Ein Mann hebt seinen Arm stoppend in die Luft vor einem Strudel.

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Leben und Lieben

Hast du das Gefühl, dass die Zeit immer schneller vergeht?

Meine freien Tage rasen, aber zwanzig Minuten im Stau kommen mir wie eine Ewigkeit vor. Ich habe mit einer Zeitforscherin gesprochen, um zu verstehen, warum das so ist.

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Reporter für Ostdeutschland, Leipzig

Wie bitte, schon wieder Oktober? Das dachte ich neulich. Und mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ist es früher, als ich noch ein Kind war, nie so schnell Oktober geworden. Oder? Ein paar Klicks rückwärts im Kalender. Tatsache, auch 1998 hatte der September nur 30 Tage.

Die Psychologin Isabell Winkler ist Zeitforscherin an der TU Chemnitz. Sie weiß, warum uns Zeit mal zäh wie Kaugummi vorkommt – und sie mal wie zu verfliegen scheint. Ich bin zu ihr gefahren, um einige der größten Rätsel des Alltags zu lösen.


Isabell Winkler, Sie untersuchen, ob sich zurückliegende Zeitabschnitte eher lang oder eher kurz anfühlen. Wie testet man das?

Das geht zum Beispiel anhand eines Metermaßes, an dem Probanden einen bestimmten Abschnitt aus der Vergangenheit eintragen. Da kann eine als besonders lang erlebte Woche 70 Zentimeter einnehmen, und eine Woche, die eher schnell rumging, 30 Zentimeter.

Jeder kennt das Phänomen, dass die Zeit mit dem Alter immer schneller zu vergehen scheint. In Ihrer Studie „Has it really been that long?“ („Ist das wirklich so lange her?“) haben Sie das nun erstmalig erforscht. Gibt es eine Antwort?

Die kurze Antwort lautet: Die Zeit vergeht immer schneller, weil wir mit dem Alter immer seltener Dinge tun, an die wir uns später noch erinnern.

Das müssen Sie erklären.

Um herauszufinden, warum die Zeit immer schneller zu vergehen scheint, mussten wir zuerst herausfinden, was unser Zeitempfinden ausmacht. Da weiß die Forschung, dass wir einen Zeitraum immer dann rückblickend als lang empfinden, wenn wir Erinnerungen an diese Zeit haben.

Zeit ist also eigentlich nichts anderes, als die Summe unserer Erinnerungen?

Genau. Um herauszufinden, warum die Zeit mal länger, mal kürzer zu vergehen scheint, muss man also wissen, wie Erinnerungen entstehen. Wir haben Studien der letzten mehr als 100 Jahre ausgewertet und haben die wichtigsten Einflussfaktoren im Rahmen einer großen Studie daraufhin getestet, wie stark sie das Zeitempfinden beeinflussen. Dabei sind wir auf drei Dinge gestoßen, die das Zeitempfinden im Laufe des Lebens immer schneller vergehen lassen: Stress, Routinen und Erste-Mal-Erlebnisse.

Welchen Einfluss haben diese Dinge?

Wer dauernd unter Stress steht, bei dem bleibt weniger hängen. Auch, weil gar keine Zeit ist, die erlebten Dinge ordentlich abzuspeichern. Auch Routinen lassen die Zeit schrumpfen: Ein Pendler, der jeden Tag dieselbe Strecke fährt, kann die einzelnen Fahrten kaum noch auseinanderhalten. In der Erinnerung schrumpft die Zeit zusammen. Umgekehrt wirken völlig neue Erlebnisse. Wer etwas zum ersten Mal macht, schafft eine Erinnerung. Deshalb fühlt sich ein Tag in einer fremden Stadt auch rückblickend länger an als einer auf der heimischen Couch.

Warum werden solche Ereignisse im Alter immer seltener?

Weil man als Kind noch fast jeden Tag eine Sache zum ersten Mal macht: den ersten heißen Kakao trinken, den ersten Schneeball werfen. Im Laufe des Lebens kommt das immer seltener vor. Und außerdem treten Routinen und Stress in unser Leben, die unser Erinnerungsvermögen hemmen.

Ab welchem Alter fängt die Zeit an, immer schneller zu vergehen?

Wir konnten den Effekt in der Studie schon bei jungen Menschen mit Anfang 20 nachweisen. Die gaben an, dass spätere Schuljahre sich kürzer anfühlten, als frühere. Die Schule war ein Stück weit zur Routine geworden.

Wenn also mal wieder die Zeit rast, dann muss ich einfach sämtliche Routinen aufgeben und jeden Tag komplett anders leben?

Dazu würde ich nun auch nicht unbedingt raten. Routinen ordnen unser Leben. Sie aufzugeben und sich dauernd zu ungewöhnlichen Wegen zu zwingen, kann unglücklich machen – oder sogar neuen Stress verursachen, der die Zeit wiederum schneller vergehen lässt.

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Ehrlich gesagt, ich bin auch ziemlich froh über manche Routinen.

Routinen sparen ja auch ganz faktisch Zeit, weil sich damit bestimmte Abläufe einspielen. Bei einer Studie hat uns diese Verdopplung aus gefühlter und tatsächlicher Verkürzung schon einmal ziemliches Kopfzerbrechen bereitet. Wir wollten damals genau diesen Effekt belegen: dass Routine die Zeit rückblickend schmelzen lässt. Also ließen wir die Probanden etwas tun, was sie noch nie gemacht hatten: einen bestimmten Irrweg durch eine virtuelle Welt gehen. Wir ließen sie diese Strecke mehrere Male gehen – was denken Sie, was passiert ist?

Sie fanden den Weg jedes Mal schneller.

Richtig, die Probanden hatten also schon faktisch recht, wenn sie sagten, dass die Zeit jedes Mal ein bisschen schneller vergangen ist. Allerdings schätzten sie sogar noch die kürzeren Zeiträume als zu gering ein.

Warum?

Kennen Sie das, wenn Sie zum ersten Mal durch eine neue Stadt laufen - und dann wieder denselben Weg zurück?

Meistens geht es zurück schneller, weil man sich schon besser auskennt.

Nicht nur das, Sie schätzen die Zeit, die Sie brauchen, auch kürzer ein. Und das liegt daran, dass unser Zeitempfinden auch mit Erwartungen zusammenhängt. Wenn ich einen Weg zum ersten Mal gehe, dann weiß ich nicht, wie lange es dauert. Und weil wir generell dazu neigen, die Dauer von Dingen zu unterschätzen, denken wir hinterher: Ach, hat ja viel länger gedauert.

Auf dem Rückweg sind wir dann schlauer.

Richtig, aber wir haben hier am Institut noch eine zweite Theorie, und die hat wieder mit Erinnerungen zu tun. Wenn wir einen Weg zum ersten Mal gehen, erhalten wir viele neue Eindrücke: Häuser, Wege, vielleicht ein besonderes Straßenschild. Lauter Erste-Mal-Momente, die die Zeit rückblickend in die Länge ziehen. Ganz im Gegensatz zum Rückweg, bei dem wir schon das meiste kennen und weniger neue Erinnerungen schaffen. Deshalb fühlt sich der Rückweg im Nachhinein immer kürzer an, achten Sie mal drauf.

Bleibt dieser Effekt mit dem Alter gleich?

Ja, tatsächlich erlebt eine 20-Jährige eine langweilige Stunde genauso langsam wie eine 90-Jährige. Und rückblickend würden beide denselben Zeitraum wohl etwas zu gering schätzen. Dass die Zeit immer schneller zu vergehen scheint, liegt allein an uns.

Ist es denn nur schlecht, wenn die Zeit schnell rumzugehen scheint?

Es gibt eine Studie mit Senioren, denen es gegen Ende ihres Lebens noch einmal so vorkam, als würde die Zeit wieder langsamer vergehen. Der Effekt zeigte sich vor allem bei jenen, die nur noch wenige Freunde hatten oder keinen Besuch von ihren Enkeln bekamen. Das heißt, es wurde weniger abwechslungsreich. Das Rasen der Zeit kann also auch bedeuten, dass wir mitten im Leben stehen, dass die Dinge funktionieren.

Im Altenheim mag man sich das wünschen. Aber was muss ich tun, damit das Hier und Jetzt nicht so schnell vorbeigeht?

Ein erster Schritt wäre, Cluburlaube möglichst zu vermeiden.

Cluburlaube?

Zwei Psychologen haben einmal eine größere Reisegruppe in einen Cluburlaub begleitet. Die Personen waren dort die ganze Zeit über am selben Ort und sie entwickelten gewisse Routinen. Zum Beispiel, wann sie morgens in den Frühstücksraum gehen. Was sie von dem immer gleichen Büffet auf ihren Teller laden. Auf welcher Pool-Liege sie den Tag verbringen.

Mir wird es am Pool immer von Tag zu Tag langweiliger, weil nicht wirklich etwas Neues passiert.

Genau das bestätigten die Urlauber den Psychologen. Als sie wieder einige Wochen zu Hause waren, fragten die Psychologen ein zweites Mal ihr Zeitempfinden ab. Jetzt schienen ihnen die anfangs zähen Tage plötzlich wie verflogen.

Also genau das Gegenteil?

Ja, was sich heute langwierig anfühlt, kann einem morgen wie nichts vorkommen. Wissenschaftler unterscheiden zwischen gegenwärtig erlebter Zeit – und rückblickendem Zeitempfinden. Umgekehrt gilt: Alles, was Spaß macht, geht viel zu schnell vorbei. Das ist jedenfalls unser Eindruck, während die schöne Zeit vergeht.

Woher wissen wir überhaupt, wie schnell die Zeit jetzt gerade in diesem Moment vergeht?

In uns steckt eine Art Taktgeber, eine innere Uhr, die mal schneller, mal langsamer tickt. Unsere Aufmerksamkeit beeinflusst, wie viele Takte wir davon registrieren. Also, wenn ich Zeit gerade sehr bewusst wahrnehme, weil ich will, dass sie vergeht, bemerke ich jeden Takt. Beispielsweise im langweiligen Bürojob, wenn der Feierabend scheinbar immer langsamer näher rückt. Wenn ich die Zeit aber als schön empfinde, abschweife und sozusagen ein paar Takte verpasse, habe ich den Eindruck, die Zeit verfliegt.

Deshalb vergeht auch der zehnte Tag am Pool immer noch schneller als ein Tag im Büro, Stau oder im Wartezimmer.

Richtig, und noch schneller vergeht er, wenn Sie die ganze Zeit nur herumliegen, anstatt mal ein paar Bahnen zu schwimmen. Denn neben der Aufmerksamkeit hat unser Level of Arousal, das heißt: unser Erregungslevel, einen Einfluss auf unser Zeitempfinden. Wer Liegestütze macht oder Gewichte stemmt, bekommt immer mehr das Gefühl, dass die Zeit nicht zu vergehen scheint.

Beim Entspannen sinkt der Puls, die Zeit vergeht schneller. Beim Sport steigt er, die Zeit vergeht langsamer. Ist unser Herzschlag also der Sekundenzeiger unserer inneren Uhr?

Tatsächlich dachte man das ziemlich lange. Aber hier am Institut gelang es uns, diese Theorie zu widerlegen – in unserer Studie „The heart beat does not make us tick“. Wir baten unsere Versuchsteilnehmer, sich nacheinander in zufälliger Reihenfolge entspannt auf einen Stuhl zu setzen, in einer anstrengenden Körperhaltung zu verharren, und die Luft anzuhalten. Die Teilnehmer sollten in jeder Situation abschätzen, wie lange acht Sekunden dauern.

Eine entspannte Haltung lässt uns acht Sekunden anders wahrnehmen als eine angespannte?

So ist es, in der entspannten Situation meldeten sich die Teilnehmer später, da stimmte die Theorie vom Herz als Taktgeber. Sie stimme auch in der anstrengenden Situation, in der die Teilnehmer einen hohen Puls hatten und sich etwas zu früh meldeten. Wer die Luft anhielt strengte sich zwar auch an und meldete sich schneller – allerdings geht beim Luftanhalten der Puls nach unten. Wir haben die Theorie also ein bisschen ausgetrickst.

Wo sitzt die innere Uhr dann, wenn nicht im Herzmuskel?

Es gibt da verschiedene Vermutungen. Eine Zeit lang dachte man, dass es einen bestimmten Ort im Gehirn gibt, an dem Zeit wahrgenommen wird. Mittlerweile weiß man, dass es eher ein Netzwerk verschiedener Stellen ist, das die innere Uhr ausmacht.

Steckt eigentlich ein größerer Sinn dahinter, dass die Zeit mal schneller und mal langsamer verstreicht?

In unserem aktuellen Projekt erforschen wir, welchen Einfluss Emotionen auf unsere Zeitwahrnehmung im Hier und Jetzt haben. Ich bin dabei auf eine Studie gestoßen, in der Probanden gebeten wurden, auf einen Abgrund zuzulaufen.

Klingt gefährlich …

… und genau das ist es. Die Zeit verging nämlich immer langsamer, je näher sie an den bedrohlichen Abgrund heran traten. Eine Evolutionsbiologin würde sagen: In einer Gefahrensituation kann es sehr nützlich sein, wenn die Zeit langsam vergeht, damit ich auf die drohende Gefahr reagieren kann.

Macht Sinn. Was mir überhaupt nicht logisch erscheint: Warum muss die Zeit ausgerechnet dann so schrecklich zäh vergehen, wenn es gerade langweilig ist?

Vielleicht will uns die Evolution so daran erinnern, dass wir immer mal schöne Dinge tun sollten.


Redaktion: Susan Mücke; Schlussredaktion: Vera Fröhlich: Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert

Dieser Artikel erschien ursprünglich am 17. Oktober 2018.

Hast du das Gefühl, dass die Zeit immer schneller vergeht?

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