Was du über Klassik wissen musst, aber vor allem: Was du alles nicht wissen musst

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Leben und Lieben

Was du über Klassik wissen musst, aber vor allem: Was du alles nicht wissen musst

Warum wir Dirigenten immer ins Gesicht schauen sollten, wieso Kissen mal zum Konzertsaal gehörten und weshalb klassische Musik umso besser wird, je älter wir werden – das erklärt ein Sohn zweier Profi-Musiker, der Klassik selbst lange doof fand.

Profilbild von Gabriel Yoran

Gabriel, wenn man im Film klassische Musiker sieht, dann sind das meist so ein bisschen wahnsinnige Typen mit wehendem Haar, die im echten Leben nicht klarkommen und nur ihre Kunst kennen. Du hattest ja in Folge eins gesagt, dass deine Eltern Profi-Musiker waren. Ist das bei denen auch so?

Oh Gott, nein, die Darstellung von Künstlern im Film ist meist eine totale Katastrophe, und das ist bei Musikerinnen und Musikern nicht anders. Profimusiker zu sein ist in erster Linie sehr viel Arbeit. Vormittags Orchesterproben, nachmittags daheim üben und dann mehrmals die Woche abends Konzert. Fast alle Musiker kennen Berufskrankheiten – ihre Arbeitsgeräte sind keine ergonomische Glanzleistungen, und wenn du Jahrzehnte neben den Blechbläsern auf der Bühne sitzt, kannst du dein eines Ohr auch irgendwann wegschmeissen.

Hinzu kommt, dass meine Eltern Musik nicht mehr zum Spaß hören können: Sie zählen mit, warten angespannt auf ihren Einsatz – selbst wenn da nur irgendeine Opernaufnahme in einem italienischen Lokal läuft. Musik hören von CDs oder Schallplatte hieß bei uns daheim „Musik abhören“, das sagt schon einiges. Diese sehr merkwürdige Arbeit, wo du mit rund hundert Leuten stundenlang auf Bruchteile von Sekunden und vor Publikum immer perfekt abliefern musst – ich kann dir sagen, das hinterlässt Spuren.

Okay, ich verstehe. Aber wenn es schon für die Musiker selbst schwer ist, wie sollen Laien denn da klarkommen? Wenn ich durch den Klassikbereich meiner Musik-App scrolle, finde ich da Sachen wie „Cembalokonzert d-Moll BWV 1052: II. Adagio“, und da denke ich mir, wenn der Rapper Sido einen Song „Tausend Tattoos“ nennt, versteht man das wenigstens … Wirst du mir jetzt auch den ganzen Text über solche Begriffe um die Ohren hauen?

Nein, keine Sorge, aber es stimmt schon, die Bezeichnung klassischer Musik ist komplexer als im Pop. Warum das so ist und was die Begriffe bedeuten, nehmen wir in einer späteren Folge mal genauer auseinander, aber das ist für den Einstieg nicht wichtig.

Tatsächlich ist die Frage, wie man den Weg in die Klassik ebnen kann, erst seit ein paar Jahren auch in Deutschland ein größeres Thema. Ein Grund dafür: Klassik bedeutete die längste Zeit auch Klasse. Ein furchtbarer Dünkel, ein nerviges Gewese um das Wesen dieser Musik. Als etwas, das sich einem entweder erschließt oder eben nicht. Als etwas, das man nicht vermitteln kann, wenn man da nicht reingewachsen ist. Die Klassik wird in Deutschland auch E-Musik oder Ernste Musik genannt (im Gegensatz zur U-Musik, der Unterhaltungsmusik). Diese Begriffe sind ziemlich verstaubt und nicht sehr hilfreich, aber ihre schiere Existenz verweist auf ein historisches Problem bei der Vermittlung klassischer Musik in Deutschland: Das starke Bedürfnis, Linien zu ziehen, abzugrenzen. Zu sagen, was und wer dazugehört und was und wer nicht. Kein Wunder, dass viele Leute Klassik für eine Geheimwissenschaft halten. Aber weißt du was?

Ja?

Das kann uns jetzt mal schön egal sein.

Denn tatsächlich sind viele vom Bildungsbürgertum als Tradition hochgehaltene Kulturtechniken relativ jung. Die Musealisierung der klassischen Musik gehört dazu. So hat man erst im 19. Jahrhundert angefangen, in andächtiger Stille im Konzert zu sitzen. Davor waren Konzerte mehr oder weniger wilde Veranstaltungen, während derer geredet, gegessen oder mit Kissen geworfen wurde. Der Konzertsaal selbst ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts! So kurz gibt es den erst!

Cool, gibt es das heute immer noch?

Nicht ganz, aber wir sind auf einem guten Weg. Denn wenn du einen etwas anderen Weg in die klassische Musik suchst, gibt es mehr Angebote denn je, zum Beispiel die Veranstaltungen professioneller Musikvermittler wie Arno Lücker. Lücker moderierte acht Jahre lang die Reihe „Zwei mal hören“ am Konzerthaus Berlin. Dort werden Stücke zwei Mal gespielt und dazwischen eine knappe halbe Stunde darüber gesprochen. Lücker sagt, man sieht dem Publikum die gesteigerte Intensität beim zweiten Mal Anhören förmlich an. Und genau darum geht es: die Intensität des Zuhörens zu vergrößern.

Die Intensität des Zuhörens? Was soll das sein?

Ich verstehe jeden, der sagt: Klassik finde ich langweilig. Natürlich ist etwas langweilig, das man nicht versteht. Was ist langweiliger als ein Buch in einer fremden Sprache? Und wenn ich mir hundert Mal einen altaramäischen Text anschaue, wird er sich mir nicht erschließen. So ähnlich ist das mit der klassischen Musik. Wie soll man zu etwas eine intensive Beziehung aufbauen, das man gar nicht versteht? Hier unternehme ich einen bescheidenen Versuch, ein kleines bisschen Verständnis herzustellen.

Okay, habe ich denn überhaupt eine Chance, wenn ich nicht schon als Kind mit Klassik in Berührung gekommen bin?

Oh ja. 43 Prozent der heutigen Klassikhörer hatten als Kind gar keinen Kontakt zur klassischen Musik. Es hilft bestimmt, aber man muss ja auch keinen Roman schreiben können, um einen mit Gewinn zu lesen.

Aber während viele sagen, der Musikunterricht in der Schule habe ihnen die Klassik verleidet, sagen wenige, der Deutschunterricht hätte ihnen das Lesen ausgetrieben. Es kann also nicht an der Schule liegen, dass die Klassik es so schwer hat.

Aber hat sie es überhaupt?

Da gehen die Meinungen auseinander. Studien belegen zwar steigende Konzertbesucherzahlen. Und in der repräsentativen Umfrage der Zeitschrift Concerti aus dem Jahr 2016 bezeichnen 31 Prozent der Befragten klassische Musik als etwas, das sie „sehr gerne“ oder „auch noch gerne hören“. Das kann natürlich auch einfach heißen, dass sie nicht sofort weiterskippen, wenn im Autoradio auf Klassik Radio der „Imperial March aus Star Wars“ läuft.

Ist das denn keine klassische Musik? Muss ich mich schlecht fühlen, wenn ich das gut finde?

Keineswegs! Filmmusik ist für viele der erste Berührungspunkt mit sinfonischer Musik, also Musik, die von einem rund 100 Personen starken Sinfonieorchester gespielt wird. Filmmusik ist zwar keine klassische Musik, aber ohne diese klänge auch Filmmusik ganz anders.

Tatsächlich ist die bekannteste Filmmusik meist nicht viel mehr als Variationen romantischer und spätromantischer Musik. Das ist einerseits schön, weil die Filmmusik so einen Weg in die klassische Musik weist, aber andererseits zeigt es auch: Die neueren Sachen, die sich das Publikum gerne anhört, passieren im Pop, im Rock, im Hip-Hop. Die klassischen Musiker blicken deshalb auch etwas verächtlich auf Filmmusik, weil es oft rip-offs sind. Wie viel von John Williams ist eigentlich Wagner, Korngold, Chopin oder Tschaikowski? Ziemlich viel.

Vor allem aber hat Filmmusik mehrere unfaire Vorteile gegenüber der Klassik: Sie wird mit den besten Musikvideos ausgeliefert, die wir kennen, nämlich Kinofilmen. Wir denken, Filmmusik macht, dass wir uns gruseln oder uns freuen oder mit den Helden mitfiebern. Aber ich glaube, es funktioniert vor allem andersrum: Filme machen, dass wir wissen, was wir bei der Musik empfinden sollen. Die Xylophon-Akkorde am Anfang von American Beauty, was bedeuten die schon? Beim ersten Sehen des Films noch nicht viel, aber nachdem wir den Film kennen und uns die Musik noch einmal anhören, werden die Bilder wieder lebendig vor unserem inneren Auge und mit ihnen die Konflikte, der Witz, das ganze Drama. Wir wissen dann, was wir fühlen sollen, woran wir uns erinnern sollen. Aber in der Klassik, wie soll das da gehen? Es gibt meist keine Handlung, keine Geschichte, in Konzerten meist auch keinen Gesang.

Aber worum geht es denn dann in der Klassik? Geht es überhaupt um etwas? Brauche ich nicht ein Musikvideo in meinem Kopf?

Ein Musikvideo würde sicher helfen, aber leider hat sich das in der klassischen Musik nicht durchgesetzt. Man kann sich aber behelfen. Ich habe das durch Zufall herausgefunden. Was hilft, ist ein Satz, eine Formulierung.

Bei mir lief das so: Irgendwann erwähnten meine Eltern beim Abendessen mal einen Satz, den ihr damaliger Chef, der Dirigent Eliahu Inbal, bei einer Probe gesagt hat. Das Orchester probte gerade eine Mahler-Sinfonie und Inbal sagte: „Bei Mahler guckt selbst bei den schönsten Stellen der Teufel um die Ecke.“ Dieser Satz wurde mein Schlüssel erst zur Musik Gustav Mahlers und dann zur gesamten klassischen Musik.

Sollte ich Mahler hören?

Ja, das machen wir auch noch, und zwar zusammen in Folge drei dieser Serie. Mahler gehört aber eigentlich nicht zur Klassik im engeren Sinn. Was umgangssprachlich mit Klassik gemeint wird, umfasst viel mehr als das, was Musikkenner „Klassik“ nennen. Die (Wiener) Klassik ist in der Musik eine Epoche von ungefähr 1780 bis 1827. Danach begann die Romantik. Es sind zwei aufeinanderfolgende kunstgeschichtliche Epochen. (Es gibt diese Epochen auch in der Literatur und der Malerei, wo sie absurderweise zeitlich anders liegen, aber das ist eine andere Geschichte.) Mahlers Musik spielt am Übergang zwischen Spätromantik und Moderne, fast hundert Jahre nach dem Höhepunkt der Klassik.

Es stimmt also! Die Klassik ist vorbei! Ich habe sowieso den Eindruck, in der klassischen Musik passiert nichts mehr.

Das stimmt auch auf eine Weise, und manche würden sagen: Es passiert nichts mehr, weil schon alles gesagt ist. Nicht wenige klassisch ausgebildete Musiker glauben tatsächlich, dass alle Harmonien, alle Melodien, die wir Europäer als schön empfinden, bereits Anfang des 20. Jahrhunderts komponiert worden waren.

Es gibt also einen Vorrat an schönen Melodien, und der ist seit 100
Jahren leer? Wieso erst vor 100 Jahren, wieso nicht schon früher?

Jein. Es gab aber Anfang des 20. Jahrhunderts ein starkes Bedürfnis, etwas anderes zu machen. Es gab diese Schübe öfters in der Geschichte der klassischen Musik, aber was so etwa ab 1908 in Europa passiert ist, erschließt sich den meisten Zuhörern auch heute nicht so ohne weiteres.
Ganz grob gesagt nennt sich diese Musik, die wir verstehen und die die meisten Zuhörer irgendwie nachvollziehen können, inklusive der Popmusik, tonale Musik. In der tonalen Musik haben wir meist ein Gefühl dafür, wie ein Stück weitergeht. Das ist so, weil in der tonalen Musik bestimmte Töne wichtiger sind als andere, die Musik will förmlich dort hin, sie will „nach Hause“.

Es gibt Jahrhunderte alte Regeln dafür, wie Harmonien (also der Zusammenklang bestimmter Töne) sich entwickeln müssen. Man kennt solche ästhetische Regeln auch in anderen Bereichen wie der Architektur. Diese Regeln haben Komponisten im 20. Jahrhundert begonnen zu brechen. So erfand Arnold Schönberg die Zwölftonmusik, bei der alle 12 Töne einer Oktave gleich wichtig sind. Das klingt aber für die meisten Menschen völlig unverständlich, und nur sehr wenige Leute hören sich diese Musik freiwillig an. Was das Geniale an dieser Musik ist, schauen wir uns in einer späteren Folge an.

Du hast gesagt, du kamst über einen Satz zur Klassik. Das mit dem Teufel.

Ja. „Bei Mahler guckt selbst an den schönsten Stellen der Teufel um die Ecke.“ Der Satz enthält eigentlich die zwei wichtigsten Dinge, die man über klassische Musik meiner Meinung nach wissen muss: Erstens, er vermittelt eine Ahnung davon, was klassische Musik kann, nämlich eine Idee und ein Gefühl vermitteln. Und das ohne Sprache, denn der Satz wird nicht gesungen, er steht auch nicht in den Noten. Und zweitens: Der Satz ist eine Interpretation. Er ist die Lesart des Dirigenten. Es gibt andere Interpretationen, aber das ist die von Inbal. Es gibt die professionellen Musikvermittler nämlich schon seit Jahren – es sind die Dirigenten (und glücklicherweise zunehmend auch Dirigentinnen). Leider bleibt der größte Teil ihrer Arbeit dem Publikum verborgen, denn der Dirigent bleibt im Konzert meist stumm. Aber in den Proben redet er mit dem Orchester.

Auf die Dirigenten achten immer alle. Was zeichnet denn einen guten Dirigenten aus?

Ein guter Dirigent hat eine Vorstellung davon, worum es in einem Stück geht, und leitet daraus ab, wie es seiner Auffassung nach zu spielen sei. Ein Musiker, der weiß, dass eine auffällig schöne Stelle nicht einfach nur schön klingen soll, sondern dass in ihr etwas Unheilvolles, Dämonisches mitschwingen muss, wird sie anders spielen. Der Dirigent wird seine Auffassung den Musikern vermitteln, aber wie ein sehr guter Schauspieler nicht nur durch Behauptungen, sondern durch Mimik und Gestik. Und ein sehr guter Dirigent wird die Illustration seiner Interpretation in seinem Gesicht, in seiner Körpersprache während eines einstündigen Konzerts hundertfach variieren, um den gewünschten musikalischen Ausdruck zu erhalten. Wenn man in ein klassisches Konzert geht, bekommt man davon aber nichts mit, weil der Dirigent mit dem Rücken zum Publikum steht. Das ist ein weiterer Grund dafür, warum der Einstieg in die klassische Musik heute leichter ist denn je: Man kann sich Konzerte auf YouTube ansehen und dabei dem Dirigenten ins Gesicht gucken.

Schaue dir in diesem Video ein paar Minuten die Gesichtszüge des Dirigenten Kirill Petrenko an.

Viele Menschen glauben, der Dirigent würde in erster Linie den Takt schlagen, aber das ist ein Irrtum. Seine Hauptarbeit besteht in den der Vermittlung seiner Interpretation der Musik. Und weil klassische Musik immer wieder neu interpretiert wird, gibt es von dem gleichen Stück oft hunderte verschiedene Aufnahmen, die Klassiknerds miteinander vergleichen.

Ich kann mir schon denken, dass es da keine ganz einfache Antwort gibt. Aber woher soll ich wissen, welche der hundert Aufnahmen ich nehmen soll?

Das ist zu Anfang völlig egal. Wenn du dein erstes Ei kochst, machst du ja auch nicht erstmal eine Salzverkostung. Ich gebe Dir in Teil 3 zwei verschiedene Aufnahmen des gleichen Stücks zum Vergleichen. Die wesentliche Erkenntnis aber ist: Klassische Musik wird interpretiert. Und diese Interpretation macht einen Großteil ihres Reizes aus. Denn nicht nur der Dirigent interpretiert, auch die Zuhörerin, der Zuhörer tut es. Manchmal bewusst, manchmal unbewusst. Interpretieren heißt aber nicht nur, etwas aus der Musik herauszuholen, was da möglicherweise an Bedeutung drin ist. Interpretieren bedeutet auch, etwas hineinzulegen, was man aus seinem eigenen Leben, aus einem eigenen Schatz an Empfindungen kennt. Die klassische Musik ist, wie alle große Kunst, offen dafür.

Ich kann dem Dirigenten nicht ins Gesicht schauen, und online bekomme ich alles viel schneller und viel direkter – und dann muss man heute auch noch still sitzen im Konzert. Kinder kann ich da nicht mitnehmen. Und auch die Ticketpreise sind sehr hoch. Da bleibe ich wohl besser zu Hause.

Das stimmt nicht. Popkonzerte sind im Schnitt viel teurer, zumindest in Deutschland, wo viele klassischen Orchester bezuschusst werden. Es gibt wohl kein Land auf der Welt, wo man so gute Orchester und Ensembles so billig hören kann wie in Deutschland. Und man muss meist nicht mal weit anreisen, denn in Deutschland gibt es fast überall Orchester. Profimusiker aus der ganzen Welt kommen nach Deutschland, weil es für sie das gelobte Land ist. Und tatsächlich gibt es in letzter Zeit immer mehr weniger formelle Konzerte, an ungewöhnlichen Orten, draußen, ohne Kleiderordnung. In den Niederlanden kommt eine App namens Wolfgang zum Einsatz, die einem im Konzert live zur Musik anzeigt, was da gerade passiert. Es gibt also durchaus Bemühungen, die Klassik zugänglicher zu machen.

So wie im Musikunterricht? Ich erinnere mich an „Peter und der Wolf“, da stehen ja zum Beispiel einzelne Instrumente für verschiedene Tiere: Die Querflöte zwitschert wie ein Vogel, die Oboe quakt wie eine Ente.

Das stimmt schon, aber mit dieser sogenannten Programmmusik kannst du vielleicht fünf Prozent des klassischen Repertoires erklären. Meist stehen Instrumente oder Melodien eben nicht für konkrete Dinge wie Tiere, die meiste klassische Musik ist absolute Musik. Das wäre ja sonst auch eine langweilige Rätselaufgabe: Man säße im Konzert und würde die ganze Zeit überlegen, wofür jetzt dies und wofür das eigentlich steht. Wenn es um die Darstellung eines Wolfs geht, warum nicht einfach einen Wolf zeigen, dafür braucht man ja kein Orchester. Die Musik kann mehr als nur Dinge darstellen.

Was könnte das sein?

Sie handelt von dir. Sie bezieht sich auf die großen und kleinen Ereignisse in deinem Leben, auf deine Wünsche, Hoffnungen, auf die, die du liebst, auf die, vor denen du Angst hast, auf deine spirituellen und intellektuellen Bedürfnisse, auf dein Verhältnis zur Welt, zu dem, was wir Natur nennen, zum Kosmos, zum großen Ganzen. Sie handelt auch von sich selbst, von ihrer Tradition und wie sie immer wieder damit bricht.

Die Klassik handelt vor allem von dir. Sie bringt etwas zum Ausdruck, was du schon einmal selbst empfunden hast, wofür du aber keine Worte hast. Und weil du als Erwachsener natürlich schon mehr erlebt hast, kannst du mit der Klassik eigentlich erst etwas anfangen, wenn es in dir Erinnerungen und Erfahrungen gibt, die wie Saiten sind, die dann anfangen, mit der Musik mitzuschwingen.

Puh. Das ist ein ganz schön hoher Anspruch.

Ja, aber es wird viel einfacher, wenn wir einfach mal mit der Musik selbst anfangen, jetzt nur ein kurzes Stück, im nächsten Teil schauen wir uns dann noch mehr Stücke im Detail an. In Popsongs geht es meist um eine kurze Melodie, die man sich gut merken kann. Die wird dann zwei, drei Mal wiederholt, und dann hat man sie drauf und kann sie oft auch mitsingen. In der klassischen Musik muss man meist ein bisschen länger zuhören. Wir probieren es mal mit zwei Minuten und elf Sekunden. Hör dir dieses kurze Klavierstück von Chopin an.

Wenn es nicht zu langweilig war, hör es dir nochmal an. Wenn es langweilig war, dann auch. Und jetzt guckst du diesen TED-Talk des amerikanischen Dirigenten und Musikpädagogen Benjamin Zander an (englisch, es gibt deutsche Untertitel). Es dauert keine zwanzig Minuten, und sie sind gut investierte Zeit. Nach dem Video hast du eine Ahnung davon, dass klassische Musik etwas bedeuten kann. Zander erklärt sehr unterhaltsam, welche Probleme die Klassik heute hat und setzt sich dann an den Flügel, um ein kurzes Stück von Chopin zu spielen. Dazu erklärt er, worum es – seiner Meinung nach – in dieser Musik geht. Und es ist schwer, ihm seine Interpretation nicht abzunehmen. Ich will nicht zu viel verraten, schau es dir am besten gleich an. …

Okay, ich verstehe: In dem Chopin geht es ums nach Hause kommen. Das konnte man tatsächlich raushören. Ich weiß aber nicht, ob ich da selber draufgekommen wäre.

Das ist auch erstmal nicht so wichtig. Zumal jede Zuhörerin und jeder Zuhörer selbst interpretieren darf und zu ganz unterschiedlichen „Lesarten“ kommen kann.

Die Interpretation ist also nicht nur Aufgabe der Musiker, sondern auch des Zuhörers. Aber ich glaube, dass es für den Einstieg gut ist, eine mögliche Interpretation vorgeschlagen zu bekommen. Und genau das mache ich im nächsten Teil. Wir werden zusammen acht kurze Musikstücke hören, mit meiner völlig subjektiven Interpretation. Der kannst du dich anschließen und wenn nicht, auch okay. No hard feelings.


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Mitgeholfen haben bei diesem Artikel Holger Schulze und Christoph Küstner. Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.