„Ich mag keine klassische Musik.“ Den Satz hört man oft, aber ich glaube, dass ihn niemand so meint. Er wischt hunderte Jahre Musikproduktion einfach so weg und das vermutlich, weil man als Kind mal gezwungen wurde, in einem Konzertsaal zu sitzen oder Klassik nur als überspanntes großbürgerliches Gehabe kennt (so werden klassische Konzerte im Film meist dargestellt). Wer sagt, er mag keine Klassik, sagt also eigentlich nur, dass er Musik nicht mag, die von Orchestern gespielt wird oder in denen Arien gesungen werden und die generell sehr lange (und langweilig) ist. Deshalb gibt es ja auch den Spruch: „Solange die dicke Frau noch singt, ist die Oper noch nicht zu Ende.“
Und vielleicht magst du persönlich tatsächlich keine Oper oder keine Barockmusik, aber das muss nicht heißen, dass du auch keine romantischen Klavierkonzerte magst. Es gibt einfach viel zu viel und viel zu viel Verschiedenes in der klassischen Musik, als dass man das alles einfach nicht mögen kann. Es ist ein bisschen so wie zu sagen: Ich mag keine Kohlenhydrate, weil ich als Kind immer Pellkartoffeln essen musste.
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Wie können wir uns hunderten Jahren Musikgeschichte nähern, ohne den immer gleichen Kanon zu reproduzieren, also die Musik abzufeiern, die man einfach gut finden muss, wenn man den Kennern glaubt? Es gibt in der klassischen Musik ein paar Sachen, die wirklich jeder kennt, Die dramatischen ersten vier Noten von Beethovens fünfter Sinfonie, Eine kleine Nachtmusik, Für Elise – selbst, wenn einem diese Namen nichts sagen, die Musik hat man schon mal gehört, irgendwo, irgendwie.
Richter hat die Vier Jahreszeiten „rekomponiert“
Eines dieser nicht totzukriegenden Stücke ist Antonio Vivaldis Vier Jahreszeiten. Man kann es eigentlich nicht mehr hören. Das beschäftigte auch den in Deutschland geborenen und in England lebenden Komponisten Max Richter. Richter hat erfolgreiche Musik für Film und Fernsehen geschrieben, er weiß also, welche Knöpfe er beim Publikum drücken muss. Aber dann hat er etwas gemacht, was ihm unglaublichen Ärger bei den Gralshütern der klassischen Musik beschert hat – und allergrößte Liebe von Leuten, denen der Dünkel und das museale Gehabe der Klassikszene eh immer suspekt waren: Richter hat die Vier Jahreszeiten „rekomponiert“.
Kurzdoku zu Vivaldi Recomposed:
https://www.youtube.com/watch?v=qTapNp-31rU
So wie Hip-Hopper aus Samples ganze Stücke montieren, also aus dem Bestehenden etwas Neues zusammenfügen, hat Richter das fast dreihundert Jahre alte musikalische Material Vivaldis auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. Er hat aber nicht einfach nur einen Remix produziert, also eine bestehende Aufnahme umorganisiert. Richter ist klassisch ausgebildeter Komponist, sein Handwerkszeug ist die Partitur, also das Notenblatt, auf dem untereinander alle Noten stehen, die die Musiker im Orchester gleichzeitig zu spielen haben.
Richter also nahm Vivaldis Noten, schnitt sie auseinander, verwarf drei Viertel des Originalmaterials und spielte mit einigen wenigen, aber für ihn entscheidenden Abschnitten: Einige Takte wiederholt er wieder und wieder. Dann lässt er plötzlich einzelne Noten weg. Oder unterlegt ein Geigensolo mit Bässen aus dem Synthesizer.
Im zweiten Teil dieser Klassik-Reihe schrieb ich, dass klassische Musik interpretiert werden will. Von den Musikern, der Dirigentin, den Zuhörern. Richter ging noch einen Schritt weiter, er rekomponierte Vivaldi, um ihn zu reanimieren. Und wie erfolgreich diese Reanimation war! Ich kenne nicht wenige Leute, die über dieses Stück ihren Weg in die Klassik gefunden haben. Und auch für intime Kenner des Originals ist das Zuhören spannend, denn plötzlich führt der immer gleiche Spaziergang in ein Paralleluniversum, in dem alles vertraut und doch völlig anders ist.
Hier ein Live-Mitschnitt der US-Premiere in New York:
https://youtu.be/Ebm69gW9UlI?t=86
Junge Komponisten durchqueren den Todesstreifen zwischen Ernster und Unterhaltungsmusik
Richters Werk ist der vorläufige kommerzielle Höhepunkt einer neuen Strömung in der klassischen Musik, die Neo-Klassik genannt wird. Berlin spielt darin eine wichtige Rolle. Nicht nur stammt die erste Einspielung von Vivaldi Recomposed vom Berliner Konzerthaus-Orchester, nicht nur gibt es in Berlin viele ungewöhnliche Klassikkonzerte, nein, in Mitte hat auch das Label Neue Meister seinen Sitz.
An der Rosa-Luxemburg-Straße will man jungen Komponisten ein Zuhause geben, die vor allem eines auszeichnet: Keine Angst. Keine Angst vor Traditionen, vor den Dos and Don’ts der Szene, keine Angst vor dem Durchqueren des Todesstreifens zwischen Ernster und Unterhaltungsmusik (ein sehr deutsches Problem, dazu in einer späteren Episode mehr).
Zu den „Neuen Meistern“ gehört auch Arash Safaian, geboren in Teheran, aufgewachsen in Bayreuth. Wie Max Richter bedient sich Safaian bei einem Alten Meister, nämlich Johann Sebastian Bach. Aber anders als Richter hat Safaian nicht ein einziges Werk auseinandergenommen, sondern mehrere ineinandergeschraubt.
Nicht weniger als fünf Bach-Werke montiert er in dem folgenden Stück zusammen – und an der Instrumentierung hat er auch gedreht, so kommt nämlich ein Konzertflügel und ein Vibraphon (eine Art Xylophon) zum Einsatz.
Arash Safaian: ÜberBach
https://www.youtube.com/watch?v=CqjMX9yknhE
Manche halten Safaians und Richters Kompositionen für Kitsch – vergleichbar mit Rondò Veneziano, einem in den 1980er Jahren wahnsinnig erfolgreichen Ensemble, das mit nach Barock klingender Musik plus Schlagzeug plus Puderperücken auftrat. (Das war wirklich ganz schlimmer Kitsch.)
Können wir Electro machen, aber auf traditionellen Instrumenten?
Der Vergleich ist aber unfair. Während man bei Rondò Veneziano einfach Barock-Versatzstücke aneinandergereiht hat, versucht sich Richter an einer respektvollen Auseinandersetzung mit einem der bekanntesten Musikstücke der westlichen Welt. Und Safaians Bearbeitungen sind vielleicht etwas dick aufgetragen, aber was soll’s, es gibt ja genug Gegengift – zum Beispiel den ebenfalls bei „Neue Meister“ erscheinenden Johannes Motschmann.
Johannes Motschmann: Über die Produktion von „Electric Fields“
https://www.youtube.com/watch?v=jnv1EpO28Jw
Auch Motschmann überschreitet Grenzen, bei ihm sind es die zwischen akustischen und elektrischen Instrumenten. Im Gegensatz zu Richter und Safaian hinterfragt Motschmann nicht bestehende Musik, sondern die Bedingungen ihrer Live-Reproduktion: Können wir Electro machen, aber auf traditionellen Instrumenten und analogen Synthesizern?
Johannes Motschmann: Electric Fields
https://www.youtube.com/watch?v=en0ghrC7yQI
Vielleicht fragst du dich jetzt: Was hat das noch mit Klassik zu tun? Und das ist gut so. Denn diese Frage ist das Kernproblem der Klassik. Was gehört zum Kanon? Was ist klassisch? Und was bedeutet das heute? Darf man das Klassische vom Podest holen? Darf man es modernisieren? Muss man es gar?
Wenn man dieser Frage hinterherüberlegt, landet man bei einem alten Problem: „Das Klassische“ ist eine relativ junge Erfindung, so wie der Konzertsaal, so wie das Stillsitzen müssen im Konzert. Der heilige Ernst, mit dem die klassische Musik betrieben wird, tut ihr nicht gut.
Zur Zeit Bachs und Vivaldis war das noch anders: Die Musik war nicht in Stein gemeißelt, die Noten oft nur Orientierungen, um die die Musiker herumgespielt haben. Die ukrainisch-deutsche Komponistin und Pianistin Marina Baranova sagt im Interview mit dem Deutschlandfunk:
„Die Aufführungspraxis im Barock ist wirklich unfassbar, was die sich erlaubt haben. Diese Freiheit, die sie sich genommen haben. (…) Noten haben sie damals wie eine Landkarte wahrgenommen. Was du damit machst, ist dir überlassen. Und deshalb waren alle Aufführungen sehr unterschiedlich. Es gab keine zwei gleiche oder zwei ähnliche Aufführungen. Möglicherweise kennen wir das heute aus dem Jazz, so eine Wegbeschreibung, und du kannst damit machen, was dir deine Phantasie erlaubt.“
Stücke aus dem 17. Jahrhundert dürfen auch wie Jazz klingen
Baranovas Fantasie kann man in ihren „Hypersuites“ nachhören, einem Album, in dem sie frei mit Barockmusik von Bach, Händel und den Franzosen Couperin und Rameau umgeht. Und dabei fast beiläufig eine weitere Grenze sprengt. Diese Musik enthält Hyperlinks anderswohin, auch in viel spätere Epochen, sagt Baranova, und wenn daraufhin Stücke aus dem 17. Jahrhundert plötzlich wie Jazz oder Electro klingen, dann ist das eben so.
Marina Baranova spielt François Couperin: Troisième livre de pièces de clavecin: 18ème ordre, Le tic-toc-choc ou les maillotins:
https://www.youtube.com/watch?v=nOxOxLn_aPQ&list=PLQt6ev5eI6q9CTJW2Qkrr5bcksB8Olf34&t=0s&index=7
Vor ein paar Wochen war ich in einem Konzert in der Berliner Philharmonie. Es gab Die vier Jahreszeiten, erst das Original von Vivaldi und nach der Pause die Fassung von Max Richter. Der große Saal war fast ausverkauft und das Publikum außer sich vor Begeisterung. Und es war deutlich jünger als die üblichen Konzertbesucher. Ein gutes Zeichen, dass die Links vom Barock in die Gegenwart gute Schleichwege zur Klassik sind.
Mittlerweile haben sich Musiker wie Hauschka und Raz Ohara (beide nicht gerade in der Klassik heimisch) wiederum Baranovas Barock-Interpretationen angenommen, sie remixed und weiterverarbeitet. Der Remix des Remix, wenn man so will – und auch diese Aufnahmen sind echte Bereicherungen: kleine Kunstwerke, die für sich stehen können, aber auch Neugier wecken können auf die Originale.
Hypersuites Reloaded:
https://www.youtube.com/watch?v=Tlbm67HTuZM
„Ich mag keine klassische Musik.“ Wer das sagt, akzeptiert den Kanon, unterwirft sich einer bildungsbürgerlichen Erzählung, die vor allem daraus besteht festzulegen, was dazugehört und was nicht. Dabei sind wir doch längst weiter. Die Hyperlinks waren immer schon da, jetzt müssen wir nur noch draufklicken.
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Redaktion: Theresa Bäuerlein; Bildredaktion: Martin Gommel; Schlussredaktion: Vera Fröhlich.