In der Offline-Welt da draußen, aber auch im Netz selbst gibt es zahlreiche journalistische und wissenschaftliche Perlen, die wir gerne entdecken möchten. Im KR-Buchclub empfehlen Leser und Redakteure ihre Lieblingsbücher, Vorträge, Essays oder Reportagen. Wir veröffentlichen einen Auszug daraus und laden euch ein, in den Kommentaren darüber zu diskutieren. Hast du auch einen Buchtipp, dann hinterlasse ihn hier.
Das KR-Interview mit der Bestatterin findet ihr hier: Der Tod kann auch sehr schön sein.
Wenn Sie sich schon zu Lebzeiten damit auseinandergesetzt haben, dass das Sterben zum Leben gehört und nur ein Tor ist in eine andere Welt, verliert der Tod einen Gutteil seines Schreckens. Viele Menschen haben weniger Angst vor dem Tod als vor dem Sterben. Sie fürchten Leiden und Schmerzen und vor allem das hilflose Ausgeliefertsein an eine Pflege durch andere. Beides lässt sich dank ausgefeilter Schmerztherapien und Palliativmedizin gut auf ein Minimum reduzieren. Aber manchmal ist es doch nicht möglich, Schmerzen ganz und gar zu dämpfen – und obendrein erleben viele Sterbende erstmals eine weitere Form von Leid: den Schmerz, der aus der Seele kommt.
Wenn sich das Leben dem Ende zuneigt, steigt in der Seele all das auf, was im Leben noch nicht bewältigt wurde – Verletzungen, die man selbst erfahren, aber auch die, die man anderen zugefügt hat. Gerade mit letzteren sind Angst, Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen verbunden. Am schwersten wiegt dann die Sorge, dass man bei den Menschen, mit denen man schicksalsmäßig verbunden ist, nicht mehr um Verzeihung bitten oder ihnen Trost spenden kann.
Es ist deshalb eine gute seelische Vorbereitung auf das Sterben, solche unerledigten Dinge zu klären, bevor es zu spät ist. Machen Sie reinen Tisch mit ungeklärten Streitfällen. Versuchen Sie, sich auszusprechen oder schreiben Sie einen Brief – dann haben Sie wenigstens Ihrerseits das Mögliche getan. Umso leichter ist Ihr Gepäck, wenn Sie gehen.
Es tut gut, vor dem Tod noch alles auszusprechen, was einem auf der Seele liegt. Das können ganz einfache Dinge sein oder auch Gewichtiges wie Liebeserklärungen oder Glaubensfragen, wie das Beispiel einer Frau zeigt, die wollte, dass ihre Asche in Nepal verstreut wurde. Ich sollte zu ihr ins Hospiz kommen und mit ihr darüber sprechen. Es stellte sich heraus, dass diese Frau aus Australien stammte und einige Zeit in Nepal gelebt hatte. Als dort der König gestürzt wurde und ein Bürgerkrieg ausbrach, musste sie das Land verlassen. Später heiratete sie einen Deutschen und hatte mit ihm einen inzwischen 14-jährigen Sohn. Wir sprachen Englisch miteinander, und während des Gesprächs merkte ich: Die Sterbende war eigentlich Buddhistin, hatte das aber vor ihrer Familie ihr Leben lang verborgen und zurückgestellt. Ich fragte sie: „Meinst du nicht, dass es jetzt Zeit ist, dass du das, was da in deinem Herzen lebt, endlich mal aussprichst und lebst, bevor du gehst? Jetzt ist nicht dein Mann wichtig oder dein Sohn, sondern dein Weg.“
Ich habe dann einen buddhistischen Mönch ausfindig gemacht, der sie noch zweimal besuchte. Bei den Gesprächen und Zeremonien mit ihm war der Mann der Patientin mit dabei und hat zutiefst interessiert mitgehört. Als sie gestorben war und die Bestattung anstand, wurde der Mönch ebenfalls mit einbezogen; er hat zusammen mit der Familie die Feier gestaltet.
„Entwicklung ist möglich bis zum letzten Atemzug!“
Auch das ist Sterbevorbereitung: einem Menschen ermöglichen, seinen Weg zu gehen. Ihm dabei helfen, sich als Mensch weiterzuentwickeln, den Übergang gut zu schaffen. Denn Entwicklung ist möglich bis zum letzten Atemzug!
Wenn man loslassen muss, was einen ein ganzes Leben lang begleitet hat – den eigenen Körper –, ist das zwangsläufig mit Trauer und Schmerz verbunden. Der Körper ist unser ganzes Erdenleben hindurch unser Zuhause. Und auch wenn er uns manchmal nervt oder womöglich quält: Er ist unser Leib, unsere Heimat.
Je mehr Sie sich klarmachen, dass dieser Verlust zwangsläufig irgendwann ansteht, desto weniger wird es Sie überraschen, wenn es so weit ist.
Ein sehr gutes Beispiel dafür ist Viktoria. Sie rief mich eines Tages an, mit einer jungen, frischen Stimme. Sie sagte, sie habe Krebs im letzten Stadium und würde gern ihre Bestattung mit mir vorbereiten. Als ich ankam, war sie schon bettlägerig, dabei aber perfekt von oben bis unten gestylt. Viktoria stammte aus Kanada, war aber in Deutschland aufgewachsen und hatte drei Kinder im Alter von damals zwei, sechs und zehn Jahren, die sie alleine großzog. Zum Vater der Kinder bestand schon seit längerer Zeit kein Kontakt mehr, er hielt sich an unbekanntem Ort im Ausland auf. Die Großeltern kümmerten sich rührend, waren aber zu alt, um nach dem bevorstehenden Tod der Tochter alle drei Kinder bei sich aufzunehmen. Das Letzte, was Viktoria wollte, war jedoch, dass die Kinder getrennt würden. Sie hatte gebetet, gehofft, gewünscht, dass sie irgendwie zusammenbleiben könnten.
Auch als sie schon krank war, hatte sie noch in ihrem Beruf als Dekorateurin gearbeitet, solange es eben ging; sie musste ja Geld verdienen. Eines Tages bekam sie den Auftrag, einen Kindergarten zu renovieren. Der Leiter der Schule, zu der der Kindergarten gehörte, merkte, dass es Viktoria eigentlich überhaupt nicht gut ging, obwohl sie versuchte, sich zusammenzureißen. Sie kamen ins Gespräch und Viktoria schilderte offen ihre Situation. Kurzerhand sagte der Schulleiter: „Ich frage meine Schwester, ob sie die Kinder nach Ihrem Tod übernimmt.“ Und das hat diese wunderbare Frau zusammen mit ihrem Mann tatsächlich getan, obwohl sie selbst ein Jahr zuvor Zwillinge bekommen hatte. Nicht einmal der Umstand, dass diese Veränderung den Umzug in eine viel größere Wohnung bedeutete, konnte die Familie davon abbringen. Viktoria selbst konnte die Zimmer für ihre Kinder noch wunderschön gestalten – und ihr eigenes dazu, wohl wissend, dass es ihr Sterbezimmer sein würde. Die Familie nahm sie nämlich in ihren letzten Wochen auch noch mit auf. Es war wirklich eine überwältigende Hilfsbereitschaft, die ihr und den drei Kindern damit zuteil wurde.
„Als alles fertig war, sah sie wie eine Prinzessin aus.“
Mein erstes Gespräch mit Viktoria war markant. Sie wollte ganz genau wissen, was ich mit ihr machen würde, wenn sie gestorben ist. Sie wollte gut aussehen, mit Make-up und allem Drum und Dran! Außerdem sollte die Feier ganz in Weiß sein und alle sollten weiße Blumen mitbringen. Als der Tag dann gekommen war, haben wir Viktoria gemeinsam gewaschen und ihr das weiße Kleid angezogen, das sie schon lange vorher dafür ausgewählt hatte. Der älteste Sohn hat mitgemacht, die Kleinen beobachteten aus der Ferne, was da mit ihrer Mama passierte. Als alles fertig war, sah sie wie eine Prinzessin aus – so schön, dass die Zweijährige ihre Scheu überwand und die ganze Nacht bei der Mama schlief.
Viktorias Freund hat dann zusammen mit ihrer Schwester bei ihr Totenwache gehalten, die ganze Nacht über. Er war Arzt und sagte, so etwas Schönes habe er noch nie erlebt. Im Krankenhaus sei der Tod meist rundum schrecklich. Wenn ein Patient stirbt, werde einfach alles abgestöpselt, der Körper mit einem Laken zugedeckt und dann in die Pathologie abgeschoben.
Am nächsten Tag ließen wir den Sarg kommen und die ganze Familie bemalte ihn. Die Zwillinge krabbelten überall herum und brachten Leben in die Bude. Es war eine schöne, heitere Stimmung; Viktorias Kinder konnten gut von ihrer Mutter Abschied nehmen.
Die große Feier war dann auf dem Friedhof und alle Gäste hatten, wie Viktoria es sich gewünscht hatte, eine weiße Rose mitgebracht. Am Schluss steckten 200 weiße Rosen auf dem Grab wie ein riesiger Blumenstrauß! Am Ausgang bekam jeder Gast ein kleines Organza-Beutelchen mit einem Bild von Viktoria und einem Stein, der mit einem goldenen Engel bemalt war. Diese Beutelchen hatte sie alle noch eigenhändig genäht und befüllt.
Es hat mich sehr berührt, wie Viktoria ihr Leben und auch ihr Sterben in die Hände genommen hat. Natürlich war es ein außergewöhnlicher Glücksfall, dass die Schwester des Schuldirektors sie und ihre Kinder so bereitwillig aufgenommen hat. Aber es war typisch für Viktoria, dass ausgerechnet ihr so etwas geschenkt wurde – sie hatte eine unglaublich sympathische Art, die Menschen für sich einzunehmen. Es ist ja nicht einfach für eine Mutter, ihre Kinder einer anderen Familie anzuvertrauen, selbst unter diesen extrem günstigen Bedingungen. Viktoria hat wirklich das Loslassen geübt, auf eine sehr würdige, künstlerische Art und mit dem ihr eigenen unwiderstehlichen Charme.
„Da können wir uns nur hingeben und alles geschehen lassen.“
Zum Loslassen gehört auch, nicht mehr über alles bestimmen zu können. Im Sterben sind wir gezwungen, Kontrolle abzugeben – wie bei der Geburt. Wenn eine Frau ein Kind zur Welt bringt, muss sie sich ganz und gar diesem archaischen Geschehen hingeben, und je weniger sie dabei selbst zu steuern bemüht ist, desto besser läuft die Geburt meistens. Im Sterben ist es ähnlich. Da können wir uns nur hingeben und alles geschehen lassen.
Keine einfache Anforderung in einer Zeit, die so sehr auf Kontrolle und Selbstbestimmung ausgerichtet ist wie die unsere! Viele Menschen haben Angst davor, pflegebedürftig zu werden. Das ist verständlich, aber es hilft nichts: Gerade im Sterben sind wir darauf angewiesen, einfühlsam und liebevoll gepflegt zu werden. Dafür muss sich niemand schämen. So liebevoll, wie wir ein Baby versorgen, können und sollten wir uns selbst als Sterbende betreuen lassen.
Jeder kann sich schon zu Lebzeiten innerlich darauf gefasst machen, dass dieser Pflegefall womöglich eintritt, und Vorkehrungen treffen, indem er eine Pflegeeinrichtung aussucht oder Geld zurücklegt, um zu Hause gepflegt werden zu können.
Viele Sterbende verbringen ihre letzten Tage in einer Art Dämmerzustand. Sie sind nicht mehr richtig hier auf dieser Welt, aber weg sind sie auch noch nicht. Ihr Bewusstsein ist jedoch wach, sie können uns hören und wahrnehmen. Dann tut es gut, wenn wir ihnen Geschichten oder Gedichte vorlesen, die ihren Zustand aufgreifen und ihnen helfen, sich vom Körper zu lösen. Es sind Märchen und Parabeln, in denen es um das Loslassen geht, oder um die Verwandlung, die Seelenreise.
Angela Fournes, geboren 1960 in New York, ist in Mexiko aufgewachsen. Dort hat sie einen natürlichen und sogar fröhlichen Umgang mit dem Tod kennengelernt. Sie hat viele Jahre als Sterbebegleiterin im Hospiz gearbeitet. Seit 2007 ist sie Bestatterin in Berlin.
Das Buch hat sie zusammen mit Annette Bopp geschrieben, Diplom-Biologin, Medizin-Journalistin und Sachbuchautorin.
Redaktion: Esther Göbel; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel (Aufmacherbild: unsplash / Sharon McCutcheon).