Ein Workshop ohne Lügen, aber mit Peinlichkeiten

© Martin Gommel

Leben und Lieben

Ein Workshop ohne Lügen, aber mit Peinlichkeiten

Wir lügen alle jeden Tag. Wie verändert sich die Welt, wenn ich damit aufhöre und allen Menschen sage, was ich wirklich denke? Ohne Rücksicht auf Verluste. Eine Odyssee in drei Teilen.

Profilbild von Esther Göbel
Reporterin für Feminismus

11.58 Uhr. Endlich antwortet mein Kollege Josa.

Er ist die zweite Testperson auf dem Weg zu meinem radikaleren Ich. Ohne, dass er davon weiß. Eine Woche lang wollte ich nicht lügen, sondern ehrlich sein. Ohne Umschweife sagen, was ich gerade denke und fühle. Mein persönliches Sozialexperiment. Also kritisierte ich Josas Arbeit an seinem Text klar und deutlich, ich knallte ihm die Worte in den Redaktionschat.

Josa brauchte 25 Minuten, bis er auf meine Kritik einging. 25 Minuten, in denen ich mir den Kopf zerbrach, was meine Ehrlichkeit wohl in ihm auslösen und welche Konsequenzen sie nach sich ziehen würde. Ich war mir sicher, er wäre sauer, würde meine Kenntnisse als Redakteurin infrage stellen, meine Kritik abkanzeln, zum Gegenangriff übergehen.

Und dann schreibt Josa zurück: „Oh nein! Tut mir leid!! Mein Schreibprogramm macht die Satzzeichen so, ich weiß nicht, wie ich es umstellen kann. Dann lass es noch mal so, und ich tausche sie aus, ok? Sorry, liebe Esther!“

Ich hatte mich vollkommen umsonst verrückt gemacht! Und absolut nicht mit dieser Reaktion gerechnet.

Vielleicht ist es doch nicht unmöglich, radikal ehrlich zu sein? Vielleicht ist das sogar besser, als ständig abzuwägen, was und wenn, wie man es sagen soll? Zumindest denke ich das jetzt – noch.

„Jedes Mal, wenn du eine falsche Emotion vortäuschst, lügst du“

Wenn jemand Antworten auf diese Fragen weiß, dann Selina, 32, und Christoph, 33. Die beiden sind die Initiatoren des Workshops, zu dem ich nach München gefahren bin. Selina arbeitet als Coachin, Christoph als Kommunikationstrainer und Fotograf. Jetzt sitzen die beiden mit mir in einem Stuhlkreis in einem stickigen Raum mit niedriger Decke, irgendwo in der Münchner Innenstadt. Fünf Männer und fünf Frauen blicken sie erwartungsvoll an, einige von ihnen sind schon geübter darin, radikal ehrlich zu sein.

Selina trägt ein blass-rosa Neckholder-Kleid, ihr Gesicht sieht weich und empathisch aus, kein Make-up, die hellbraunen Haare fallen ihr wellenartig auf die Schultern. Die Sanftheit in Person. Christoph, ihr Partner, sitzt schlaksig in schwarzer Hose und grauem Hemd auf dem Stuhl neben ihr, die Beine gespreizt, sein Gesicht ist genauso schmal wie seine restliche Statur, einzig seine Stimme fällt auf: laut, tief, raumgreifend. Auf Kante als Pendant zu Selina.

„Lügen macht uns krank“, sagt Christoph zur Einführung, „auf dieser Annahme fußt Radical Honesty. Zu lügen ist die Ursache für Stress und Krankheiten.“

Aufmerksame Blicke im Raum. „Jedes Mal, wenn du falsche Emotionen vortäuschst, um deine wirklichen zu verheimlichen, lügst du“, fährt er fort. „Wir sind Vortäuschungsmaschinen. Es geht aber bei Radical Honesty darum, deine wahre Lebensgeschichte zu zeigen. Wir lernen hier, mit den Konsequenzen umzugehen.“

Stilles Nicken der Anwesenden. „Radikale Ehrlichkeit bedeutet, von meiner Wirklichkeit zu berichten, über das, was ich jetzt gerade erlebe. Das Konzept will uns aus dem Gefängnis unseres Verstandes befreien.“

Radikal ehrlich sein gegen Erektionsprobleme

Dann sieht Christoph uns allen eindringlich in die Augen.
„Warum bist du nicht ehrlich in manchen Momenten?“, fragt er.
„Aus Angst, sich falsch zu entscheiden“, sagt eine junge Frau Ende 20. „Aus Angst, bloßgestellt zu werden“, der Mann neben ihr.
„Aus Angst, abgelehnt zu werden“, wirft ein weiterer Teilnehmer ein. „Aus Angst zu enttäuschen“, sagt eine weitere Stimme.
„Aus Angst, jemanden zu verletzen“, sage ich.

Christoph schreibt alle Angst-Sätze auf ein Whiteboard, das zwischen ihm und Selina steht. „Das sind alles Gedankenkonzepte, die ihr entwerft, um euer Leben zu kontrollieren. Und größer als all das“, sagt er, „ist unsere Angst vor negativen Empfindungen in unserem Körper, die wir nicht mögen.“

Dann erzählt er seine eigene Geschichte. Von seinen Komplexen auf Frauen bezogen und wie er jahrelang versuchte, dagegen anzukämpfen: Wie er als Fotograf erfolgreich war, schöne Frauen ablichtete, dazu als Kickboxtrainer den harten Kerl markierte, mit Poker Geld gewann. Er, der erfolgreiche Christoph, der vor lauter Unsicherheit keinen hochkriegte, wenn er neben einer Frau im Bett lag. Der dachte, mit Prostituierten üben zu müssen, sich in Schulden verstrickte.

Ich blicke beschämt zu Boden. Zu viele Details. Ach nee, erinnere ich mich, wir sind ja in einem Seminar für radikale Ehrlichkeit. Da geht es ohne solche Details nicht. Unwohl fühle ich mich trotzdem.

Christoph fährt fort. Er sei im Internet auf Radical Honesty gestoßen, ausgerechnet, als er eigentlich nach effektiven Flirttipps suchte. Er habe dann sofort ein Online-Seminar bei Brad Blanton belegt, dem „Erfinder“ der radikalen Ehrlichkeit, und danach noch einen einwöchigen Kurs in Griechenland. Seitdem lebe er nach Blantons Konzept. „Es ist die lohnendste Sache, die ich kenne“, sagt Christoph abschließend.

„Ich wünsche mir heute viele Umarmungen“

Ich bin skeptisch. Für mich hört sich diese Geschichte zu sehr nach Werbebroschüre an. In der Theorie mag all das stimmig klingen, denke ich – doch wie überwinde ich die Angst vor mehr Ehrlichkeit? Wenn es so einfach ist, wie Christoph seine Geschichte schildert, wieso sitzen wir dann hier?

Was wir uns von diesem Tag erhoffen, soll nun jeder in der Runde sagen. „Ich wünsche mir heute viele Umarmungen“, sagt eine.
„Ich will bemuttert werden. Vielleicht kann mir jemand später den Bauch kraulen?“, fragt ein schnittiger, durchtrainierter Typ in Achselshirt und kurzer Hose in die Runde, der aussieht, als würde er auf einer Party jede Frau im Handumdrehen klarmachen.
„Ich will gern in der Pause knutschen, und ’ne Nackenmassage wäre auch schön“, sagt ein anderer selbstbewusst.

Wie bitte?

Ich frage mich im Stillen, ob ich ehrlicherweise genau jetzt aufstehen und gehen sollte. Ich will nicht knutschen, ich will niemandem den Bauch kraulen und umarmt werden will ich auch nicht – was ich auch genau so äußere, als ich an der Reihe bin und meine Erwartungen mitteilen soll. Zum Glück nennt eine junge Teilnehmerin vor mir doch noch einen ernst zu nehmenden Grund dafür, dass sie auch in diesem Stuhlkreis sitzt: „Ich will aus meiner Depression rauskommen. Vielleicht hilft das hier.“
„Ich will lernen, mehr zu sein, wie ich wirklich bin“, sagt eine andere.
„Ich wünsche mir innere Freiheit“, sagt ein weiterer Teilnehmer.
„Ich bin einfach neugierig“, sage ich.

Warum ist es so schwer, sich einfach nur anzuschauen?

„Bitte steht jetzt auf“, sagt Selina, nachdem alle Teilnehmer ihre Wünsche ausgesprochen haben. „Wir wollen unsere erste Übung machen.“

Jeder aus der Gruppe soll sich wahllos eine zweite Person schnappen, beide sollen sich ein paar Minuten lang in etwa einem Meter Entfernung voneinander gegenüberstehen und anschauen. Es geht noch nicht um Sprechen, nur um Wahrnehmen. Easy, denke ich. Bis Selina vor mir steht.

Sie blickt mir freundlich in die Augen, offen – aber ich bin tierisch nervös. Ich kann ihrem Blick nur schwer standhalten, ich schaue weg, auf den Boden, in die Luft, ich rudere mit den Armen, weiß nicht wohin mit ihnen, ich schwitze, mein Kleid klebt mir am Rücken, Herrgott, wieso ist das so unangenehm?!

Selina lächelt, als wolle sie sagen: „Entspanne dich, es ist alles okay.“ Und doch: Mein Puls geht schneller, mein Magen ist flau. Zuviel Nähe mit einem Wildfremden. Ich will mich verstecken. Wann bricht Christoph denn endlich diese Übung ab?

Als es irgendwann, gefühlt nach hundert Jahren, soweit ist, atme ich spürbar laut aus, schüttle mich, muss lachen. Die Anspannung fällt von mir ab. Selina lacht auch. Wir sollen uns jetzt noch gegenseitig sagen, wovor wir während der Übung Angst hatten. Selina sagt: „Ich hatte Angst, du könntest sehen, wie müde ich bin.“ Ich lache, ihr Satz klingt so niedlich. Und antworte: „Ich hatte Angst, dass ich irgendetwas Peinliches im Gesicht haben könnte, oder dass du mich hässlich finden würdest.“

Das Verrückte ist: Nachdem wir so offen zueinander waren, ist meine Angst weg. Der Moment hat etwas sehr Erleichterndes, ich finde Selina noch sympathischer als vorher. Ich kann die Entspannung fühlen, von der Christoph zu Beginn des Workshops sprach, und die sich ihm zufolge einstellen würde, sobald wir ehrlicher wären als normalerweise.

Ermutigt und fast euphorisch gehe ich in die zweite Übung. Wieder sollen wir einem anderen aus der Gruppe gegenüberstehen, ihn oder sie anschauen. Aber diesmal erhöht sich der Schwierigkeitsgrad: „Sagt, was ihr seht beim anderen – und was ihr euch dazu vorstellt!“, lautet die Anweisung. Die Übung dient dazu, zwischen Wahrnehmung und Gedanken zu differenzieren, eigene Projektionen mit der Wirklichkeit abzugleichen. Wie viel von dem, was ich glaube zu sehen, ist wirklich da – und wie viel nur ein vorgefertigter Gedanke in meinem Kopf? Wir sollen unsere Gedankenmuster hinterfragen, die laut Christoph den Weg zu unseren wirklichen Gefühlen verstellen.

Gockel sagt zu mir, meine Beine hätte ich wohl länger nicht mehr rasiert

Ich muss meine Übung ausgerechnet mit einem Teilnehmer machen, von dem ich nach dem ersten scannenden Blick in der Begrüßungsrunde dachte: „Aha, Kategorie junger Münchner Gockel. Kariertes Hemd, offen bis fast zum Bauchnabel, dazu auch noch den Kragen hochgestellt. Will hier besonders cool sein. Kommt vielleicht daher, dass er nicht so groß ist.“

Wir stellen uns gegenüber auf. Der Gockel hat ein sehr gewinnendes Lächeln, denke ich. Gar nicht gockelig. Dann geht es los. Mir ist tierisch heiß. Ich will nicht, dass er über mich urteilt – mich beurteilt.

Er fängt an: „Ich sehe dein blaues Kleid und stelle mir ein Kornfeld im Sommer vor.“ (Oh, schön!)
Ich: „Ich sehe dein Hemd und stelle mir vor, dass du das bestimmt auch so trägst, wenn du Mädchen aufreißen willst.“
Er: „Ich sehe deine Augenbrauen und stelle sie mir in grün vor.“ (Hä?)
Wir lachen beide.
Ich: „Ich sehe deine Hände und stelle mir vor, dass du sicher einen festen Händedruck hast.“
Bis hierhin alles nett, alles gut.
Aber dann sagt Gockel:

„Ich sehe deine Beine und stelle mir vor, dass du sie schon seit ein paar Tagen nicht mehr rasiert hast.“ (Wie bitte? Ich blicke erschrocken an meinen Beinen herunter und will vor Scham im Boden versinken. Lange war mir eine Situation nicht mehr so peinlich. Oh Gott! ) Gockel schließt kurz die Augen und nickt fast unmerklich, dabei lächelt er, als wolle er sagen: „Hey, ist doch nicht schlimm.“
Ich: „Ich sehe deine Hände und stelle mir vor, dass du deine Fingernägel vielleicht schon länger nicht mehr geputzt hast.“ Jetzt muss Gockel auch lachen, und sieht peinlich berührt aus.

Gockel wird mir immer sympathischer; Offenheit verbindet, denke ich. Und es ist gut, den peinlichen Moment überstanden zu haben. Ehrlich zu sein macht Angst – aber schenkt auch Freiheit. Meine Angst, negativ bewertet zu werden, war letztlich größer als der peinliche Moment in der Realität.

Immer zu den eigenen Gefühlen stehen, ist das nicht egoistisch?

Und ich verstehe: Es geht bei dem Konzept radikale Ehrlichkeit nicht um eine generalisierte Wahrheit. Es geht um Aufmerksamkeit und Achtsamkeit. Darum, den Kopf mit all seinen Gedankenmustern auch mal abzustellen, um so die eigenen Gefühle besser wahrnehmen zu können. Denn die entstehen nicht nur aus uns selbst heraus – sondern orientieren sich auch an Normen, gelernten und über Jahren kultivierten Mustern. Und diese können oft so stark sein, dass sie die eigenen Gefühle überdecken.

Radikal ehrlich sein, das verstehe ich langsam, bedeutet aber nicht nur, ehrlich nach außen zu sein, sondern auch nach innen. Sich unabhängig von Gedankenmustern die eigenen Bedürfnisse einzugestehen. „Radikale Ehrlichkeit heißt: Ich stehe immer zu meinen Gefühlen“, erläutert Selina im Anschluss an die Übung.

„Aber ist das nicht auch ganz schön egoistisch?“, frage ich zweifelnd. „Doch, ja“, antwortet Christoph.
„Aber radikal ehrlich sein heißt nicht, impulsiv zu sein“, erläutert Selina. „Sondern?“, frage ich. „Woher weißt du, was du am Ende aussprichst und was nicht?”
„Gerade die Dinge, vor denen ich mich fürchte, sie auszusprechen, zum Beispiel in der Beziehung, erzähle ich Selina“, sagt Christoph. „Ich gehe dahin, wo die Angst sitzt.“

Schon mutig, denke ich. Bloß wie ich aus dem Egoismus-Dilemma herauskomme und wie ich es schaffen soll, meine Ängste zu überwinden, um vielleicht in Zukunft ehrlicher formulieren zu können, was ich will und denke, oder um mir einzugestehen, wie die Welt wirklich ist (ja, meine Sommerhose aus dem vergangenen Jahr sitzt wirklich ziiiieeeemlich eng, ich kriege Bauchschmerzen, wenn ich sie trage!) und nicht, wie ich sie sehen will (bestimmt ist die Hose einfach nur eingelaufen in der Wäsche, ich habe doch nicht zugenommen!), diese Frage kann Christoph mir nicht beantworten.

Bei dem Workshop in München habe ich meine Zweifel, ob es wirklich sinnvoll ist, Gockel zu sagen, dass ich ihm sein Hemd übel nehme.

Bei dem Workshop in München habe ich meine Zweifel, ob es wirklich sinnvoll ist, Gockel zu sagen, dass ich ihm sein Hemd übel nehme.

Auch nicht, wie das Konzept radikale Ehrlichkeit außerhalb eines intimen Zweierraums funktionieren soll, in jenem Außen, in dem doch die Regeln der Diplomatie gelten, damit eine Gesellschaft funktioniert: Rücksichtnahme, Normen, Kompromisse. Und selbst in einer Paarbeziehung hat die Wahrheit oftmals eher die Wirkung einer Bombe statt eines Boosters – oder warum war Brad Blanton, der Godfather des Radical Honesty-Konzepts, mindestens fünfmal verheiratet?

Er schreit mich an: „Du erinnerst mich an meine Mutter!“

Wie schwierig radikale Ehrlichkeit in der Gruppe ist und auch, wie belastend sie für eine Gemeinschaft sein kann, zeigt sich am Ende des Workshop-Tages in der Feedbackrunde. Reihum darf jeder seine Meinung und seine Gefühle mitteilen, unter Selinas Anleitung. Denn die eigenen Gefühle richtig zu äußern, hat auch viel mit kommunikativen Fähigkeiten zu tun. Ich-Botschaften sind besser als „Du sagst, du bist, du ärgerst mich“ zum Beispiel.

Gockel macht den Anfang, strahlt in meine Richtung und sagt: „Ich freue mich, dass ich Esther hier getroffen habe und wir uns in der Pause gut unterhalten haben!“

Huch! Damit hatte ich gar nicht gerechnet! Jetzt freue ich mich auch, und das will ich äußern: „Ich freue mich über dich!“, sage ich in Gockels Richtung, „vor allem, weil ich am Anfang gar nicht gedacht hätte, dass wir uns so gut unterhalten würden, wegen deines Hemds!“ (Kleiner Scherz).

Die anderen lachen, Gockel lacht auch. Aber Selina will nun, dass ich sage: „Gockel, ich nehme dir dein Hemd übel.“

Was? Ich schaue sie an, ich will das so nicht sagen – für mich sind diese Worte zu stark. „Es stimmt aber“, sagt Selina. „Du hast dich aufregt über das Hemd. Du hast es ihm übelgenommen.“

Alles in mir sträubt sich. Das ist doch lächerlich, denke ich. Erst später verstehe ich, was Selina damit bezweckt: Ich soll lernen, mein Gefühl – das Hemd von Gockel stößt mich ab – auch dann zu formulieren, wenn ich es beispielsweise aus Gründen der Höflichkeit dem anderen Gegenüber eigentlich nicht tun würde. Selina lässt nicht locker. Also hole ich zweimal tief Luft, mir ist die Situation peinlich, aber dann sage ich zähneknirschend: „Gockel, ich nehme dir dein Hemd übel.“

Woraufhin zwei Stühle weiter ein Typ in meine Richtung guckt, mir voller Wut in die Augen sieht und zu mir sagt: „Ich ärgere mich total über dich. Wie du mit Gockel redest!“

Mir rutscht das Herz in die Hose. Habe ich mich grade verhört, oder was? Ich habe mit diesem Typen kein einziges Wort gewechselt! Was will der jetzt von mir? Es ist der Typ, der zu Beginn des Workshops in der „Wunschrunde“ sagte, dass er gern in der Pause knutschen wolle – und damit derjenige von allen Teilnehmern, der mir von Anfang an am unsympathischsten war.
Er schnauft hörbar, sein Blick fixiert mich. Er sieht aus, als pumpe er seine Wut gerade aus seinem Bauch in sein Gesicht hinein.
„Ja, gut so“, lobt Selina ihn, „sag Esther, was du wirklich denkst, was dich stört!“
What?, schaltet sich mein Kopf ein.
Sagen soll ich aber laut Selinas Anweisungen nichts, nur zuhören. „Ich denke“, sagt der Typ allen Ernstes an mich adressiert, „dass ich überhaupt keinen Bock habe, dich anzuschauen! Ich mache das nur für die Übung!“
Ich starre ihn fassungslos an. Merke, wie ich zu schwitzen beginne. Wie ich hilfesuchend zu Selina blicke, die aber keinen Anschein macht, die Übung abzubrechen.
„Deine Stimme“, fährt der Typ fort und gerät immer mehr in Rage, „diese Piepsstimme! Und wie du die ganze Zeit mit den Armen fuchtelst!“ Er blickt mich an, als würde er gleich aufspringen und mir eine runterhauen. Dass er ungefähr zwei Köpfe größer ist als ich, macht die Sache nicht besser.

Spinnt der jetzt?, denke ich. Wieso sagt Selina nichts? Oder Gockel? Ich rudere außerdem gar nicht mit den Armen!
„Du erinnerst mich an meine Mutter!“, ruft der Typ. Es klingt, als würde er den Satz vor mich auf den Boden spucken.


Wie wird die Situation im Workshop weitergehen? Werden der Typ und ich am Ende prügelnd auf dem Boden liegen? Und wie wird mein Experiment enden? Das könnt ihr im dritten Teil meiner Serie „Die ganze Wahrheit“ lesen.


Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion und Porträts: Martin Gommel.

Ein Workshop ohne Lügen, aber mit Peinlichkeiten

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