Vor der Verhandlung belagern Pressefotografen die Anwältin, Fans fotografieren mit Digicams und Handys. Astrid Wagner sieht in die Kameras und lächelt. Sie trägt Lidschatten, leicht gelockte Haare, Lippenstift, ihre Wangen sind gerötet.
Den Geschworenen wird sie heute erzählen, wie ein unbescholtener, einfacher Weinbauer nach jahrzehntelanger Unterdrückung durch seine Frau die Kontrolle verliert und sie umbringt, mit 51 Messerstichen. Dass er die Tat begangen hat, ist klar. Wagner kämpft heute dafür, dass sein Urteil Totschlag lautet, nicht Mord.
Ich sitze in der ersten Reihe des Gerichtssaals in der niederösterreichischen Stadt Korneuburg, um mich herum Schaulustige, Angehörige, Journalistinnen und Fotografen. Jede Zeitung des Landes bringt einen Bericht über den Prozess.
„Man soll über Tote nicht schlecht sprechen“, sagt die Anwältin und tut es dann doch. Die Frau habe Andreas, den Angeklagten, betrogen, wollte sich scheiden lassen und ihm alles nehmen. Im Plädoyer wird die tote Frau plötzlich Täterin, Andreas ist jetzt das Opfer. Wagner erzählt, wie kühl die Frau reagiert, als ein Zahnarzt ihm alle Zähne zieht.
Seit 25 Jahren ist Jack Unterweger tot, der Mörder, in den Astrid Wagner sich als junge Frau verliebt hat. Über die seltsame Beziehung der beiden habe ich in meiner ersten Folge geschrieben. Dass eine unerfahrene Juristin für einen brutalen Täter schwärmt und glühend seine Unschuld verteidigt, das kann ich noch verstehen. Aber warum sucht die Anwältin bei ihrer Arbeit heute immer noch nach den schlimmsten Fällen, setzt sich für Frauenmörder wie Andreas ein, verteidigt auch in den Zeitungen ihre Mandanten – und umgibt sich sogar privat mit Männern, die ein mindestens fragwürdiges Verhältnis zu Frauen haben?
Ein „Friseur und Fan“ begleitet die Anwältin im Gericht
Als ich Astrid Wagner das erste Mal traf, war das auch vor Gericht. Es war Ende Juli und unglaublich heiß, 36 Grad. Die Anwältin kam in einem rot-orangefarbenen Sommerkleid zum Prozess. Sie ging vor dem Saal auf und ab, telefonierte. Ihr Mandant trug ein lila Hemd und ein Tattoo am Nacken. Er war Drogendealer. Die Frage war, um wie viel Drogen es ging: Hatte er wirklich ein Kilo Koks im Kofferraum? Nervös spielte die Anwältin auf der Verteidigerinnenbank mit ihrer Halskette. „Das wird nicht meine Sternstunde“, hatte sie mich am Telefon vorgewarnt.
Ich hatte eine knallharte Frau mit stählernen Nerven erwartet, aber in diesem Moment wirkte sie fast zerbrechlich. Vor einem großen Prozess nimmt sie immer ein paar Kilo ab, sie könne dann einfach nicht essen, sagt sie. Es ist aber kein schlechtes Gewissen, das sie plagt, nicht das Schicksal des Opfers. Sie sorgt sich um ihren Mandanten. Muss er 10 Jahre sitzen oder 15? Kommt er womöglich sogar auf unbestimmte Zeit in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher?
In der Pause trafen wir uns im Café des Landesgerichts. Hier trinken Richterinnen, Anwälte, Täter und Angehörige gemeinsam Kaffee, Red Bull oder ein Bier. Neben Wagner saß Werner, ein großer, breiter Mann mit zurückgegeltem, grauem Haar. Sie stellte ihn als „Friseur und Fan“ vor, er begleite sie öfter bei Prozessen. Bei den ganz wichtigen, dort, wo die Fernsehkameras sind, ist er mit Haarspray auch direkt zur Stelle.
Auch Werner hatte schon Probleme mit dem Gesetz, Wagner half. Sie besuchte ihn in seiner Wohnung. Er machte ihr die Haare und verbrannte vor Nervosität den Toast, um den sie gebeten hatte. Sie aß ihn trotzdem, die Verbindung hielt. Werner schreibt regelmäßig auf ihre Facebook-Seite, wenn sie sich sehen, macht er Fotos und teilt sie sofort.
Die Richter seien oft viel zu streng, sagt Wagner, die fest an das Recht auf eine zweite, vielleicht auch dritte und vierte Chance glaubt. Auch ihr Chauffeur war schon vor Gericht angeklagt. Mit einem selbsternannten „Laufhauskönig“, der wegen Stalking und Beleidigung seiner Ex-Freundin verurteilt war, ging Wagner Kaffee trinken und shoppen. Bis die Stimmung kippte und der Mann auf einmal überall auftauchte, wo Wagner war und sie derbe beschimpfte. Dafür zeigte sie ihn dann selbst an, wieder wurde er verurteilt.
Im Gerichtssaal konzentriert sich Wagner auf die Geschworenen
Vor der Verhandlung gegen Andreas, den Weinbauern, hat Wagner noch für die Kameras posiert, jetzt, im Gerichtssaal, ist sie ganz Anwältin. Ihre Gesichtszüge sind hart geworden, sie beugt sich über ihren Tisch, notiert sich ab und zu Wörter und beachtet die Journalistinnen und TV-Moderatoren auf den Zuschauerbänken nicht mehr. Sie sieht die Geschworenen an.
Anstatt wie die Staatsanwältin stur ihr Plädoyer vorzulesen, spricht sie direkt zu den Menschen, erklärt frei, wieso Andreas nicht die härteste Strafe bekommen soll. „Er hat immer alles hinuntergeschluckt“, sagt sie. Der letzte Streit brachte das Fass zum Überlaufen, Andreas hatte keinen Handlungsspielraum mehr, er sah rot und tötete seine Frau, ohne es zu wollen. „Ich habe noch nie einen Fall erlebt, bei dem die Persönlichkeit des Täters und die Tat selbst so weit auseinanderklaffen“, sagt sie.
In der Verhandlungspause führt sie ein Telefonat nach dem anderen, verputzt in großen Bissen Kaviarbrötchen und bessert dann ihren Lippenstift nach. Sie muss gleichzeitig Interviews geben, mit Mandanten telefonieren und gut auf Andreas Angehörige einreden.
Seine beiden Kinder sind da. Er hat ihre Mutter getötet. Trotzdem halten sie zu ihm. Die Tochter, Mitte 20, ist vielleicht die Geheimwaffe in diesem Prozess. Sie erzählt, dass zu Hause immer viel gestritten wurde. Wenn der Vater zu viele Chips gegessen hat etwa. „Sie hat uns geschlagen“, sagt sie. „Papa war dagegen, hat aber nichts gemacht.“
Ihr Vater Andreas sieht derweil aus wie ein Häufchen Elend. Sein Sakko sitzt etwas eng, schneidet am Hals ein. Weil Andreas weint, ist seine Stupsnase ganz rot. Mit seinem Doppelkinn und den großen Ohrläppchen wirkt er unheimlich gewöhnlich. „Wir lieben unseren Vater. Wir brauchen ihn“, sagt seine Tochter. Plötzlich hat der Mord, hat Andreas Facetten.
Mir wird klar, dass bei dem grausamen Tod der Mutter alle verloren haben. Vor allem natürlich sie, das Opfer. Aber auch die Kinder, der Vater des Opfers, der immer wieder laut weint, der Bruder. Und selbst Andreas, der vor Gericht offenbar kaum fassen kann, was er getan hat. Im Gerichtssaal wird verhandelt, vor allem aber geweint und getrauert.
Tochter und Sohn lieben den Vater, obwohl er ihre Mutter getötet hat, lieben einen Mörder. So wie Astrid Wagner vor 25 Jahren Jack Unterweger geliebt hat. Mit einem entscheidenden Unterschied: Wagner hatte Jack Unterwegers Mord verdrängt, die Kinder sind mit dem Tod ihrer Mutter direkt konfrontiert.
Wagner legt auch Fälle zurück, wenn die Chemie nicht stimmt
Ich frage die Anwältin, ob sie heute immer noch über einen Mord hinwegsehen und bedingungslos lieben könnte. „Ich bin nicht nachtragend, aber ohne Kinder lässt sich das leichter sagen.“ Wenn die eigene Tochter vergewaltigt und ermordet würde – in eine solche Situation könne sie sich nicht hineinversetzen.
Einmal, der Richter möchte gerade von Andreas wissen, wie fest er mit dem Messer zugestochen hat, schaut die Anwältin auf ihr Handy.
Astrid Wagner nimmt nicht alle Fälle an. Tierquäler etwa kann sie überhaupt nicht leiden. Im vergangenen Jahr legte sie zwei prominente Fälle zurück. Den Täter bei einem Ehrenmord wollte sie nicht mehr verteidigen, weil „die Chemie nicht passt”. Der zweite Fall war der eines jungen afghanischen Asylwerbers, der in Wien auf offener Straße eine fremde Familie mit einem Messer attackiert hatte. Sie tat sich mit einem Kollegen zusammen und übernahm kostenlos die Verteidigung. Sie gab Interviews zu dem Fall, erklärte, dass er Stimmen höre und nicht zurechnungsfähig sei. Aber als ich sie nach dem Prozesstermin fragte, sagte sie: „Den habe ich aufgekündigt.“
Sie könne ihm nicht helfen, außerdem habe ihre Verlegerin gesagt, dass es nicht gut für sie sei, sich auf diese Art zu positionieren. „Es hat natürlich etwas mit Ausländerfeindlichkeit zu tun. Bei einem Österreicher wäre das ganz anders.“ Den Fall des afghanischen Asylwerbers hat sie also abgegeben, verteidigte aber weiterhin einen Österreicher, der eine Frau zerstückelt, einen Teil ihrer Leiche gegessen und den Rest ihres Körpers im Neusiedlersee versenkt haben soll. Weil sein Name Alfred ist, hat Wagner noch keinen einzigen Drohbrief bekommen. „Gruß aus der Hölle“, „miese Dreckssau“ – solche Briefe bekommt Wagner, wenn sie Männer verteidigt, die nicht weiß sind.
„Die meisten von diesen Gewaltverbrechern sind keine überzeugten Frauenverachter“, sagt sie. „Die meisten sind selbst Opfer, die Traumatisches erlebt haben.“ Da ist es wieder, das Wort „Opfer”. So bezeichnet sie auch ihren Mandanten Andreas, für den sie heute ein milderes Urteil erkämpfen will.
Ihr nackter Rücken brachte Wagner ein Disziplinarverfahren ein
Es ist Zeit für das Schlussplädoyer. „Ich kenne ihn seit Monaten. Er ist ein Mensch, der schwer aus sich herauskann“, sagt Astrid Wagner über ihren Mandanten. Damit er nach österreichischem Recht das mildere Totschlag-Urteil bekommen kann, muss sie seine heftige Gemütserregung betonen. „Dass er diese unkontrollierte Tat begangen hat, ist nachvollziehbar, wenn man seine Persönlichkeit und seine spezifische Situation beachtet. Trotz all der Launen hat er sie geliebt.“
In Österreich nennt man Wagner auch die „Nacktanwältin“, weil sie einmal ein Urlaubsfoto auf Facebook geteilt hat, auf dem man ihren nackten Rücken sieht. Untenrum trägt sie Jeans, im Hintergrund leuchtet das Meer. Wegen des Fotos brachte ein Anwaltskollege ein Disziplinarverfahren ins Rollen, das Bild schade dem Berufsstand.
Das Verfahren ging für Wagner gut aus. Sie bekam dutzende Freundschaftsanfragen und Likes auf Facebook. Bald teilte sie wieder ein provokantes Foto auf der Plattform. Sie, von vorne, halboffene Lederjacke. Wer sich anstrengt, erahnt vielleicht einen Bruchteil ihrer Brustwarze. Wieder kam sie in die Schlagzeilen.
Ich frage sie, ob sie das stört. Das tue es nicht, es sei sogar volle Absicht. „Umwegsrentabilität“, nennt sie es gelassen. Übersetzt heißt das: Durch die Berichte erlangt ihr Name mehr Bekanntheit, Klientinnen und Mandanten folgen.
Von wegen „Schwachstelle“ für böse Männer
In diesem Moment verstehe ich, dass auch ich sie als Opfer gesehen habe. Genau wie die Medien damals während des Prozesses gegen Jack Unterweger, als eine Kolumnistin der berüchtigten Kronen Zeitung über sie schrieb: „Sie ist gescheit, sie ist Juristin, sie ist jung. Es wäre schade, wenn sie an dieser Geschichte verbrennt.“ Als hätte sie eine „Schwachstelle“ für böse Männer, als würden ihr Sachen „passieren“. Endlich verstehe ich, dass Wagner ihr Leben im Griff hat, ihre Entscheidungen gut selbst treffen kann und niemanden braucht, der sie vor ihren Mandanten oder den Medien schützt. Sie ist nicht naiv, war es vielleicht nie.
Andreas hat das letzte Wort. Mit rotem Gesicht sagt er: „Ich kann nur sagen, dass mir das alles sehr leidtut. Vor allem für die Kinder und die Schwiegereltern. Ich hätte das nicht dürfen, ich hätte so nicht handeln dürfen. Es hätte sicher eine andere Lösung gegeben. Ich bitte um Verzeihung.“
Ehrliche Reue, sagt Wagner, sei ihr wichtig.
Jetzt müssen die Geschworenen über Andreas’ Zukunft beraten. Astrid Wagner gesellt sich zu den Angehörigen, um 17.19 Uhr ist das Urteil da. Die Geschworenen entscheiden: Es war Mord, nicht Totschlag. Andreas’ Tochter weint. Er wird zu 14 Jahren Haft verurteilt. Der Richter will sichergehen, ob Andreas das Urteil verstanden hat und fragt: „Was haben Sie für eine Strafe bekommen?“ „Eine gerechte”, sagt er.
Wagner klopft ihrem Mandanten auf die Schulter, spricht noch kurz mit ihm. Dann führen ihn die Justizwachen ab.
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Bildredaktion: Martin Gommel; Schlussredaktion: Vera Fröhlich.