirklich alles erlaubt.

Die britisch-bulgarische Komponistin Dobrinka Tabakova zum Beispiel verkörpert diese Entwicklung. Ihre Komposition „Insight“ für Streichtrio von 2002 könnt ihr gleich hören. Auch sie steht in einer Tradition, nicht zuletzt die Besetzung ist klassisch: Geige, Bratsche, Cello. Und was Tabakova daraus macht, ist zwar eindeutig tonal, aber dennoch neu:

Dobrinka Tabakova: Insight (2002)

https://www.youtube.com/watch?v=ULv6kp50nrc

Zum Schluss noch einmal typisch postmoderne, frühere Zeiten zitierende und verfremdende Musik: Die Stücke des dänischen Komponisten Bent Sørensen klingen so, als wehten Fetzen des 19. Jahrhunderts herüber. Wie Gloria Coates interessiert sich Sørensen für die Töne zwischen den Tönen, die sogenannten Mikrointervalle:

Bent Sørensen: Papillons (2004)

https://www.youtube.com/watch?v=YGw29Eg2otc

Die Komponistinnen und Komponisten von heute sind also immer noch auf der Suche nach dem Neuen, aber sie suchen es nicht mehr in strengen Kompositionsregeln, sondern – im wahrsten Sinne des Wortes – in den Zwischentönen.


Mehr Musik: Meine Playlist Hört euch auch das mal an (Vol.2) mit 100 weiteren teils nicht so bekannten Stücken aus Klassik und Umgebung (vieles davon aus dem 20. Jahrhundert). Und hier gibts Vol. 1. Beide benötigen ein Spotify-Konto.

Mit Dank an Christoph Küstner und Holger Schulze.

Redaktion: Theresa Bäuerlein und Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.