Ich bin nicht schlauer als ein Affe. Ich sage es ungern, es ist keine schmeichelhafte Einsicht. Ich bin sogar in vielem dümmer als ein Affe.
Aber das ist noch nicht alles: Ich sehe die Welt nicht, wie sie ist. Und das, so wage ich zu sagen, geht nicht nur mir so – sondern wahrscheinlich auch dir.
Um diesen Satz zu erklären, muss ich kurz ausholen: Es war ein ganz gewöhnlicher Wochentag, der 20. November 2018. In Berlin regnete es, alles war grau, und ich las auf sämtlichen Nachrichtenseiten und gleich mehreren Status-Updates meiner Facebook-Freunde folgende Meldung: Toter Wal gefunden, mit fast sechs Kilo Plastik im Bauch. Ein Teil dieser sechs Kilo, so informierte mich die Meldung: fünf Plastiktüten, ein Nylonsack, 115 Plastikbecher, zwei Flip-Flops.
Ich schüttelte ungläubig den Kopf, während ich die Meldung las. Sechs Kilo Plastik. Wie waren die da reingekommen, in den Walbauch? Wie konnte das sein? In was für einer Welt lebe ich eigentlich mittlerweile, fragte ich mich frustriert, wenn sechs Kilo Plastikmüll in einem Walbauch enden – Müll von Menschen (von wem auch sonst)?
Die Welt wird immer schlechter – oder nicht?
Die Meldung fiel zusammen mit einer anderen Nachricht, die an diesem Tag die Runde machte und die meine Stimmung noch mehr drückte: Jede vierte Frau wird mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt – durch den eigenen Partner. In 82 Prozent der Partnerschaftsgewalt sind die Opfer weiblich. Das eigene Zuhause ist die größte Gefahrenzone. Das ergibt sich aus der aktuellen Polizeilichen Kriminalstatistik, wie das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend meldete.
Ich scrollte weiter, ich hatte schon nach dem Vorspann dieser Meldung genug. Die weiteren Nachrichten an diesem 20. November 2018, in willkürlicher Auswahl:
- EU beschließt 17 Rüstungsprojekte
- Haushalt 2019: Angst vor dem Abschwung
- UN-Migrationspakt: Auch Israel und Polen sagen Nein
- Fall Kashoggi: Trump hält zu Saudi-Arabien
- Prozess in Istanbul: Demirci bleibt im Gefängnis
Am Ende dieses Nachrichtentages war ich mir sicher: Die Welt, in der ich lebe, ist schlecht. Sehr schlecht. Und es wird alles nur noch schlimmer. Was hätte ich auch sonst denken sollen, bei dieser Nachrichtenlage? Die Schlussfolgerung schien mir so logisch und unausweichlich wie meine schlechte Laune nach dem Lesen der genannten Meldungen. Die Fakten lagen doch klar auf der Hand.
Oder?
Ein, zwei Wochen später drückte mir mein Kollege Sebastian ein Buch in die Hand, „Factfulness“ von Hans Rosling. Hatte ich noch nie gehört, den Namen. Meine Laune war immer noch mies, das Wetter immer noch grau, die Welt immer noch schlecht. Auch wenn Sebastian angetan schien von dem Buch, und es auf Amazon von einem Kunden als „das wichtigste Buch unserer Zeit“ bewertet wurde – was konnte es schon ändern am Zustand unserer Welt?
Wieso ich in der Theorie nicht schlauer bin als ein Affe
An diesem Punkt kommt jetzt der anfangs erwähnte Affe ins Spiel. Denn Hans Rosling, Professor für Internationale Gesundheit am Karolinska Institut in Stockholm, Entwicklungshelfer und Gründungsmitglied von Ärzte ohne Grenzen, war bis zu seinem Tod im Februar 2017 der Auffassung gewesen: Die Welt ist viel besser, als die meisten von uns denken. Nur wissen wir es nicht. Dabei gibt es Fakten, die diesen Sachverhalt eindeutig belegen.
Um beides, unser Nichtwissen und den Zustand der Welt, zu illustrieren, führte Rosling ein Experiment durch: Er stellte 12.000 Menschen – von Medizinstudenten über Investmentbankern bis hin zu politischen Entscheidungsträgern – in 14 Ländern Fragen zu den Themen Armut und Bevölkerungswachstum, Gewalt, Bildung und Umwelt. Also Fragen, die sich wissenschaftlich sauber beantworten lassen durch Zahlen und Statistiken. Zum Beispiel: Wie hat sich die Zahl der Todesfälle pro Jahr durch Naturkatastrophen über die letzten 100 Jahre entwickelt? Oder: Nach einer Prognose der UN wird die Weltbevölkerung bis 2100 um weitere 4 Milliarden Menschen gewachsen sein – was ist die Hauptursache dafür? Zu jeder seiner 13 Fragen bot Rosling drei Antwortmöglichkeiten an, jeweils eine Antwort war richtig.
Man würde annehmen, dass all die hoch gebildeten Menschen und Experten auf ihrem jeweiligen Gebiet, die Rosling befragte, die richtige Antwort wählen würden. Doch im Schnitt beantworteten seine Probanden nur zwei von zwölf Fragen richtig. Die 13. Frage zum Thema Klimawandel beantworten 86 Prozent der Befragten korrekt, immerhin (mein persönlicher Wert liegt bei drei richtigen Antworten. Drei von 12! Hier kannst Du den Test in der neusten Version selbst machen).
Bei allen anderen Fragen aber entschieden sich die Befragten in ihrer Antwort für ein weitaus schlimmeres Szenario, als unsere Welt tatsächlich hergibt, „einige der schlechtesten Ergebnisse überhaupt kamen von einer Gruppe von Nobelpreisträgern“, musste Rosling feststellen.
Wir alle leben unter einem Schleier der Unwissenheit
Er führte sein Experiment gedanklich weiter. Und stellte sich vor, er würde seinen Fragenkatalog mit in ein Affengehege nehmen, dort laut vorlesen, jeweils drei Antworten präsentieren und die Affen per Bananenwurf entscheiden lassen, welche Antwort jeweils die richtige wäre. Also nach dem Zufallsprinzip, völlig willkürlich. Er errechnete, dass die Affen in einem solchen Fall zu 33 Prozent auf jede Frage die richtige Antwort „wählen“ würden, und damit vier von zwölf Fragen korrekt beantworten würden. Vier von zwölf für die Affen – zwei von zwölf für die Menschen.
Rosling überlegte weiter: Er hatte Eliten mit seinen 13 Fragen konfrontiert – wenn aber schon die am besten Gebildeten unter uns sich mit ihrem Blick auf die Welt täuschen, wie müsste es dann erst dem Rest der Menschheit gehen? Rosling folgerte aus seinem Fragespiel: Wir alle sehen die Welt durch einen Schleier massiver Unwissenheit. Wir leben in der Annahme, alles würde sich zum Schlechten entwickeln, immerzu – dabei wird unsere Welt besser. Jeden Tag.
Drei kurze Beispiele gefällig?
- 1950 betrug der Anteil von Kindern zwischen 5 bis 14 Jahren, die unter schlechten Bedingungen Vollzeit arbeiteten, weltweit 28 Prozent – 2012 waren es nur noch zehn Prozent, Tendenz sinkend.
- 1900 betrug der Anteil der Erdoberfläche, die als Nationalpark oder Naturschutzgebiet ausgewiesen war, 0,03 Prozent – 2016 waren es 14,7 Prozent, Tendenz steigend.
- 1816 lebten rund ein Prozent aller Menschen in einer Demokratie – 2015 waren es mehr als die Hälfte. 56 Prozent, die in einer Demokratie leben und damit Minderheitenschutz, persönliche Freiheit und Menschenrechte genießen.
Und es gibt noch mehr positive Entwicklungen: In den letzten 20 Jahren hat sich die extreme Armut weltweit halbiert, mehr Mädchen als jemals zuvor bekommen eine Schulbildung, zu keinem anderen Zeitpunkt gab es weniger Kriegstote, die Kindersterblichkeit liegt auf einem Level, das noch nie so niedrig war wie heute. All das sind Fakten – bloß sehen wir sie nicht. Oder hättest du all das gewusst?
Wieso nehmen wir unsere Umgebung so negativ wahr?
Natürlich verschwinden mit diesen Fakten nicht die sechs Kilo Plastik im Bauch des Wales. Und ja, er ist immer noch tot. Genauso, wie immer noch jeden Tag Frauen Opfer von Gewalttaten ihrer Partner werden. Auch diese Tatsache verschwindet leider nicht. Aber: Die positiven Entwicklungen sind genauso Teil unserer Umgebung wie die negativen.
Wie kommt es dann, dass wir so falsch, so negativ auf unsere Welt schauen?
Roslings Antwort: Weil wir in eingefahrenen, überdramatisierten Mustern denken; in „falschen Instinkten“, wie Rosling es nennt. Einige dieser zehn Instinkte, die er definierte, sind zum Beispiel der Instinkt der Negativität, der Instinkt der Angst oder der Instinkt der Verallgemeinerung.
Rosling ist mit dieser Ansicht nicht allein. Der große amerikanische Philosoph und Schriftsteller David Foster Wallace sagte in seiner Rede „This Is Water“, die er 2005 vor dem Abschlussjahrgang des Kenyon Colleges hielt:
„Ich glaube, das geisteswissenschaftliche Mantra, ‚Das Denken zu lernen‘, läuft im Grunde darauf hinaus, dass ich ein bisschen Arroganz ablege, ein bisschen ‚kritisches Bewusstsein‘ für mich und meine Gewissheiten entwickle … denn das Zeug, dessen ich mir automatisch sicher bin, erweist sich großenteils als total falsch und irreführend.“
Wenn zwei Fische durchs Wasser schwimmen
Es ging Wallace in seiner Rede darum, wie sich freies Denken definiert und wie man es erlernen kann. Er hielt diese Fähigkeit für überlebenswichtig. Wie wir uns von unseren ureigenen Vorurteilen und Denkmustern lösen können, um einen anderen Blick auf die Welt zu bekommen, der nicht weniger realistisch ist – genau darum ging es auch Hans Rosling. Denn wer die Welt verstehen will, so wie sie ist und nicht nur zu sein scheint, der muss sie erst einmal richtig sehen.
Dass wir genau das oftmals eben nicht schaffen, illustrierte Wallace zu Beginn seiner Rede in einer kleinen Geschichte:
Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig auf einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: ‚Morgen Jungs. Wie ist das Wasser?‘ Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: „Was zum Teufel ist Wasser?“
Die Anekdote will verdeutlichen, dass wir oft nicht einmal das Naheliegendste wahrnehmen. Weil unser Blick verstellt ist. Wie wir die Welt wahrnehmen, dabei spielen auch Geschichten eine maßgebliche Rolle – und damit auch Journalismus, der Fakten und Geschichten recherchiert und damit Geschehnisse erklärt, erläutert, einordnet. Wie eine Kollegin von mir es letztens ausdrückte: „Der Mensch denkt in Geschichten, sie sind unbedingt notwendig, um die Welt zu ordnen.“
Meistens aber wird im Journalismus, das muss ich als Reporterin einmal selbstkritisch anmerken, die negative Nachricht erzählt – die dann wiederum Einfluss auf unser Weltbild nimmt. Weil Journalisten daran gelegen ist, Ungerechtigkeiten aufzudecken. Aber auch, weil der unerwartete Skandal, das menschliche Drama, ein plötzlicher Tod oder eine Ungerechtigkeit viel mehr Aufmerksamkeit ziehen als positive Nachrichten. Dabei gehören eben diese, siehe oben, genauso zu unserer Gegenwart wie all die Missstände, die Journalisten bemüht sind, aufzudecken.
Weg mit alten Vorurteilen und falschen Denkmustern!
„Die Welt lässt sich ohne Zahlen nicht verstehen“, schrieb Rosling in seinem Buch. „Sie lässt sich aber auch nicht mit Zahlen allein verstehen.“
Deswegen starten wir mit diesem Text eine mehrteilige Serie, inspiriert von Hans Roslings Buch. Denn auch wir glauben: Die Welt ist nicht so schlecht, wie es auf den ersten Blick scheint. Meine Serie soll ein Plädoyer sein gegen jene Vorurteile und falsche Annahmen, die wir alle in uns tragen und die einem realistischeren Blick auf die Welt im Wege stehen – und sie soll ein Plädoyer sein für mehr Zuversicht.
In mehreren Folgen und jeweils einem Newsletter dazu will ich euch zeigen, wie wir alle in falschen Zusammenhängen denken, und dass es tatsächlich stimmt: Du siehst die Welt nicht in ihrer ganzen Breite. Und zu wenig von all den positiven Entwicklungen, die sich parallel ereignen. Nach dem Lesen meiner Serie wirst du einen realistischeren Blick auf deine eigenen Denkmuster und unsere Welt haben. Mit weniger Hysterie, weniger Pessimismus – und mehr Wissen.
Ab jetzt kannst du in den nächsten Wochen über Newsletter und Social Media dabei sein, wenn ich an meiner neuen Serie bastle. Du kannst mich bei meinen Rechercheschritten begleiten, sehen, wo das Projekt gerade steht. Alles, was du dafür tun musst: meinen Newsletter abonnieren.
Und noch eine positive Nachricht zum Schluss: dass wir die Welt verzerrt wahrnehmen, muss nicht so bleiben. Ebenso wenig wie der Satz „Ich bin dümmer als ein Affe.“ In der Zukunft kann sich beides ändern – wie auch unsere Welt sich ändern kann, zum Positiven, jeden Tag.
Wenn das kein Anfang ist!
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Illustration: Peter Gericke; Bildredaktion: Martin Gommel; Schlussredaktion: Vera Fröhlich