Die beiden Welten bekommt Sergio selbst nicht zusammen. Wenn der 40-Jährige heute seinen Beruf ausübt, trägt er nicht selten Anzug und Krawatte. Er hält Vorträge, redet und diskutiert mit anderen Menschen über Migration – auf Deutsch. In Deutschland.
Seine Kindheit und Jugend hat er im tausende Kilometer entfernten Bogotá verlebt. In einem der vielen Armenviertel der kolumbianischen Hauptstadt ist er groß geworden. „Wir waren sehr, sehr arm“, sagt Sergio. Drogenkartelle haben Kolumbien im Griff.
Seinen Vater hat er nie kennengelernt. Er lebt bei seiner Mutter bis er zwölf, dreizehn Jahre alt ist, dann geht er einfach irgendwann nicht mehr nach Hause. Die Schule lässt er sausen. Mit seiner Clique streunt er umher, schläft mal hier, mal dort. Sie trinken, kiffen, rauchen, prügeln. Und sie verdienen sich ihr Geld durch einfache Arbeiten. Manchmal sind sie auch einfach Teenager.
„Es war eine sehr aufregende Zeit. Man wusste nicht, ob man am nächsten Tag noch lebt oder nicht.“
Sergio schuftet tagsüber auf einer Baureste-Deponie – am Wochenende ist er Parkwächter vor einem Club, in dem Drogenbarone ein und aus gehen. Dort erlebt er regelmäßig absurde Szenen wie im Film: Männer zünden mit Dollarscheinen ihre Zigarren an, feuern Pistolenschüsse in die Luft und stellen an jeder ihrer Seiten fünf Frauen zur Schau. „Es war eine heftige Zeit“, sagt Sergio.
Mit 18 wird Sergio zum ersten Mal Vater. Nur drei Jahre später bekommt er mit einer anderen Frau ein weiteres Kind. Er hatte sich selbst versprochen, nicht so wie sein Vater vor der Verantwortung zu fliehen, sondern sich um seine Kinder zu kümmern. Doch es ist eine harte Zeit. „Wenn man jung ist, ist man nicht bereit, Vater zu sein.“
Sergio will raus. Weg. Er macht die Abiturprüfung – obwohl er seit der fünften Klasse nicht mehr zur Schule gegangen ist. „Aber ich war immer sehr neugierig und habe viel gelesen.“ Nach dem Abitur geht er zur staatlichen Universität in Bogotá. Dort funktioniert der Campus wie ein eigenständiges Land – eine andere Welt. Über ein Austauschjahr kommt er nach Berlin.
Neuanfang: „Ich war super angepasst“
Mit 25 Jahren hat Sergio, das Kind aus dem illegalen Hüttenviertel von Bogotá, das Abitur in der Tasche, ist in der besten Universität Kolumbiens immatrikuliert, hat zwei Kinder von zwei Frauen – und lebt in Berlin. Er büffelt wie wild für seine Deutschprüfung, um im Land bleiben zu dürfen, und versucht, möglichst nicht mit anderen Spanisch sprechenden Menschen in Kontakt zu kommen.
Sergio ist hin- und hergerissen zwischen den Ländern. Er liebt die Sicherheit, die Ruhe und die Möglichkeiten in Berlin. In Kolumbien ist das Leben gefährlicher, unsteter, anstrengender. Gleichzeitig hat er aber Probleme mit der Kühle der Deutschen – ist aber mit einer Deutschen zusammen.
„In Bogotá bist du nie alleine. Körperkontakt ist ganz normal. Es ist sehr herzlich – ganz anders als hier. “
Er spürt die ständige Stereotypisierung in Deutschland. Das öffentliche Bild von Kolumbien ist immer noch geprägt von Drogen, Armut und Gewalt. Sergio weiß aber auch, dass er als Latino als „guter Ausländer“ gilt, denn bei seinen dunklen Haaren und dem Vollbart haben die Menschen durchaus auch andere Assoziationen.
„Mein Aussehen ist das Feindbild der Gesellschaft – aber wenn die Leute den Namen Cortés hören, atmen sie ein wenig auf“, sagt Sergio lachend. Dann denken die Menschen eher an Salsa, Tequila und feuriges Temperament. „Wenn du so aussiehst wie ich und einen Akzent hast, lassen die Menschen dich jeden Tag spüren, dass du nicht dazugehörst.“
Und das, obwohl Sergio mittlerweile einen deutschen Pass hat. Die kolumbianische Staatsangehörigkeit musste er im Zuge der Einbürgerung abgeben. Ein Akt, der ihm schwerer zu schaffen gemacht hat, als er gedacht hätte. „Ich dachte immer, der Pass ist nur ein Stück Papier, aber das war heftig. Die machen schnippschnapp vor deinen Augen. 25 Euro und tschüss. Es war, als wenn sich ein Kapitel schließt.“
Berlin ist Heimat
Trotz der emotionalen Unterkühltheit der Deutschen, der täglichen Drogen-Witze („Da kommt ja unser kolumbianischer Drogenbaron!“) und dem Mangel an authentischem kolumbianischen Essen – Berlin ist zu einer Art Heimat für Sergio geworden. Seine Kinder leben seit ihrer Pubertät auch in der Stadt: „Man kann hier gut leben.“ Obwohl die Gesellschaft ihn täglich spüren lässt, dass er nicht dazugehört – nach Kolumbien zieht es ihn nicht zurück.
Weitere Themen im Podcast: Kolumbianisches Essen, Karibik vs. Ostsee, Kaffee, Kokablätter, City of God, Machos, Reisetipps, und wie Sergio einen Überfall er- und überlebte.
Der Halbe-Katoffl-Podcast ist eine Gesprächsreihe mit Deutschen, die nicht-deutsche Wurzeln haben. Moderator ist der Berliner Journalist Frank Joung, dessen Eltern aus Korea kommen. Es geht um Themen wie Integration (gähn), Identität (ach ja) und Stereotypisierungen (oha) – aber eben lustig, unterhaltsam und kurzweilig. Anekdoten aus dem Leben statt Theorien aus dem Lehrbuch.
Aufmacherfoto Frank Joung.