„Da hinten ist es“, ruft Neko. „Da haben wir gewohnt.“ Gleich an der ersten Bühne auf dem Spielbudenplatz. Es nieselt, der Steinboden schimmert feucht. Leuchtreklame zuckt über die Reeperbahn. Girls-24h-Non-Stop, Wodka-Bomben, Spielhalle. Im Schutz der Bühne haben sie sich aneinander gekuschelt, zwanzig, dreißig Kids und junge Erwachsene. Haben morgens geschlafen, bis die Straßenreinigung sie aufscheuchte oder das Klackern der Schuhe von Passanten auf dem Trottoir. Haben die Reste aus den Bierflaschen vom Vorabend geleert, ihre Plastikbecher aufgestellt, geschnorrt, gechillt, gesoffen, gekifft.
Ein, zwei Mal die Woche wurden die unter 18-Jährigen der Gruppe ins Kids geschickt, eine Notanlaufstelle für Minderjährige am Hamburger Hauptbahnhof. Duschen, Klamotten waschen, Essen organisieren für die anderen auf Platte. Wenn Sozialarbeiter sie ansprachen, winkten die Jugendlichen ab. „Wir waren zu cool, um uns helfen zu lassen.“
„Wir haben nicht viel über morgen nachgedacht“
Warum auch? Auf der Straße hatten sie doch alles. Geld: „Manchmal warfen die Leute sogar 50-Euro-Scheine in den Becher.“ Fairness: Kein gegenseitiges Beklauen. Und was auf den Tisch kommt wird geteilt, das war eiserner Kodex unter den Straßenkids. Vor allem aber: Gemeinschaft, die Geborgenheit der Gruppe, die Älteren achten auf die Jüngeren. Neko: „Wir haben nicht viel über morgen nachgedacht. Es war gut, wie es war.“
Drei Jahre lang hat Neko auf der Straße gelebt. Mal in Hamburg, mal in Essen, zuletzt in Kiel. Dass sie viel damit riskierte, ihre Gesundheit, ihre Zukunft, ja, ihr Leben, sagt sie, „war mir damals nicht klar“. Doch als Drogen ins Spiel kamen, als sie sah, wie ihr Freund durch härteren Stoff ein anderer wurde, zunehmend die Kontrolle verlor, als sie merkte, wie sehr das Leben auf der Straße ihrem Körper schadete – Rückenschmerzen, Abszesse, ein kaputter Schlafrhythmus, ein Schwangerschaftsabbruch – beschloss sie: Ich will weg von der Platte, weg von der Szene. Heute noch hat sie jenes Mädchen vor Augen, das irgendwann nackt und halbtot in einer Gasse zur Reeperbahn lag, mit einer Nadel im Arm. „Da wurde mir bewusst: Das hätte auch ich sein können.“
Seit November wohnt Neko in einer WG am Holstenkamp im Hamburger Stadtteil Altona. Sie hat einen festen Mietvertrag, bekommt regelmäßig Geld vom Jobcenter, plant, step by step, ihre Zukunft. Die 20-Jährige hat den Absprung geschafft, mithilfe von Streetworkern der „Off Road Kids Stiftung“.
Die nächsten Schritte
Hamburg, St. Georg. In der Kfz-Werkstatt neben der Hamburger Streetwork-Station knallt der Schlaghammer. Neko eilt mit ihrem Hund die engen Treppen zum ersten Stock hinauf. Streetworkerin Benthe Müller wartet schon. „Hallo, wie geht’s dir?“ – „Gut, Lewo macht sich bestens.“ Gerade erst hat sie den Welpen gekauft, als Begleiter in ihrem neuen Leben.
Seit einem Jahr kommt Neko regelmäßig hierher. Mal, um sich durch Facebook zu klicken, meist, um mit Benthe Müller die nächsten Schritte zu planen. Gemeinsam hat das Duo Nekos Ansprüche beim Jobcenter durchgesetzt, Abteilung „Menschen ohne bezirklichen Bezug“, wie es im Amtsdeutsch heißt. Hat sich zusammen auf Wohnungssuche begeben, einen Dringlichkeitsschein beantragt, Arzttermine geplant. „Allein hätte ich das nicht gepackt“, sagt Neko. „Und ich konnte mich immer darauf verlassen, dass du unsere Verabredungen einhältst“, sagt Müller. „Off Road Kids“ hilft bei Ämtergängen, begleitet die Kids zu Ärzten, sorgt für die Kostenerstattung.
Gerade erst hat die Hilfsorganisation in Kooperation mit der gesetzlichen Krankenkasse Bahn-BKK das Gesundheitsprojekt Streetwork+ gestartet. Damit haben die Sozialarbeiter jetzt genug Mittel, um sich professionell um die Gesundheit von Straßenkids zu kümmern. „Es ist viel schwieriger für diese Kinder, neue Lebensperspektiven zu finden, wenn sie krank sind, eitrige Verletzungen haben oder schwanger werden“, sagt Vorstand Markus Seidel. „Deshalb ist Gesundheitsfürsorge so wichtig.“
37.000 Straßenkinder gibt es laut Deutschem Jugendinstitut in Deutschland, 6.500 von ihnen sind minderjährig. Die meisten von ihnen leben als sogenannte Sofahopper, zu viele aber auch in offener Obdachlosigkeit. „Das darf nicht sein“, hatte sich Markus Seidel schon 1993 gesagt und die Hilfsorganisation „Off Road Kids“ gegründet. Privat organisiert, ohne staatliche Fördergelder, dafür aber von Privatspendern und Förderern wie der Vodafone Stiftung und der Deutsche Bahn Stiftung finanziert. Heute unterhält „Off Road Kids“ Streetwork-Stationen in Berlin, Dortmund, Hamburg, Köln, demnächst auch Frankfurt, ein Kinderheim, ein Hochschulinstitut und mit sofahopper.de die erste virtuelle Streetwork-Station Deutschlands. Knapp 5.000 Straßenkinder und junge Obdachlose hat die Organisation seitdem von der Straße geholt.
In der zweiten Klasse kommt Neko zum ersten Mal in die Psychiatrie
Dank des umfassenden Konzepts. Denn während die Zuständigkeit staatlicher Hilfe an den Grenzen der Bundesländer Halt macht und die Jugendhilfe mit dem 18. Lebensjahr meist abbricht, setzt sich „Off Road Kids“ als einzige Hilfsorganisation bundesweit für Straßenkinder und junge Obdachlose ein – egal, ob sie schon volljährig sind oder nicht. Denn klar ist: Kids wie Neko wechseln oft Aufenthaltsort und Bundesland, wer sie dauerhaft erreichen will, muss flexibel sein. „Und auch mit der Volljährigkeit hören die Probleme ja nicht auf“, sagt Streetworkerin Benthe Müller. Viel zu früh, so Müller, werden die Jugendlichen sich selbst überlassen. Die überschuldeten Kommunen drücken auf die Kostenbremse. Müller: „Die jungen Erwachsenen fliegen aus der Jugendhilfe, weil sie nicht kooperativ genug sind oder angeblich keine Hilfe mehr brauchen.“
Ein Wahnsinn, denn das Gegenteil ist der Fall, beobachtet die Leiterin der Hamburger Streetwork-Station jeden Tag aufs Neue, wenn Straßenkids in ihrer Station in St. Georg anklopfen. „Dabei geht es nicht nur um praktische Hilfe, sondern auch darum, sich Zeit zu nehmen und in einem geschützten Raum zuzuhören.“ Ohne zu bedrängen, ohne Stress zu machen.
Zuhören – das hat Neko in der Tat gebraucht. Denn wer hatte ihr schon zugehört in ihrem jungen Leben? Solange sie denken kann, wurde sie rumgeschubst. Mit zwei Jahren geben die Eltern sie und ihren kleinen Bruder in eine Pflegefamilie in Remscheid. Von Beginn an ist Neko ein ungeliebtes Kind. Die Pflegemutter hat nur einen Jungen gewollt, die große Schwester nimmt sie auf Druck des Jugendamtes mit auf – und lässt sie die Abneigung spüren. Nie kann Neko es ihr recht machen, jeden Tag wird sie beschimpft. Mach die Hausaufgaben, geh in dein Zimmer, heul nicht. Neko zieht sich zurück, lässt ihre Wut an den Schulkameraden aus. Prügelt, schlägt, stößt Mitschüler vom Klettergerüst. In der zweiten Klasse kommt Neko zum ersten Mal in die Psychiatrie.
Suche nach Halt
Es ist eine Kindheit und Jugend der Zurückweisung. Neko ist Außenseiterin und „ewiges Mobbingopfer“. Mal flüchtet sie sich in die Welt der japanischen Animes, mal hängt sie mit einer Kiffergruppe ab. Mehrfach versucht sie, sich umzubringen, zweimal schluckt sie Rasierklingen, mehrfach Pillen. In der 8. Klasse muss Neko ein halbes Jahr in die geschlossene Psychiatrie, Akutstation. Bei dem betreuenden Arzt fühlt sie sich geborgen, ein fremdes Gefühl. Doch schnell holt sie die Realität wieder ein. Nach ihrer Rückkehr hört sie, wie die Pflegemutter ihrer Schwester am Telefon gesteht: „Ich bereue, dass ich dieses schreckliche Mädchen aufgenommen habe.“
„Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich mit anderen richtig wohl gefühlt.“
Viele wären daran zerbrochen. Neko beschließt: Erstens, ich weine nicht mehr. Denn das macht mich kaputt, angreifbar, verletzlich. Zweitens, ich haue ab von zu Hause. Nach dem Hauptschulabschluss flüchtet sie sich in ein Kinderheim in Bochum, landet später wegen kleinerer Drogendelikte in einer Notaufnahme für Kinder in Gelsenkirchen. Wieder wird sie brutal gemobbt, einmal legt ihr eine Mädchengang nasses Hundefutter ins Bett. Aus einer Wohnung des Jugendamtes fliegt sie wieder raus, weil sie „ja eh nie da“ sei. Lieber kriecht sie bei Bekannten unter, streunt umher, auf der Suche nach Halt, Anschluss, einem Zuhause. Eines Tages fährt Neko nach Hamburg, Kumpels besuchen, die sie auf einem Jugendkongress kennengelernt hat. Am Hauptbahnhof kommt sie mit den Kids ins Gespräch, die dort Platte machen. „Hey, willste ein Bier?“ Neko will. „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich mit anderen richtig wohlgefühlt.“
Neko streicht ihre roten Haare zurück und krault ihren Hund. Seit einem Jahr ist sie auf dem Weg zurück in die Normalität. „Du bist stark“, sagt Streetworkerin Müller. „Ich habe viel Glück gehabt“, sagt Neko, und: „Meine Pflegemutter hat mich realistisch gemacht.“ Anpacken statt verzweifeln. Sich selbst am Schopf auf dem Sumpf ziehen, wenn sonst keiner da ist. Und sich Hilfe suchen, wo immer möglich.
Zurück möchte die 20-Jährige nicht. Die Straße ist ihr längst fremd geworden. Zumal die Omnipräsenz des Smartphones das Leben auf Platte zunehmend verändert. Die Gemeinschaften bröseln, werden fluider. Es gibt weniger fixe Treffpunkte, mehr spontane Verabredungen, mehr provisorisches Wohnen. „An den Hotspots der Szene treffen wir Streetworker kaum noch jemanden“, sagt Müller. „Die Kids tauschen sich mobil aus, bei wem sie nachts unterkommen können.“ Umso wichtiger ist mittlerweile die Online-Plattform „Sofahopper.de“ von „Off Road Kids“, um mit den Jugendlichen in Kontakt zu kommen.
Neko muss los. Sie wirft die Jacke über, zieht die Kapuze über die Haare. Es gibt noch viel zu tun. Das WG-Zimmer einrichten, ihre Gesundheit in Schuss bringen, die Therapie durchziehen. „Das Wichtigste ist für mich gerade die Selbstfindung: Wer bin ich? Was will ich im Leben?“ Danach ist Zeit für Zukunft. Realschulabschluss in der Abendschule, eine Ausbildung vielleicht, ein „Job, auf den ich Bock habe und ohne ätzenden Chef“.
„Mach Schritt für Schritt“, sagt Müller. Und da sind ja noch all die Kleinigkeiten, die Neko nie gelernt hat, wie sie sagt. Mit Geld umgehen zum Beispiel oder gut geplant günstig einkaufen. „Auf der Straße war uns das völlig egal.“ Neko schnappt die Hundeleine, umarmt Benthe Müller. „Bis nächste Woche.“ Jetzt aber los. Heute Abend ist Treffen in der WG. „Ein paar Folgen ‚Breaking Bad‘ schauen.“
„enorm“ nennt sich „das Magazin für den gesellschaftlichen Wandel“. Es will Mut machen und unter dem Claim „Zukunft fängt bei Dir an“ zeigen, mit welchen kleinen Veränderungen jeder Einzelne einen Beitrag leisten kann.
PS: Bei dieser Kooperation fließt kein Geld. Krautreporter und „enorm“ tauschen Beiträge aus, wenn es passt.
Redaktion: Theresa Bäuerlein. Schlussredaktion: Vera Fröhlich. Bildredaktion: Martin Gommel (Aufmacher: unsplash / Jon Tyson).