Was wir vom Erfinder der Loveparade über Politik lernen können

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Leben und Lieben

Interview: Was wir vom Erfinder der Loveparade über Politik lernen können

Ich habe mit Dr. Motte, dem Erfinder der Loveparade, gesprochen. Wenn du – wie ich – dachtest, bei der Loveparade sei es nur um Techno, Sex und Drogen gegangen, dann lass dich eines Schöneren belehren. Die Loveparade war auf ihre Art die erste politische Bewegung des 21. Jahrhunderts, obwohl sie 1989 entstand.

Profilbild von Interview von Christian Gesellmann

Die Forderung: Friede, Freude, Eierkuchen. Die Begleitmusik: wumms und laut. Die Outfits: nachttrunken. Als am 1. Juli 1989 etwa 100 Menschen merkwürdig stampfend über den Ku’damm zogen, sah es zunächst aus wie eine der gewöhnlich ungewöhnlichen Berliner Demos für irgendwas.

Doch es war die Geburt der Loveparade. Ein paar Jahre später tanzen Millionen Menschen auf der ganzen Welt zum Sound elektronischer Musik und zu Botschaften wie „Let The Sunshine In Your Heart“ oder „One World One Future“ und revolutionieren ganz nebenbei den Begriff des Politischen.

Laut dem amerikanischen Anthropologen John Borneman, der zufällig bei der ersten Loveparade 1989 mit dabei war, könnte man sagen: Dr. Motte ist eigentlich der erste postmoderne Politiker. Weil eine derartige Massenbewegung, die nichts will, außer sie selbst sein zu dürfen, das gab es nie zuvor.

Dankeschön.

Damit kannst du dich anfreunden?

Nee. Und ja. Was ich wollte war: Politik machen durch Nicht-Politik machen.

Warum?

Ich bin schwer enttäuscht, wenn ich sehe, was heute eigentlich alles Politik genannt wird. Politik sollte ja wenigstens die Interessen der Bürger an die Wirtschaft vermitteln. Aber in Deutschland ist es genau umgekehrt. Und mitreden können wir zwar, aber mit entscheiden können wir nicht. Mit unserem Kreuz in der Wahlkabine geben wir am Ende unsere Verantwortung ab. Und das ist das Problem. Also, wie schaffen wir jetzt hier wieder einen Gemeinsinn? Dass wir miteinander diskutieren, bis wir eine Lösung haben, ein gemeinsames Ideal? Da war mein Gedanke: Lass uns doch irgendwo einen Raum oder Ort finden, wo wir uns miteinander identifizieren können, ohne Worte finden zu müssen. Und das haben wir mit der Loveparade ja vielleicht geschafft. Da gab es nur ein Gesetz: Es gibt keinen Ausschluss außer den Ausschluss. Alle sind willkommen.

Das mit dem postmodernen Politiker bezieht sich ja darauf, dass die Loveparade die erste Bewegung ihrer Art war, die sich so gar nicht verorten ließ anhand existierender Definitionen politischer Identifikation. Es ging weder um Milieu, Klasse, Religion, Freund-Feind. Warum war das trotzdem mehr als nur eine Party?

Ich hab meine erste Demonstration 1972 mitgemacht. Gegen den Vietnam-Krieg. Gebracht hat es nichts. Und wenn ich mir dann anschaue, was die Linken in den 70ern in Westberlin gemacht haben: Die haben sich ja immer nur darüber gestritten, was der richtige Weg ist, und das hat am Ende auch nichts gebracht.

Ich war damals auch im kommunistischen Jugendverband Deutschlands, der Jugendorganisation der KPD in West-Berlin, weil meine Brüder da aktiv waren. Da gab es wöchentliche Treffen in Spandau, da hat man gemeinsam die Mao-Bibel gelesen. Aber wir haben wenigstens irgendwas gemacht. Ich war der einzige an meiner Schule, der in irgendeiner Form politisch engagiert war. Am Ende war das alles die Motivation dafür, dass ich gesagt habe, mit der Loveparade demonstrieren wir nicht gegen irgendwas, sondern für etwas.

Anfang der 90er standen am Schlesischen Tor hier in Berlin Leute auf der Straße und haben Die Rote Fahne verkauft, das Zentralorgan der KPD. Ich hab die gefragt: Wofür seid ihr denn? Ja, wir sind gegen dies, gegen das, gegen jenes. Ich sage: Das wollte ich gar nicht wissen. Ich wollte wissen, WOFÜR ihr seid. Da wussten die gar nicht mit umzugehen.

Die Siegessäule während der Loveparade 1999 in Berlin

Die Siegessäule während der Loveparade 1999 in Berlin © Wikipedia / Lighttracer

Ich bin der Meinung: Das Schlechte kann man nicht bekämpfen. Aber man kann das Gute vermehren. Und das ist der eigentliche Kampf. Und deshalb habe ich die Loveparade 1989 für Friede, für Freude und für Eierkuchen angemeldet. Also für Abrüstung, für Musik als Mittel der Verständigung und für gerechte Nahrungsmittelverteilung.

Den Status, eine vom Grundgesetz geschützte Versammlung zu sein, hat das Bundesverfassungsgericht der Loveparade im Jahr 2001 aber aberkannt. Laut den Karlsruher Richtern handelte es sich lediglich um eine „Musik- und Tanzveranstaltung”.

In einer Gesellschaft ist alles politisch, was im öffentlichen Raum passiert. Im Grundgesetz steht: Jeder kann sich unter freiem Himmel versammeln. Es sind nur die weiterführenden Gesetze, die das einschränken.

Statt der Bewegung der Masse stand bei der Loveparade das Individuum als Teil der Masse im Mittelpunkt. Wie bist du denn darauf gekommen, die Gesellschaft vom Einzelnen her zu denken?

Hans Cousto hat mir das mal erklärt, ein Mathematiker aus der Schweiz. Wenn sehr viele Menschen zusammenkommen, schaffen sie eine Energieerhöhung. Wenn ein Raum wie dieser hier mit 300 Leuten voll ist, wird es automatisch wärmer. Weil jeder schon mal 100 Watt Energie mitbringt, aber auch noch seine spirituelle, seine individuelle Aura, und das vermischt sich dann.

Und wenn man etwas hat, wo sich alle drunter stellen können, wie zum Beispiel elektronische Tanzmusik, dann nähern sich die unterschiedlichen Farben der Auren an. Und dann können mit den einzelnen Individuen Dinge geschehen, in der Masse, die nur deshalb passieren, weil die Masse da ist. Durch die Musik und durch die Energie, die da ist, können erleuchtungsähnliche Zustände passieren.

Aber das ist ja nicht neu. Sowas tun wir seit Menschengedenken: Wir tanzen zum Beat der Trommel. Die amerikanischen Naturvölker tanzen auf 160 BPM und verbinden sich im Tanz mit dem großen Geist. Und das ist gut so. Dafür, dass du mal alles abschütteln kannst, braucht es aber auch mal so ein bisschen Kontinuität. Deshalb geht das auch tagelang. Und deshalb ist es eigentlich ganz gut, dass wir jetzt die elektronische Trommel haben, die uns alle zum Tanzen bringt. Also tanzt alle!

Was ich nicht verstehe beim Techno: Man ist in einem Raum mit vielen Leuten …

Gleichgesinnten.

… aber das, was du beschreibst, wo man da hinkommt, die Ekstase oder „the zone”, wie Borneman das nennt, da ist man am Ende allein.

Bist du ja so oder so. Du kannst zwar Gleichgesinnte haben, die vielleicht die gleiche Musik mögen oder das Gleiche wollen, also diese Erfahrung vom Glück durchs Tanzen oder sich auspowern, oder – da hat jeder so sein eigenes Ding. Aber man kommt halt zusammen und wenn das Setting stimmt – das Licht, die Leute, der Sound, das Set, die Stimmung – und du fühlst dich gut, und alle fühlen sich gut, und alle sind motiviert: dann kann was passieren. Das kannste nicht in Worte fassen, das ist etwas wie Ekstase. Du bist zwar allein mit dir, für dich in dem Augenblick, aber es ist ja trotzdem die Gemeinschaft, die dazu beiträgt, dass diese Erhöhung des Geistes und der Emotionen stattfindet.

Ich hab das ein paarmal probiert, aber irgendwie ist mir das nie so richtig gelungen, glaube ich.

Du musst dich locker machen.

Aber ich komme da einfach nicht hin ohne Drogen. In diese Ekstase-Zone. Und irgendwie zählt es dann nicht für mich.

Soll ich dir was sagen?

Ja, bitte.

Kein Problem. Manche brauchen halt den Türöffner, und dann nimmt man halt ein bisschen Ecstasy oder Pilze oder Haschisch. Und dann gehts ab. Warum nicht? Wir haben ja Glück, dass wir in einer Zeit leben, wo es das alles gibt. Bloß brauchen wir dafür eine Drogenkultur, und die haben wir nicht. Die ganzen Ureinwohner haben eine Drogenkultur, weil sie wissen, in welchem Kontext sie das nehmen. Bei uns wird ja häufig ohne irgendwelche Kultur oder Rituale einfach reingeschmissen, des Reinschmeißens wegen. Und dann wird man auch mal schnell süchtig.

Ich denke: Wenn wir alle hier sind, um uns zu finden, um uns selbst zu erkennen und weiterzuentwickeln, auf spiritueller, mentaler, körperlicher, was auch immer Ebene, dann ist es der falsche Weg, sinnlos Drogen zu nehmen oder einfach alles vergessen zu wollen. Aber ich bin kein Mensch, der zum Drogen nehmen aufruft.

Ich wollte gar nicht über Sinn und Unsinn der Drogenkultur sprechen, aber …

Nee, aber das ist wichtig! Gerade für die Leute wie du jetzt, die sich nicht so locker machen und sagen können: Wow, wie geil ist der Beat, der Bass ist so geil, ich kann nicht anders, ich muss tanzen!

Die Bilder von der Loveparade waren für mich als Teenager schon eine unglaubliche Verlockung. Diese Leute, dachte ich, die machen einfach, was sie wollen. Die nehmen Drogen, die sind nackig, keine Ahnung, was die noch machen, aber das sah irgendwie richtig aus. Aber ich hab mich das nicht getraut. Es gab immer so viele Verbote um mich rum, als Ossi und Millennial bin ich da glaube ich ganz anders aufgewachsen als du.

Ja, ich weiß. Aber sehe es einfach so: Das ist das Problem von anderen Leuten. Nicht deins. Weil du hast das Recht, auch Nein sagen und Ja sagen zu dürfen. Frag dich doch mal selber: Was bedeutet Mensch sein?

Ja, aber genau darauf will ich hinaus: Ging es nicht damals, zur Zeit der Loveparade, gerade los, dass wir angefangen haben, auf diese Frage andere Antworten zu finden? Heute fragen wir eher, was heißt es für mich als Individuum, Mensch zu sein? Was sind meine Potenziale und Ziele? Früher waren die Fragen eher: Welche Rolle habe ich in der Gesellschaft, in der Familie, im Job?

Ja, ich weiß schon, Fünf-Jahres-Plan und so. Wir sind die Familie der Menschen auf diesem Planeten und wir wollen halt einfach einen Beitrag dazu leisten, positive Energie auf diesem zu etablieren. Das haben wir, glaube ich, ganz gut geschafft in den 90ern. Aus der ganzen Welt kamen Leute nach Berlin, um auch ein bisschen ihrer eigenen Kultur in die Loveparade mit einzubringen, um zu zeigen, wir sind viele, und wir finden es gut, dass das so ist. Wir haben eigentlich etabliert, dass wir gar nichts wollen. Wir wollten einfach zu dieser Musik tanzen und unseren Spaß haben.

Aber wie kann man denn nichts wollen wollen? Welche Voraussetzungen müssen denn vorliegen in einer Gesellschaft?

Das spielt doch alles keine Rolle. Man will halt feiern, sich selbst und mit allen zusammen. Weil das Leben doch eigentlich dafür da ist, dass man sich darüber freuen kann, dass man jetzt lebt, dass man als spirituelles Wesen diese menschliche Erfahrung machen kann. Da denken andere anders darüber. Ich kann halt nur sagen: Vergeude nicht deine Zeit hier mit irgend ’nem Quatsch. Denn am Ende gibt es keine Sicherheit. Dann leb doch jetzt diesen Augenblick so intensiv wie möglich. Und lass dich nicht abhalten von irgendwelchen anderen, die sagen, du darfst hier nicht so rumlaufen und blablabla. Das muss aufhören.

Wie war das denn für dich, in den 80ern in dieser Enklave West-Berlin zu leben?

In Spandau, wo ich aufgewachsen bin, da ist die Mauer nicht so weit weg gewesen, aber trotzdem war die nicht immer präsent. Stell dir vor, du wächst im Mittelalter auf und lebst auf einer Burg. Wenn man aus Berlin raus wollte, mal nach Frankfurt fahren oder Köln, da war man ja gleich in einem Land, wo man nicht sein durfte, als West-Berliner. Für uns war auch klar, das lässt sich so schnell nicht ändern. Aber wenn du da so reingeboren bist, ist das für dich einfach selbstverständlich.

War dir diese Welt nicht zu klein?

Nee. Berlin ist groß, schon immer gewesen. Seit der Eingemeindung der ganzen kleinen Städte ringsum wie Cölln oder Spandau, hat Berlin einen Durchmesser von mehr als 40 Kilometern. Als Kind bin ich mit dem Fahrrad in der ganzen Stadt rumgefahren. In der Regel sonntags, da war weniger Verkehr. Allein Spandau zu erkunden, ist schon ’ne Menge: Im Norden hast du die Havel und den Spandauer Forst, der grenzte an die Mauer, nach Süden gehts Richtung Kladow, das grenzt dann schon fast an Potsdam, da ist der Griebnitzsee.

Ich bin in einer Straße aufgewachsen, da war ein Opel-Autohaus, da standen dann immer die neuesten Modelle rum. Gegenüber gab es einen Laden, die haben Rohre verkauft, es gab Laubenpieper, die Schule war in fünf Minuten Laufweite, meine Mutter hat in Spandau im Bezirksamt gearbeitet. Das war eine kleine Welt, und das reicht dann auch. Reicht total. Berlin hatte früher ’ne echte Gemütlichkeit. Man hatte Platz, man konnte atmen in der Stadt.

Von was für Berlinern warst du umgeben? Waren das eher Ur-Berliner oder Exil-Berliner?

Weiß nicht, ist ja erstmal egal, wo Leute herkommen. Das hat mich auch nicht so interessiert. Es gab viele Studenten, und viele sind natürlich auch nach Berlin gekommen, weil es preiswert war und keine Bundeswehr hatte. Wir hatten ja die Alliierten, da musste man keinen Wehrdienst machen. Viele Kreative hatten noch nicht mal Bock auf Ersatzdienst, und sind deshalb extra hergezogen. Hier konnte man sich mit sehr wenig Geld ’ne Bude leisten. Du hast 20 Pfennig in die Telefonzelle gesteckt, und dann konntest du so lange telefonieren, wie du wolltest, weil die Gespräche nicht getaktet waren wie im Rest des Landes.

In Berlin ging es mehr um Kreativität als um Status. Das hat die Stadt auch berühmt gemacht. Wenn man kreativ war und an den richtigen Orten, dann warst du eigentlich immer willkommen. Meine damalige Freundin, die Danielle de Picciotto, die ist aus New York hierher gekommen, wegen dem Flair, das Berlin bis dorthin ausstrahlte. Denn in New York, diesem wahnsinnig kreativen Melting Pot, ist ja alles glatt gebügelt worden von Giuliani und wie sie alle hießen, die ganzen Bürgermeister, die dann gesagt haben, wir brauchen hier Sicherheit und Anti-Rave-Acts und so weiter blablabla, den ganzen Mist. Kampf gegen die Drogen sagen sie immer, aber Kampf gegen die Freiheit ist es am Ende.

Loveparade an der Siegessäule in Berlin.

Loveparade an der Siegessäule in Berlin. © iStock / SteffiL

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Wann ging es dann los bei dir, dass du gesagt hast: Ich will jetzt kreativ was machen?

Ich war immer kreativ. In allem. Meine Mutter war ’ne gebildete Frau, die hat mich praktisch angesteckt. Sie hat selber auch gemalt, sie hat gesungen. Ich hab es nachgemacht und dann meine eigene Kreativität entdeckt. Das ist von alleine passiert, da musste ich mich gar nicht anstrengen. Und ich habe mir das auch erhalten, diese Form von Kreativität, auf meine Art und Weise.

Hast du Abitur gemacht?

Nö. Ich bin gelernter Betonbauer. Ich war kein besonders guter Schüler. Die einzigen Hausaufgaben, die ich gemacht habe, waren im Kunstunterricht. Und da war ich der Beste. Ich war auch in der Theater AG und so. Nach der 10. Klasse bin ich von der Schule runter, und da hat meine Mutter gesagt, so, jetzt lernste einen Beruf. Sitz mir hier nicht auf der Tasche. Weil sie hatte nicht so viel Geld.

Wie lange hast du dann als Betonbauer gearbeitet?

Ich hab erstmal drei Jahre auf der Baustelle gelernt. Dann hatte ich schon bald keinen Bock mehr, weil ich damals ja auch in ’ner Band gespielt hab, die Toten Piloten. Wir hatten mal an einem Mittwoch einen Auftritt in einem Club, und da habe ich den Chef gefragt, ob ich einen unbezahlten Urlaubstag nehmen kann, und da hat er gesagt: Nö, wenn du kommst ist okay, wenn nicht, brauchste nicht mehr wiederkommen. Und da bin ich eigentlich dankbar für. Ab dem Zeitpunkt war ich dann quasi unabhängig. Ich hab dann angefangen, Kassetten zu verkaufen und hab davon gelebt.

Vom Kassetten verkaufen hast du leben können?

Damals ging das. Da hast du in einer Wohnung gewohnt, die hat 120 Mark gekostet. Da musste nicht viel für arbeiten.

Das ist heute auf jeden Fall sehr anders. Mehr als die Hälfte von dem, was ich verdiene, ist für Miete und Versicherung und Steuer und so. Da fühl ich mich schon bissl gefangen.

In den 80ern gab es zum Glück die „Genialen Dilletanten“.

„Geniale Dilletanten“?

Einfach genial im Hier, in diesem Augenblick sein, das war so die Definition. Stammte von Wolfgang Müller, von der Band Tödliche Doris, und wurde so ein geflügeltes Wort. Wir sind „Dilletanten“, aber wir sind genial. Es gab ja eigentlich mal eine geistige Entwicklung in Deutschland, um die Jahrhundertwende, als neue Kunstrichtungen aufkamen, und dieses Prinzip: Wir zerstören alles und setzen es neu zusammen, auf allen Ebenen. Als hätte uns plötzlich ein Strahl der Weisheit aus dem Universum getroffen und uns gesagt: Mensch, das geht doch auch anders.

Kann ja sein. Es ist auf jeden Fall unheimlich viel passiert. Und das ist dann von den negativen Kräften auf diesem Planeten 1933 alles kaputt gemacht worden. Wir hatten den Expressionismus, abstrakte Kunst, Bauhaus, die es geschafft haben, Kunst ganz allgegenwärtig in die Gesellschaft zu integrieren, und dann kamen die Nazis und vorbei wars. Ich nehm ja an, dass wir mit der elektronischen Musik da quasi wieder andocken, an dieses Verbundensein.

Inwiefern?

Ein polnischer Heiler hat mir das mal erzählt. Er sagte, die Nazis haben die Verbindung zum Universum der Kreativität gekappt. Ich bin der Meinung, dass wir in den 80ern mit der Entdeckung der elektronischen Musik etwas dazu beigetragen haben, diese Verbindung wieder herzustellen. Und deshalb ist das eine spannende Zeit. Dazu kommt dann natürlich die Maueröffnung, das sind dann so glückliche Zufälle. 1989 war ein tolles Jahr.

Was war denn für dich der Reiz an Techno? Du warst ja ursprünglich Punk-Schlagzeuger. Dann dieses Maschinenhafte, Computer, sich wiederholende harte Beats, was ja alles das Lebendige und Organische aus der Musik ausschließt.

Der Reiz der Musik war einfach, dass wir sie selber machen konnten. Wir brauchten ja nur Platten zu spielen. Es gab verhältnismäßig günstige Synthesizer. Und wir haben gemerkt, plötzlich taucht da eine Musik auf, wo man hört, dass das eigentlich nur mit zwei, drei Maschinen gemacht ist, und wahrscheinlich einfach im eigenen Zimmer auf Kassette aufgenommen, nicht in einem Studio. Man brauchte kein Mikro und kein großes Mischpult.

Dr. Motte

Dr. Motte © www.pearls-booking.com / Petrov Ahner)

Meine Generation, die Millennials, ist ja angeblich so politikverdrossen. Siehst du das auch so?

Das ist keine Politik-, sondern eine Parteienverdrossenheit. Freunde von mir sagen, die Parteien sind scheiße und deshalb sind wir verdrossen. Sie sind weder inspirierend noch nehmen sie unsere Interessen wahr.

Mein Eindruck ist auch eher, die Leute sind so politisch wie nie. Man kriegt ja keine Mahlzeit mehr runter, ohne dass einem irgendjemand erzählt, wo dieses Essen denn herkommt und was man stattdessen essen sollte und so weiter.

In deinem Umfeld vielleicht. In einem anderen Umfeld hast du ganz viele, die hereinfallen auf dieses ganze Rumgedaddel. Du brauchst ja nur mal U-Bahn fahren in Berlin, du siehst die ganze Zeit sehr viele Leute an ihrem Smartphone Spiele spielen oder chatten und so weiter. Die haben noch nicht mal mehr Bock, einen Beruf zu lernen und irgendwie Fachkräfte zu werden. Was denkst du, was die werden wollen?

Keine Ahnung. DJ?

Nein. Influencer oder YouTube-Star. Einfach von dem leben können, was man sowieso die ganze Zeit macht, nämlich Selfies. Das ist doch für den Arsch. Der chinesische Begriff für Deutschland bedeutet eigentlich wörtlich übersetzt: Land der Tugenden. Wir sollten uns alle mal wieder fragen: Was sind Tugenden?

Warum ich nicht so gern in Technoclubs gehe: Ich habe das Gefühl, dass da viele an einem Wochenende versuchen zu kompensieren, was sich die ganze Woche über an Druck und Stress aufgebaut hat.

Und was findest du schlecht daran?

Ich finde, das ist eine Illusion. Und dass es sinnlos ist, wenn man dann nach dem Wochenende wieder alles macht wie vorher.

Also als Kompensation für den normalen Stress in den Club feiern zu gehen – ich finde, das ist doch eine gute Therapie. Was ist da schlecht dran – am Tanzen und am Feiern?

Aber wie passt das denn zusammen? Sonntags Selbstzerstörung im Technoclub und montags dann Soja essen?

Na und? Ist doch deren Entscheidung. Mach dir doch die Probleme von anderen nicht zu deinen Problemen. Finde lieber Wege für dich.

Vielleicht hast du recht. Das Thema Ekstase ist bei mir auch glaube ich einfach extrem negativ konnotiert, also, weil es gesellschaftlich insgesamt als etwas Schlechtes angesehen ist.

Dann musst du dich hinterfragen. Du musst dann mit dir arbeiten, eigentlich. Wenn du es nicht magst, wie andere Leute sind, musst du dir erstmal sagen: Jeder hat die Freiheit, so zu sein, wie er will.

Ich geh halt manchmal mit einem schalen Gefühl aus dieser Club-Glücksblase heraus, weil ich denke: Hier seid ihr jetzt genauso, wie ihr sein wollt, lasst euch gehen, lasst euch treiben. Und den Rest der Woche seid ihr dann jemand anders? Da ist jedes Stündchen Freizeit ausgeplant und eingetaktet. Warum?

Woran liegt das?

Ich denke, die Leute machen sich einfach viel zu viel Stress.

Nein! Es ist die Gesellschaft, die den Stress macht. Du hast selbst gesagt, du zahlst einen Großteil von deinem Lohn an Miete. Du musst verdammt viel arbeiten, bei den kleinen Löhnen, die wir hier haben. Und das ist das Problem. Dass Leute nicht nur zwei Jobs, sondern drei oder vier brauchen, nur damit sie die Miete bezahlen können. Deshalb ist es auch gut, dass hier in Berlin langsam eine Protestkultur gegen die aktuelle Wohnungspolitik entsteht. Da bin ich ganz bei Stéphane Hessel, der sagt nämlich: Wir müssen uns erstmal empören, und dann fängt man an, sich zu organisieren, um das dann letztendlich auch in Gesetze münden zu lassen. Und deshalb bitte weitermachen! Denn wenn die Politik uns nicht mehr vertritt, dann müssen wir uns selber vertreten.


Hunderttausend Dank an Michael Geithner vom DDR-Museum für die Unterstützung bei der Recherche und die Hilfe beim Fact-Checking!

Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.