Berlin Adlershof. Ein weißgekalktes Gemäuer, voll mit Schubladen und Metallteilen, alten Maschinen, Buchstaben und bedruckten Blättern, Plakaten, Büchern. Es riecht nach Öl und Papier. Im Zentrum des hellen Raumes thront über zwei Stockwerke hinweg eine tonnenschwere Maschine aus Metall. Sie sieht wie eine überdimensionierte Schreibmaschine aus. Es ist eine Johannisberger Schnellpresse von 1924, auf der (wahrscheinlich) die Weltbühne gedruckt wurde, eines der wichtigsten Blätter der Weimarer Republik, die Zeitung Kurt Tucholskys.
Dieses Ehrfurcht gebietende Gerät musste mit einem Kran durch die Decke gehievt werden, erzählt der Drucker Daniel Klotz, der die Maschine vor einigen Jahren mit seinem Vater Herbert in Potsdam fand, rettete und restaurierte – mit Unterstützung von Erik Spiekermann. Der steht nun auch in der Tür, beginnt sogleich, in den Papieren zu kramen, Buchstaben aus Metall und Holz zu befingern und zu verhandeln, ob die ein oder andere hundert Jahre alte Schrift nicht viel besser bei ihm in der Potsdamer Straße aufgehoben sein könnte, dann wäre sie wieder komplett! In Spiekermanns Redefluss geht es um Schrift, Material und Handwerk, meinungsfest, klug und unterhaltsam, und ich beginne schnell die Aufnahme, um möglichst viel davon zu erhalten.
Erik, vor ein paar Wochen bist du mit einer Idee zu uns gekommen. Welcher?
Die Idee war: Wir drucken Krautreporter. Dafür gab es zwei Gründe. Erstens finde ich, dass ihr so viele Geschichten habt, die aufgehoben werden sollten. Im Digitalen kann man zwar alles suchen, aber nichts finden. Zeitungsdruck ist genau das Gegenteil – man legt die Zeitung ins Regal oder in die Schublade und kann sie jederzeit wieder greifen. Weil ihr so wertvolle Inhalte habt, die ich gern jemandem gezeigt hätte, dachte ich: Das müsste man drucken. Der zweite Grund: Wie das Leben so spielt, bin ich an dieser Riesenmaschine beteiligt, die hier neben uns steht. Wir haben immer nach etwas gesucht, das man darauf drucken könnte. Sie hat ein riesiges Format, das man eigentlich gar nicht verwenden kann. Aber vielleicht könnte man gutes altes deutsches nordisches Zeitungsformat darauf drucken? Die Seite ist dann 40 mal 57 Zentimeter, die Doppelseite 80 mal 57 Zentimeter. Vom kleinen Bildschirm – vom Telefon – zum gegenteiligen Extrem, zum Papier. Diese Idee fand ich als Gestalter und als Leser interessant.
Du hast in den letzten Jahrzehnten für deine Auftraggeber vor allem digital gearbeitet. Was zieht dich zurück zum Handwerklichen und Handgemachten?
Das Handwerkliche und Handgemachte eben! Dass wir eben doch Menschen sind und nun mal nicht aus Bits und Bytes bestehen, sondern aus Fleisch und Blut. Wir wollen anfassen, wir wollen in die Hand nehmen. Bei Zeitungen hat mich immer schon begeistert, dass man Sachen findet, die man nicht gesucht hat. Man schlägt eine Zeitung auf und findet etwas rechts unten. Und dann liest man, weil es da ist. Auf dem schmalen Bildschirm dagegen muss man alles suchen. Das entspricht nicht unserer menschlichen Haltung. Die Zeitung ist schulterbreit. Wir können das Handy zwar in die Hand nehmen, aber es entspricht nicht unserem Blickwinkel, wir müssen mit einem Auge lesen. Und wir haben eben hier diese Hardware, die Riesenmaschine. Seit 1926 steht sie hier, die geht auch in den nächsten hundert Jahren nicht kaputt. Das Metall hält. Aber was kaputt geht, ist das Wissen. Ich kann noch setzen und drucken, aber dieses Handwerk stirbt aus.
Beschreibe bitte mal die Druckmaschine, neben der wir stehen.
Das ganze Ding ist fünf oder sechs Meter lang und über drei Meter hoch; es wiegt viele Tonnen. Um es zu bedienen, steigt man Treppen rauf bis in den zweiten Stock. Ganz unten nimmt ein großes Schwungrad die Kraft des Motors auf. Senkrechte Räder übertragen sie in eine waagrechte Bewegung. Wie bei einer Lokomotive gibt es Pleuelstangen, die langsam anfangen und sich allmählich hochschaukeln. In der Maschine schwappt über ihre sechs Meter Länge auf großen Schienen offen das Öl. Darauf bewegt sich ein Wagen, auf dem das Blei oder Holz der Schrift liegt. Oben, drei Meter höher, ergreift eine pneumatische – also mit Luftdruck geführte – Papieranlage das Papier mit Saugern und führt es auf eine Bahn, auf der es heruntergleitet. Jeder Bogen hält einmal kurz inne, bevor er von der Maschine gegriffen wird und sich um die Zylinder herumwickelt. Das Papier gleitet zwischen dem Zylinder und dem Schlitten ein, wird bedruckt und nach hinten wieder ausgetragen. Vorn sind ungefähr ein Dutzend Farbwalzen, wo Farbe aufgetragen und verrieben wird. Das alles muss man von Hand einstellen. Da ist nichts Digitales, kaum Skalen. Da ist sehr viel Gefühl.
Die Maschine hat etwas Lebendiges.
Als wir sie vor drei Jahren das erste Mal angemacht haben, nachdem sie restauriert worden war, hatten wir alle Angst, dass Teile durch die Gegend fliegen. Wir haben alle das Gesicht weggedreht, dann habe ich den roten Knopf gedrückt. Die Maschine hat Luft geholt und sich entschieden: Ich arbeite heute. Sie fuhr langsam hoch, kriegte Schwung über die Treibriemen. Und dann fuhr sie wirklich. Als wenn ein Schiff vom Stapel läuft oder eine Lokomotive sich aus dem Bahnhof bewegt. Ein wirklich tolles Geräusch.
https://www.youtube.com/watch?v=ue0ZvXqlP20
Du bist neben einer Druckerei aufgewachsen und hattest schon früh Kontakt zu Druckmaschinen.
Ja, mit ähnlichen Maschinen bin ich groß geworden, nur wesentlich kleineren. Wir wohnten neben der Bonner Universitätsdruckerei. Dieses Schmatzen der Farbe auf dem Metall, diese Ansauggeräusche, dieses Luftholen und Luft-wieder-Ausatmen, das kommt einem bekannt vor, nie bedrohlich. Es sind sehr menschlichen Geräusche. Mit sieben oder acht Jahren stand ich neben einer kleinen Andruckmaschine. Der Setzer in seinem grauen Kittel hatte etwas in der Maschine liegen, wahrscheinlich eine Spalte aus der Zeitung. Diese Spalten werden aus Metall zusammengesetzt. Metallstücke füllen auch die Zwischenräume aus. Die Teile sind unterschiedlich alt, schwarz und rot, aus Aluminium oder aus Messing. Ein ziemliches Gewirr, auf das der Setzer Farbe draufwalzt. Das schmatzende Geräusch des Aufwalzens der Farbe habe ich noch lebhaft in Erinnerung. Dann hat er ein weißes Blatt Papier daraufgelegt, dann die Druckwalze darüber, dann die Hand zurückgenommen, das weiße Papier mit spitzen Fingern angefasst. Und dann war da plötzlich nur diese Schrift drauf.
Das müssen starke Eindrucke gewesen sein für dich als Kind.
Das kann ja nicht sein, dachte ich! Mein Vater war Lastwagenfahrer. Wenn er die Haube vom Büssing aufmachte, war ein Haufen Metall drin. So sah so eine Druckform auch aus, nur platt. Wie konnte aus so einem Haufen Metalldreck so ein bedrucktes Papier herauskommen? So ein weißes Blatt Papier, wahrscheinlich Warit-Papier, auf dem plötzlich ein für mich lesbarer Text entstand, obwohl der Setzer natürlich schmutzige Finger hatte – das habe ich nicht verstanden. Wie geht das denn, aus dem Dreck was Sauberes zu holen? Per aspera ad astra („Über raue Pfade gelangt man zu den Sternen“). Das war ein Erweckungserlebnis. Es hat mich nachhaltig beeindruckt.
Fast magisch – da steht so ein Riesen-Trumm, und hinten kommt ein Kunstwerk raus.
Es fängt an mit dem Gedanken. Man denkt ihn, dann schreibt man ihn mit dem Stift auf – harmlos, fast unsichtbar. Der Setzer wandelt ihn in Metall um. Dann aber kommt der Gedanke in diese unförmige Maschine. Als Kind stehst du vor dieser Maschine, die dir über den Kopf reicht, und hinten aus diesem komplexen Monstrum kommt dein Gedanke immer wieder raus, so klein wie du ihn reingedacht hattest. Das ist schon eine erstaunliche Wandlung.
Diese Faszination für das Drucken und das Gedruckte kommt bei dir also aus dem Bauch, nicht aus dem Kopf.
Es ist eine Entschleunigung, die beim elektronischen Lesen kaum noch möglich ist. Wenn ich Krautreporter lese, dann lese ich es am Stück, meistens morgens, wenn es frisch da ist. Aber wenn dich zwischendurch einer stört, dann ist dein Telefon aus, du fängst nicht wieder von vorn an. Dieses Zeug, was aus so einer Maschine kommt, lässt man liegen, und ich kann jederzeit wieder eintauchen. Das ist weg beim Elektronischen. Ich bin beileibe kein Bilderstürmer, aber das ist der Anlass für dieses Projekt.
Das klingt aber doch ein wenig kulturpessimistisch. Alles wird schneller, stressiger, alles wird weniger langlebig und so weiter. Dabei arbeitest du ja sehr digital. Du warst der erste, zumindest in Deutschland, der in deinem Beruf mit dem Mac arbeitete.
So ist es, 1985. Umso wichtiger ist es, dass wir diese neue Langsamkeit entdecken. Das Analoge ist einfach ein menschliches Bedürfnis. Wir schmieren unser Brot selbst, kochen Essen selbst, essen am liebsten Fleisch von Tieren, die wir selbst gesehen haben. Solche Bewegungen gibt es momentan an vielen Stellen, die gehören zusammen. Ein bisschen ist es Nostalgie, ein bisschen Provinzialismus, sicher ist es auch ein Luxus-Problem. Und gewisse Leute interessiert das nicht. Die sind froh, wenn sie überhaupt was zu lesen kriegen. In der Kette sind mehrere involviert. Was du schreibst, kann man ja nicht lesen. Ihr seid Schreiber, wir Gestalter machen eure Gedanken sichtbar, und ein Drucker produziert es. In dieser Kette sieht man etwas mehr als im digitalen Prozess, wer involviert ist. Wenn die Texte für die Ewigkeit sein sollen, dann sind sie auf Papier besser aufgehoben.
Viele Designer wollen von uns Schreibern lieber nicht gestört werden in ihrer Kunst.
Dann sind die im falschen Beruf. Ich sehe mich als Dienstleister für den Text. Ich gestalte als Vermittler, als Übersetzer zwischen dem Schreiber und dem Rezipienten. Natürlich bringe ich die ästhetische Dimension rein; das ist mein Auftrag, und das kann man auch als Kunst bezeichnen. Aber wenn ich Künstler wäre, würde ich ja nicht deine, sondern meine Inhalte gestalten. Deswegen würde ich mich nie im Leben als Künstler bezeichnen, nur weil ich mit künstlerischen Mitteln arbeite. Visualisieren ist Kunst, aber ich bin kein Künstler.
Du hast für die größten Marken des Landes gearbeitet. Du bist der bekannteste Gestalter Deutschlands. Du wirst sicher nicht schlecht bezahlt. Und wir stehen neben dieser Maschine, auf der mal die Weltbühne gedruckt worden ist, die Zeitung Tucholskys, Ossietzkys. Größer geht’s eigentlich nicht im deutschen Journalismus. Für uns ist das fast ein bisschen zu viel, auf jeden Fall ist es Ehrfurcht einflößend. Was findest du interessant an dieser Arbeit mit Krautreporter?
Was die Herren damals geschaffen haben, sehen wir heute als großartig. Was ihr schafft – vielleicht ist dir das jetzt etwas peinlich – ist auch großartig. Erstmal finde ich beim Namen Krautreporter den Humor witzig. Ich selbst habe ja das „Kraut-Sourcing“ erfunden. Eure Inhalte sind gut. Journalismus heißt ja für mich, einem Inhalt auf den Grund gehen, auch indem ihr Leute instand setzt, auch finanziell, um sich zwei bis drei Wochen mit einem Thema zu beschäftigen, in die Tiefe zu gehen. Davon profitiere ich unheimlich. Beides ist Kultur und Information, und ich will das unterstützen. Deswegen war ich von ganz zu Anfang dabei. Weil ich die Grundidee großartig fand, und weil es unheimlich nötig ist, dass es Journalisten gibt – und es gibt ja auch woanders welche –, die es die angesichts von „fake news“ als ihre Aufgabe ansehen, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Das tut ihr. Ich finde, das ist es wert, auch mit meinen Mitteln verbreitet zu werden. Du wirst damit ja auch nicht reich, keiner von euch wird reich. Man macht es, weil man ein Gewissen hat. Ich habe genügend großen Industrieunternehmen gedient. Mit diesen intellektuellen Inhalten umzugehen, die uns allen nutzen, finde ich eine wesentlich wertvollere Aufgabe. Und dabei diese Fertigkeiten und Gerätschaften nicht nur zu erhalten, sondern wieder nutzbringend anzuwenden. Das ist der kleine Mehrwertbereich zwischen Kultur und Wahnsinn.
Eben haben wir uns einige aus Holz gefräste Buchstaben aus den 30er Jahren angeschaut, die zu einer Schriftart gehören, der Reporter. Das ist der Font, den du verwenden willst, um den Kopf der gedruckten Krautreporter-Ausgabe zu machen. Wofür steht die Schrift?
Das ist ein In-Joke. Wir nehmen eine Schrift, die Reporter heißt, weil sie aussehen sollte wie das, was ein Reporter damals noch mit dem Bleistift geschrieben hat. Eine schnell geschriebene Schrift mit einem Pinselstrich. Der Name Reporter sollte dem Schriftkäufer sagen: Damit kannst du die eiligen Mitteilungen gut darstellen. Dass die eine Schrift Block und die andere Helvetica heißt, hatte gute Gründe. Denn bei Block weiß man, die steht ordentlich und die geht nicht kaputt. Bei Helvetica kauft man die ganze Schweiz als ästhetischen Überbau mit. Der Name ist total raffiniert. Die Reporter-Schrift wurde eher für Gewerbliches verwendet, Schilder im Schaufenster zum Beispiel.
Warum wollte man damals einen Pinselstrich imitieren? Es gab doch tatsächlich noch Plakatmaler.
Ja, aber die konnte man ja nicht vervielfältigen. Diese Pinselschriften sind auch heute wieder in Mode. Es wird so getan, als sei es von Hand geschrieben. Stelle eine Schiefertafel an die Landstraße. Wenn „Frischer Spargel“ in Helvetica gesetzt ist, fährst du dran vorbei. Wenn das aber der Bauer mit der Hand in Kreide schreibt, hältst du an. Dann ist der Spargel frisch. So war die Reporter auch. Sie sagt: Gerade frisch angemalt. Ist natürlich Quatsch, aber es handelt sich um ästhetische Mitteilungen. Das ist der Rumpelstilzchen-Effekt: Wie gut, dass niemand weiß, warum Reporter Reporter heißt. Das ist ein Joke, den wir uns leisten. Im Englischen sagt man „tongue in cheek“ („nicht ganz ernst gemeint“), diese Selbstironie, die ja bei euch in dem Kraut schon gegeben hat, da legen wir noch einen Typographischen drauf.
Deine berühmteste Schrift, die Meta, benutzen wir auf der Krautreporter-Seite als Überschriften-Font. Ist das in deinem Sinn?
Man macht ja Schriften, damit andere Leute damit umgehen. Man gibt sie bewusst weg. Wenn du ein Essen kochst, weißt du ja nicht, ob es dem anderen schmeckt. Meta Serif war als Alternative zur allgemeinen Times gedacht, normale Umgangsschrift, vielleicht ein bisschen kräftiger, dass sie ein bisschen mehr aushält, uneitel. Ich bin immer wieder beglückt, wenn Leute damit umgehen, so wie das Thomas (gemeint ist Krautreporter-Gestalter Thomas Weyres) gemacht hat. Fett, kurze Überschriften, gut gegliedert, das hat mir schon immer imponiert. Krautreporter wurde ja von Anfang gestaltet, war gut gemacht, das hat mir immer schon gefallen. Schwarz und rot. Lila oder eine andere Farbe hätte ich vielleicht nicht weitergelesen.
Dein Vorbild als Typograf ist Louis Oppenheim, ein jüdischer Schriftgestalter, der vor dem Krieg in Berlin arbeitet. Beziehst du dich häufig auf die Vorkriegsjahre?
Was mir imponiert, ist die pragmatische Herangehensweise in dieser Zeit, die Einfachheit, die auch aus Produktionsgründen kommt. Ich habe ja auch mal Setzer gelernt. Da machst du so raffinierten Kram nicht, weil das viel zu lange dauert. Wenn du in einer Stunde drei Sachen schaffst, kriegst du dreimal so viel Geld, als wenn du nur eine Sache schaffst. Man hat das genommen, was da war. Man hat was gemacht, was nicht kaputt geht. Die Block – die Schrift, die ich schon erwähnt habe – ist so ein bisschen unscharf, hat eine Vollkorn-Kontur. Die sieht schon kaputt aus, die geht nicht mehr kaputt. Eine Druckmaschine wie diese hier ist immer fertig. Dieses prä-kaputt hat mir immer sehr imponiert. Die erste Schrift, die ich digitalisiert habe, war eine Schrift von Oppenheim von 1913.
Oppenheim sah auch ein bisschen aus wie du.
Kahlkopp mit Brille, stimmt.
Ein Markenzeichen von dir sind die Farben Rot und Schwarz, in der du auch die Krautreporter-Ausgabe druckst. Auch die stehen ja für die Weimarer Zeit, als sich in Berlin die Rotfront mit den Braunhemden prügelte.
Das hat aber nichts mit den Zwanzigerjahren zu tun. Rot war ja das klassische Rubrum, womit man früher angestrichen hat; das ist ein bräunliches rot, fast schon Terrakotta, die Kreide. Außerdem ist es die Farbe der Liebe, gegen Rot kann wirklich keiner was sagen. Blau ist ja viel konsensfähiger, was man an uns beiden sieht, wir stehen hier in blauen Hemden, und die meisten Unternehmen der Welt haben blau als Hausfarbe. Auf Blau einigen sich die Betriebswirtschaftler, Ingenieure und Juristen immer gleich drauf, Beige oder Blau.
Gerade wird überall über die 68er geredet. Und ich trete dir sicher nicht zu nahe, wenn ich sage, dass du dieser Generation angehörst.
Ja, ich war dabei.
Der „neue Mensch“ war eine Utopie dieser Zeit. Wolltet ihr 68er nicht Schluss mit machen mit der Vergangenheit? Wie passt dazu dein Faible für die Zwanzigerjahre?
Die Zwanzigerjahre waren ja ein unheimlicher Neuaufbruch, für die Schriftgeschichte sowieso das Spannendste. Die Futura ist 1927 rausgekommen. Nach der ersten großen Weltkrise in unserem Bewusstsein, dem Ersten Weltkrieg, ist die Kunst doch explodiert, sowohl die bildende als auch die Theaterkunst. Die Weltbühne war eine Theaterzeitung. Die Zwanzigerjahre waren die Mechanisierung, die Telefonie, der Rundfunk, sogar die Anfänge des Fernsehens kommen alle aus dieser Zeit.
Wie viele Milliarden Reichsmark hat diese Maschine 1926 wohl gekostet?
In der Inflationszeit sicher einen Wäschekorb voll Geld. Wenn sie überhaupt Geld gekostet hat. Vielleicht haben sie sie auch gegen einen Sack Kartoffeln getauscht.
Wie viel hat der Geist der 68er auch mit unserem gemeinsamen Projekt zu tun?
Damals wurde viel gedruckt. Es gab immer eine Druckerei und eine Bäckerei. Essen und drucken musste man. Mein ganzes Leben lang hatte ich immer irgendwelche Maschinen rumstehen, im Keller, im Lager, auf dem Speicher irgendwo, und habe dafür selten Miete bezahlt. An eine Sitzung in der Falkensteinstraße erinnere ich mich. Bei mir saßen diverse Genossen aus diversen Fraktionen, und man sollte für diverse Aktionen um sieben Uhr morgens vor den Werktoren sein und Streikaufrufe verbreiten. Die verschiedenen Verbände haben stundenlang diskutiert. Irgendwann hatte ich die Schnauze voll, weil ich Frau und Kind hatte und ins Bett wollte. Ich bin dann in den Keller und hatte zwei Stunden später 2.000 Flugblätter gedruckt. Die Genossen haben gesagt: Halt, halt, wir sind doch noch gar nicht mit dem Text fertig. Worauf ich sagte: Ich muss jetzt ins Bett. Daran habe ich gemerkt, was der Besitz der Produktionsmittel ausmacht, wie ich es bei Karl Marx gelesen hatte. Das fanden alle total scheiße, aber auch total gut, denn dann konnten alle nach Hause gehen und ich ins Bett. Ich hatte eine Familie, deshalb habe ich auch immer kurz geschrieben.
Das war ja nicht die Spezialität der bekannten Namen in der 68er-Bewegung, das Sich-kurz-Fassen.
Weiß Gott. Was die sich abgestrampelt haben. Die hatten wohl 36 Stunden am Tag. Das ist heute noch in der deutschen Wissenschaft sehr verbreitet: Ein Satz muss möglichst unverständlich sein und möglichst viele Fußnoten haben. Ich wäre wohl etwas zu hemdsärmelig für die akademische Laufbahn gewesen.
Es geht bei deiner Arbeit immer um Kommunikation. Du bist eine Art One-Person-Social-Network mit Freunden und Bekannten überall auf der Welt. Was kommunizierst du mit diesem Projekt?
Dieses Ding ist sozusagen Meta-Kommunikation. Es ist eine Maschine, die für Kommunikation gebaut ist. Drucken ist die Vervielfältigung von Mitteilung, sie schafft also Kommunikation. Und ich kenne viele Leute, mit denen ich etwas zusammen gemacht habe. Dass ich so viele Leute kenne, liegt daran, dass ich fast 71 Jahre alt bin und in meinem Leben fast tausend Angestellte hatte. Und wenn man mit Leuten mal gearbeitet hat, hat man mehr Gemeinsamkeiten, als wenn man die Leute nur über Facebook kennt. Ich habe nie ein Netzwerk aufgebaut. Ich kenne einfach einen Haufen Leute, die ich gerne habe.
Wir freuen uns sehr auf diese Zeitung. Was kann ein Leser davon erwarten?
Für die inhaltliche Gestaltung bin ich ja nicht zuständig, das seid Ihr. Ich beschreibe mal die Zeitung: Ich nehme ein Blatt von der Größe der FAZ oder der Zeit, gleiches Format, habe eine Doppelseite in der Hand. Darunter hängt nochmal eine zweite Doppelseite. Dieses sehr großformatige Blatt Papier – 80 Zentimeter breit und 114 Zentimeter hoch – kommt dann aus unserer Maschine. Damit die Leute auch mal das Gegenteil vom Telefon erleben, größer wird’s nicht, riesengroß! Deswegen auch das dünne Papier. Das Ding wird am Ende 100 Gramm wiegen. Ich hab’s ausprobiert, weniger als ein Viertel Pfund Schinken. Dieses Blatt falzen wir ein paar Mal bis es die Größe einer Zeitung hat, wickeln es wie früher in ein Streifband, dann kommt eine Briefmarke mit 70 Cent drauf und wir verschicken es mit der Post. Die fertige Zeitung kann ich als Leser irgendwo auf den Teppich legen, mich darüber beugen, ich kann es zusammenklappen, ich kann es auseinanderreißen oder ineinanderstecken. Wir wollen das dem Leser überlassen. Das kann man mitschleppen, misshandeln …
– oder Fische darin einwickeln!
… das Los der Zeitung, wie mal jemand gesagt hat. Damit die Journalisten nicht zu eitel werden, werden am Ende Fische drin eingewickelt. Das kann sogar Kurt Tucholsky gewesen sein, würde mich nicht wundern. Vor allem aber hat er gesagt: „Man kann über alles reden, nur nicht über zehn Minuten!“
Hier zwei Links zu Erik Spiekermanns Projekt, die Galerie 98a, wo er noch allerlei weiteren Druckmaschinen eine zweite Karriere verschafft, und die Lettertypen, wesensverwandte Heimat unserer Letterpress.
Ich habe das Interview gekürzt und sprachlich geglättet. KR-Mitglieder können sich das Original-Audio (50 Minuten) anhören (oben neben der Überschrift).
Redaktion Esther Göbel, Schlussredaktion Vera Fröhlich, Bildredaktion Martin Gommel. Weitere Arbeiten des Fotografen Norman Posselt findet ihr hier.