Die Einwohner von Rjukan in Südnorwegen haben eine schwierige Beziehung zur Sonne. „Sie sind geradezu besessen davon“, sagt der Künstler Martin Andersen. Vielleicht liegt es daran, dass sie für ein halbes Jahr lang das Sonnenlicht nur hoch oben an der Nordwand des Tales sehen können: „Es ist so nah, aber man kommt nicht dran“, sagt er.
Rjukan wurde zwischen 1905 und 1916 errichtet, nachdem ein Unternehmer den örtlichen Wasserfall gekauft und ein Wasserkraftwerk gebaut hatte. Hinzu kamen Fabriken, die Kunstdünger herstellen. Schon damals machten die Manager dieser Betriebe sich Sorgen darum, dass ihre Mitarbeiter nicht genug Sonne bekamen – und bauten eine Seilbahn, damit die Menschen hochfahren konnten, um im Winter etwas Sonnenlicht zu tanken.
Als Martin im August 2002 nach Rjukan zog, suchte er einfach nach einem Zwischenquartier, wo er sich mit seiner jungen Familie niederlassen konnte. Die Lage der Stadt zog ihn an: Sie steckt in der Kluft zwischen zwei gewaltigen Bergen, dem ersten ernstzunehmenden Höhenzug, wenn man von Oslo nach Westen fährt. Aber die abnehmende Sonne machte Martin düster und lethargisch.
Auf der Jagd nach dem Licht
Als der Sommer in den Herbst überging, schob Martin den Buggy seiner zweijährigen Tochter jeden Tag immer weiter ins Tal, er jagte das schwindende Sonnenlicht. „Ich spürte es am ganzen Körper, ich wollte nicht im Schatten sein”, sagt er. Wenn nur jemand eine Idee hätte, wie man etwas Sonnenlicht in die Stadt werfen könnte, dachte er. Die meisten hätten es bei dem Gedanken belassen. Aber Martin hatte eine Idee.
Schon lange gibt es die Vorstellung, dass unsere körperliche und geistige Verfassung von den Jahreszeiten und vom Sonnenlicht abhängt. Eines der ältesten medizinischen Fachbücher, „Der Gelbe Kaiser zur Inneren Medizin“ – das um 300 v. Chr. entstand – beschreibt dieses Phänomen. Und der französische Arzt Philippe Pinel stellt in seiner 1806 veröffentlichten Abhandlung über den Wahnsinn eine geistige Verschlechterung bei einigen seiner Psychiatriepatienten fest, „sobald die Kälte von Dezember und Januar einsetzt“.
Heute spricht man gern vom „Winterblues“, das ist eine milde Form von Niedergeschlagenheit in den kalten Monaten – man ist schläfriger und hat weniger Energie. Aber es gibt auch Menschen, die an einer Saisonalen Affektiven Störung (SAD) leiden: Für sie ist der Winter im wahrsten Sinne des Wortes deprimierend. Das Symptom wurde erstmals in den 1980er Jahren beschrieben und zeichnet sich durch Depressionen aus, die jährlich zur gleichen Zeit auftreten. Aber selbst gesunde Menschen, die eigentlich keine jahreszeitlich bedingten Probleme haben, erleben Schwankungen im Laufe des Jahres, meint Anna Wirz-Justice, Professorin für psychiatrische Neurobiologie in Basel.
).Helles Licht hilft gegen Depressionen
Warum lösen die dunkleren Monate bei so vielen Menschen Müdigkeit und schlechte Laune aus? Die führende Theorie ist die „Phasenverschiebungshypothese“. Dahinter steckt folgende Idee: Kürzere Tage führen dazu, dass unser Tagesrhythmus nicht mit der tatsächlichen Tageszeit synchronisiert ist, weil der Körper verzögert Melatonin freisetzt. Der Spiegel des Hormons steigt in der Regel nachts als Reaktion auf die Dunkelheit an. Wir fühlen uns deshalb schläfrig. Das helle Licht des Morgens unterdrückt die Melatonin-Produktion.
„Wenn die biologische Uhr eines Menschen langsam läuft, sagt seine innere Uhr, dass er weiterschlafen soll, obwohl der Wecker klingelt“, erklärt Kelly Rohan, Psychologie-Professorin an der Universität von Vermont. Warum das zu Depressionen führen soll, ist allerdings noch unklar. Es könnte sein, dass die Müdigkeit ungesunde Nebenwirkungen hat. Wenn man sich negative Gedanken darüber macht, wie müde man ist, könnte das eine traurige Stimmung, Appetitlosigkeit und andere Symptome auslösen, die sich gegenseitig verstärken.
Gut möglich, dass mehrere dieser Mechanismen am Werk sind. Aber egal, was genau Winterdepressionen verursacht: Helles Licht – besonders am frühen Morgen – scheint die Symptome verschwinden zu lassen.
Lichtexperimente mit Schülern
Dreihundertfünfzig Meilen südlich von Rjukan und auf etwa dem gleichen Breitengrad wie Edinburgh, Moskau und Vancouver liegt Malmö in Südschweden. In Schweden leiden schätzungsweise 8 Prozent der Bevölkerung an SAD, weitere 11 Prozent an Winterblues.
Anfang Januar geht die Sonne hier gegen 8.30 Uhr auf und kurz vor 16.00 Uhr unter. Die Lehrerin Anna Odder Milstam muss deshalb über mehrere Monate im Jahr vor Tagesanbruch aufstehen und zur Arbeit kommen. „Im Winter fühlen wir uns so müde“, sagt sie. „Die Kinder kämpfen auch damit. Sie sind weniger aufmerksam und aktiv.“
Die Lindeborg School, in der Anna unterrichtet, betreut rund 700 Schüler vom Vorschulalter bis zum Alter von 16 Jahren. Da die Schule an ihrer Lage und am Klima wenig ändern kann, probiert die Gemeinde etwas anderes: Sie versucht, die Wirkung von Sonnenschein auf die Schüler künstlich nachzubilden. Seit Oktober 2015 ist Annas Klassenzimmer mit Deckenleuchten ausgestattet, die sich in Farbe und Intensität verändern. Sie sollen die Art die Beleuchtung je nach Tageszeit optimal einstellen.
Als Annas Schüler um 8.10 Uhr das Klassenzimmer betreten, sind die Lichter hellblau-weiß, damit die Schüler aufwachen. Im Laufe des Morgens werden die Leuchten allmählich intensiver und dimmen im Vorfeld des Mittagessens leicht ab, um den Übergang zum trüberen Licht draußen zu erleichtern. Unmittelbar nach dem Mittagessen ist das Klassenzimmer wieder intensiv weiß-blau – „um das Koma nach dem Mittagessen zu bekämpfen“, scherzt Olle Strandberg von der Stadt Malmö, der das Projekt leitet. Dann dimmen die Lichter allmählich und werden im Laufe des Nachmittags gelber.
Es gibt bereits erste Hinweise darauf, dass das Licht sich auf den Schlaf der Schüler auswirkt. In einer kleinen Pilotstudie bekamen 14 Schülerinnen und Schüler aus Annas Klasse und 14 aus der Nachbarklasse, die keine Beleuchtungsanlage hat, Kiefer-Aktivitätsverfolger. Sie führten außerdem zwei Wochen lang Schlaftagebücher. In der zweiten Woche zeigten sich zwischen den beiden Gruppen deutliche Unterschiede. Annas Schüler wachten nachts seltener auf und schliefen die meiste Zeit, die sie im Bett waren.
Niemand weiß, ob die Beleuchtungsanlage auch die Prüfungsergebnisse der Schüler beeinflusst – oder wie man das überhaupt messen könnte. Aber es kann sein. An der Universität Lüttich baten Forscher Freiwillige, verschiedene Aufgaben in einem Hirnscanner zu erledigen und setzten sie dabei teilweise Impulsen von hellweißem Licht aus. Sie konnten feststellen, dass Weißlicht das Gehirn in einem aktiveren Zustand versetzte, und zwar in genau den Bereichen, die an der Aufgabe beteiligt waren. Ein Gehirn, das besser reagiert, kann auch mehr leisten, man ist schneller oder genauer.
Auch Anna sagt, dass ihre Schüler wacher sind. „Sie erzählen mir, dass sie sich besser konzentrieren können“, sagt sie. „Ich freue mich darauf, morgens in mein Klassenzimmer zu gehen, weil ich mich dort besser fühle – wacher eben.“
Im Gegensatz zu Antidepressiva wirkt Licht sofort
Natürlich ist die Idee, den Winterblues mit Licht zu bekämpfen, nicht neu. SAD-Lampen, auch Lichtduschen genannt, sind ein wichtiger Bestandteil bei der Behandlung von Winterdepressionen. In Schweden, wo die Lichttherapie früh und oft angewendet wurde, gingen die Kliniken oft noch einen Schritt weiter: Sie steckten Patienten in reinweiße Kleidung und schickten sie in lichtdurchflutete weiße Räume.
Baba Pendse, ein in Malmö lebender Psychiater, erinnert sich noch gut daran, wie er einen der ersten Lichträume in Stockholm in den späten 1980er Jahren besuchte: „Ich weiß noch, dass wir nach einiger Zeit da drin alle sehr lebhaft wurden“, sagt er.
Wenn man mit Pendse im Lichtraum von Malmö sitzt, fühlt man sich auf eine sonnige Bergterrasse neben einer Skipiste versetzt: Die Helligkeit ist berauschend. In dem Raum stehen zwölf weiße Stühle und Fußbänke, die man mit weißen Handtüchern bedeckt und um einen weißen Couchtisch mit weißen Tassen, Servietten und Zuckerwürfeln gruppiert hat. Das einzige nicht-weiße Objekt im Raum ist ein Glas mit Instant-Kaffeepulver. Es ist warm, und die Lichter summen leise. Rund 100 mit SAD diagnostizierte Menschen nutzen den Lichtraum jeden Winter. Pendse lässt seinen Patienten die Wahl zwischen einer Gruppenlichttherapie und Medikamenten, um ihre Depression zu bekämpfen. „Im Gegensatz zu Antidepressiva wirkt die Lichttherapie fast sofort“, sagt er.
In den letzten Jahren hat die Lichttherapie in Schweden einen gewissen Rückschlag erlitten, die Klinik in Malmö ist eine von nur wenigen, die noch übriggeblieben ist. Teilweise passierte das als Reaktion auf eine Studie aus dem Jahr 2007, die alle verfügbaren Erkenntnisse überprüfte und zu dem Schluss kam, der Erfolg der Therapie könne „weder bestätigt noch ausgeschlossen werden“. Diese Aussage ist für sich genommen zwar kein Beweis, hat aber einige Menschen davon überzeugt, dass die Lichttherapie nicht wirkt.
Pendse schüttelt den Kopf, wenn er davon erzählt. Die Durchführung von plazebokontrollierten Studien zur Lichttherapie nach Goldstandard und randomisiert sei nun mal schwierig, sagt er: Denn: „Was verwenden Sie als Placebo?“
Dennoch gibt es einige Hinweise darauf, dass die Lichttherapie eine ähnliche Wirkung auf das Gehirn haben könnte wie viele Antidepressiva. In einer 2016 veröffentlichten Studie gab es bei elf Patienten mit SAD, die mit einer zweiwöchigen Lichttherapie behandelt wurden, einen Einbruch der Serotonin-Transporterbindung – dieser Botenstoff spielt eine wichtige Rolle bei Depressionen. Der Pegel lag ähnlich hoch wie im Sommer.
Es gibt Menschen, die mit dem Winter besser fertig werden
Zurück nach Rjukan: Der sonnenhungrige Künstler Martin Anderson machte Pläne. Er wollte Heliostaten über der Stadt anbringen: Spiegel, die so montiert sind, dass sie das Licht der Sonne nach unten auf ein bestimmtes Ziel werfen, in diesem Fall den Marktplatz von Rjukan. Nachdem er sich einen Zuschuss von der Stadt geholt hatte, setzte er den Plan um. Heute thronen drei je 17 Quadratmeter große Spiegel auf dem Berg über der Stadt. Im Januar werfen sie so immerhin zwei Stunden am Tag, von 12 bis 14 Uhr, einladende goldene Strahlen auf den Platz.
Nicht jeder in Rjukan ist davon begeistert. Viele der Einheimischen tun sie als Touristen-Gag ab. Am beliebtesten sind die Spiegel bei denen, die erst vor kurzem nach Rjukan gekommen sind.
Andersen sagt, dass er sich mit der Zeit an den Lichtmangel gewöhnt habe. „Ich finde es nicht mehr so schlimm“, sagt er. Anscheinend lechzen Menschen, die länger an diesem Ort bleiben, nicht mehr im gleichen Maße nach Sonnenlicht.
Das trifft sicherlich auf eine andere norwegische Siedlung zu: Tromsø. Sie ist eine der nördlichsten Städte der Welt und liegt fast 400 Kilometer nördlich des Polarkreises. Der Winter in Tromsø ist dunkel – vom 21. November bis 21. Januar schafft es die Sonne nicht einmal über den Horizont. Doch seltsamerweise haben Studien trotz des hohen Breitengrades keinen Unterschied bei der psychischen Belastung im Winter und im Sommer gefunden.
Es gibt die Vermutung, dass diese Resistenz gegen Winterdepressionen genetisch bedingt ist. Auch Island scheint sich dem Trend zu widersetzen: Mit einer Häufigkeit von 3,8 Prozent liegt die SAD-Rate niedriger ist als in vielen Ländern weiter südlich. Und unter den Kanadiern isländischer Abstammung, die in der Provinz Manitoba leben, ist die SAD-Häufigkeit etwa halb so hoch wie bei den nicht-isländischen Kanadiern am gleichen Ort.
Ane-Marie Hektoen wuchs in Lillehammer in Südnorwegen auf, zog aber vor 33 Jahren mit ihrem Mann, der aus dem Norden stammt, nach Tromsø. „Zuerst fand ich die Dunkelheit sehr deprimierend; ich war nicht darauf vorbereitet. Nach ein paar Jahren musste ich eine Lichtdusche kaufen, um damit fertig zu werden“, sagt sie. „Aber im Laufe der Zeit habe ich meine Einstellung geändert. Die Menschen hier sehen die dunklen Monate als eine gemütliche Zeit. Im Süden ist der Winter etwas, das man aushalten muss, aber hier oben schätzen die Leute diese ganz andere Art von Licht, die man zu dieser Jahreszeit bekommt.“
Der Zeitraum zwischen dem 21. November und dem 21. Januar in Tromsø heißt Polarnacht oder dunkle Zeit, aber für mehrere Stunden am Tag ist es streng genommen nicht dunkel. Eine weiche Dämmerung legt sich über das Land.
In den Jahren 2014 bis 2015 verbrachte eine Psychologin der Stanford University namens Kari Leibowitz zehn Monate in Tromsø und versuchte herauszufinden, wie die Menschen mit den kalten, dunklen Wintern umgehen. Zusammen mit Vittersø entwickelte sie einen „Winter-Mentalität-Fragebogen“, um die Einstellung der Menschen zum Winter in Tromsø, Spitzbergen und der Region Oslo zu bewerten. Je weiter sie nach Norden gingen, desto positiver waren die Einstellungen der Menschen zum Winter.
Es klingt vielleicht fast schon zu einfach, aber eine positive Einstellung könnte wirklich helfen, den Winterblues abzuwehren. Kelly Rohan hat vor kurzem eine klinische Studie veröffentlicht, in der sie die Wirkung von kognitiver Verhaltenstherapie (CBT) mit der von Lichttherapie bei der Behandlung von Winterdepressionen verglich. Sie hält beide Methoden im ersten Jahr der Behandlung für vergleichbar effektiv.
CBT bedeutet, Muster und Fehler in der eigenen Denkweise zu erkennen und zu hinterfragen. Im Falle von SAD könnte das bedeuten, Gedanken wie „Ich hasse den Winter“ in „Ich mag den Sommer lieber als den Winter vor“ umzuformulieren. Aus „Im Winter schaffe ich nichts“ wird „Dinge erledigen ist im Winter schwieriger für mich, aber wenn ich ordentlich plane, kriege ich es hin“.
„Es ist möglich, sich in der dunklen Jahreszeit etwas besser zu fühlen, wenn man sein Denken und Verhalten ändert“, sagt Rohan.
Linda Geddes lebt in Bristol und schreibt als freie Journalistin über Biologie, Medizin und Technik. Sie hat Zellbiologie studiert und arbeitete neun Jahre lang für das „New Scientist Magazin“. Unter ihren zahlreichen Auszeichnungen ist auch der Preis der Association of British Science Writers für den besten investigativen Journalismus.
2013 veröffentlichte sie ihr erstes Buch „Bumpology: The myth-busting pregnancy book for curious parents-to-be“ (Bumpology: Das mythenzerstörende Schwangerschaftsbuch für neugierige werdende Eltern)
Dieser Artikel erschien auf Englisch im Online-Magazin Mosaic der Stiftung Wellcome. Wir haben ihn übersetzt und gekürzt und veröffentlichen ihn unter einer Creative Commons Lizenz (CC BY 4.0).
Übersetzung: Vera Fröhlich; Redaktion: Theresa Bäuerlein.