Wie dein Leben endet, liegt in deiner Hand

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Leben und Lieben

Wie dein Leben endet, liegt in deiner Hand

Ich arbeite seit 20 Jahren in der Notaufnahme. Aufregender Job? Sicher, aber anders, als ihr denkt. Oft müssen wir uns fragen, wie wir Patienten helfen können, die am Ende ihres Lebens angekommen sind. Dabei haben wir gemerkt, was entscheidend ist: Denke jetzt ruhig darüber nach, sprich mit deiner Familie und regle ein paar Dinge. Das ist wirklich wichtig. Denn dann kannst du auch ganz am Ende noch frei bleiben.

Profilbild von von der Notaufnahmeschwester

Es vergeht kaum ein Dienst, in dem nicht ein (seit langem) krachkranker, sterbender Mensch in die Notaufnahme gebracht wird. Hohes Fieber, schlechte Atmung, langjährige und gravierende Vorerkrankungen, Wundgeschwüre – die Liste lässt sich nach Belieben fortsetzen.

Bei einem Patienten mit knapp 40 Grad Fieber, Parkinson und Demenz sowie einer fulminanten Lungenentzündung war die Ehefrau mit dabei. Er hatte eine PEG-Magensonde und einen Blasendauerkatheter. Es roch von der Türe aus nach Harnwegsinfektion. Sie pflegte ihn zu Hause. Bestimmt sehr liebevoll – das merkte man daran, wie sie mit ihm sprach.

„Wie soll es weitergehen“, fragte der Arzt. „Haben sie da früher einmal darüber gesprochen?“

„Nein. Darüber haben wir nie geredet.“

Freunde: Wir müssen reden. Über das Sterben und den Tod, der uns alle betreffen wird. Wie wollen wir sterben?

75 Prozent sterben im Krankenhaus oder Heim, nur etwa 20 Prozent tatsächlich zu Hause. Wenn man solche Statistiken liest, fragt man sich unweigerlich: Wo werde ich sein, wenn ich sterbe? Werde ich es schaffen, zu diesen 20 Prozent zu gehören? Ist mein soziales Netz dicht, sodass es hält und mich trägt? Werden meine Angehörigen und Freunde mir beistehen und wissen, wie ich es möchte? Was mir gut tut?

Ich habe viele Menschen sterben sehen. Sterben – das ist nichts für Weicheier. So viel ist sicher.

Hört sofort mit der Supermedizin auf!

Wir vom Pflegepersonal unken ja mal gerne, dass wir – sobald wir in Rente gehen – uns als erstes in der Tätowierstube wiedersehen. Auf dem Brustkorb wird dann stehen: Bitte nicht reanimieren.

Zu oft erleben wir es, dass todkranke Menschen „übertherapiert“ werden (… und noch ‘n Röntgenbild, und noch ‘ne Magenspiegelung, und dann eine Magensonde und Blasenkatheter und … „Huch – jetzt schnauft er nicht mehr!“ Hat er ’ne Patientenverfügung? Gibt es Angehörige? Nein? Keiner da? Dann mal los. Reanimations-Team! … und los geht‘s. Herzdruckmassage, Intubation. Intensivstation.)

Und man sieht den Menschen vorher und möchte am liebsten schreien:
Hört auf! Sofort!

Wir legen jetzt diesen offensichtlich sterbenden Menschen in ein weiches, warmes Bett. Lasst uns seine Hand halten und seine Schmerzen / Luftnot / Angst nehmen, wenn er welche hat. Es gibt so feine Medikamente. Lasst uns Gebete sprechen und leise Lieder singen. Lasst es uns so machen, wie wir es für unseren liebsten Angehörigen wollten. Aber hört auf mit der Supermedizin.

Ein schnelles Ende hat auch Nachteile

Die meisten wünschen sich ja ein schnelles Ende. Zack. Umfallen und aus die Maus. Manchmal frage ich mich, ob sich die Menschen das gut überlegt haben. Denn damit ist schwer zurechtzukommen. Wie auch. Zeit zum Abschied bleibt nicht. Gespräche, die noch anstanden, erfolgen nicht mehr. Papierkram, Versicherungen, wichtige letzte Worte. Alles fehlt, weil einer aus der Mitte gerissen wurde. Es ist ein brutaler Abschied. Ob er dem Verstorbenen recht gewesen wäre?

Dann doch langes Leiden?

Gibt es nicht möglicherweise auch etwas dazwischen? Und wenn ja – wie könnte das aussehen?

Das allerwichtigste ist, dass man darüber nachdenkt. Ja. Wir sind sterblich und wir werden alle sterben. Daran gibt es nichts zu rütteln.
Ich kann natürlich auch so tun, als wäre ich unsterblich. Ja – das geht.

Wird aber irgendwann auch schwierig. Dann sollte aus dem „Nachdenken“ ein „darüber sprechen“ werden. Mit meinen liebsten Menschen. Mit meinen Angehörigen und Freunden. Mit dem Arzt des Vertrauens.

Niemand will irgendwann in einer Klinik liegen und fremde Menschen über das eigene Schicksal entscheiden lassen. Nicht immer in meinem Sinne. Auch, wenn sie es alle gut meinen.

Das Unaussprechliche aus- und ansprechen

Eine meiner Kolleginnen ist seit zwölf Jahren in der Ethikkommission. Sie sagt:

„Ich habe relativ früh für mich Vorsorge getroffen. Mir wäre es arg, wenn meine Vorstellungen und Wünsche nicht umgesetzt werden würden. Ich lebe seit vielen Jahren autonom. Und in dieser Phase sollte meine Autonomie mir genommen werden? Kann doch nicht wahr sein!“

Was es braucht, sind Menschen, die einen gut beraten. Das Unaussprechliche aus- und ansprechen. Warum nur hat diese Frau – oder der Hausarzt – nie mit dem Mann gesprochen? Er war nicht von heute auf morgen so krank. Es wäre genug Zeit geblieben. Jetzt liegt er da.

Vielleicht war sie in ihrem Hamster-Pflege-Karussell und kam nicht mehr heraus. Es war einfach nur tragisch, wie sie an der Liege mit ihrem schwerstpflegebedürftigen und -kranken Mann stand und ihm mit einem Läppchen die Stirn abtupfte. Blanke Hilflosigkeit. Es bricht einem das Herz.

„Nichts tun” bringt kein Geld

Und wir stehen daneben. In einem Krankenhaus ist man es gewohnt zu tun. Nicht zu lassen. Die wenigsten sagen: Wir lassen jetzt der Natur ihren Lauf.

Wie auch. Am nächsten Tag stehen sie in ihren Besprechungen und müssen sich rechtfertigen. Nicht nur die Ethik geht da flöten, wenn man einmal vor aller Augen zusammengestaucht wurde wie ein Schulkind - auch der wirtschaftliche Aspekt ist nicht zu vernachlässigen.

„Nichts tun“ bringt kein Geld. Was Geld bringt, ist eine Maximaltherapie – so bitter es sich auch anhört. Und so unnütz sie hin und wieder ist.
(Und manchmal – auch das will ich nicht verschweigen – ist sie ein Wunder in Reinkultur – diese Maximaltherapie. Ein Verwandler von „fast gestorben“ in „putzmunter“. Auch das gibt es. Aber davon schreibe ich nicht hier. Sondern von Menschen, die sich schon sichtbar im Sterbeprozess befinden).

„Schreib noch ein EKG mit Rhythmusstreifen!“

„Warum? Mit welcher Konsequenz?“

„Damit es gemacht ist.“

Ausziehen. Kälte zieht an dem ausgemergelten Körper. Feuchte, kalte Saugnäpfe, die sich in die Haut förmlich einsaugen. Das ist noch das harmloseste von all den diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen.

Wer stirbt denn heute noch zu Hause?

Es ist schwierig in einer Notaufnahme. An diesem Ort herrscht Zeitdruck. Hier muss man schnell eine Entscheidung treffen. Ob sie immer im Sinne der Patienten sind, weiß man manchmal erst hinterher. (Und warum manche Patienten noch in ein Krankenhaus überwiesen werden, ist so hin und wieder auch ein Rätsel. Ich hatte neulich jemanden, der nach „Betreten“ der Notaufnahme gestorben ist. „Oh!“, sagte der Notarzt. „Jetzt ist er verstorben!“ „Warum habt ihr ihn nicht zu Hause gelassen? Friedlich, bei seinen Angehörigen? Jetzt schippert ihr 20 Kilometer über Land. So will man doch sein Leben nicht beenden?“ Es macht einen so hilflos. So zornig. So … (ergänze sinnvoll).

Ein Notfall kündigt sich nicht immer an. Nicht jeder hat seine Krankengeschichte mit Patientenverfügung griffbereit. Und die Angehörigen, die den Menschen kennen, kommen erst später nach. Es ist ein Dilemma. Also wird – im Falle, dass man nichts an Unterlagen hat – alles unternommen, um das Leben retten.

Warum zögern Menschen, sich mit ihrer Sterblichkeit auseinanderzusetzen, frage ich meine Ethikkollegin. Sie sagt:

„Es ist ein gesellschaftliches Problem. Das Thema Sterben findet nicht statt. Egal, in welchem Zusammenhang. Egal, ob jung oder alt. Oft erkennen die Menschen auch nicht den Unterschied zwischen Sterben im Fernsehen und dem realen Sterben. Viele glauben heute tatsächlich, dass Sterben wie im Fernsehen abläuft: Jemand ist krank, sagt noch einen bedeutungsschweren Satz, und dann fällt der Kopf zur Seite. Und so ist es nicht. Fiktion und Realität können die wenigsten auseinanderhalten.

Sterben ist anders. Wer stirbt denn heute noch zu Hause? Die Menschen sterben im Krankenhaus und nicht zu Hause, und das bekommt keiner mit.

Niemand muss heute mehr qualvoll sterben

Ich bin immer bekümmert, wenn ich Todesanzeigen lese - „… nach einer langen und qualvollen Zeit gestorben“. Denn unsere Medizin kann viel. Vielleicht hätte man es ihm erleichtern können. Es muss heute keiner mehr qualvoll sterben. Auch das darf man nicht vergessen. Es gibt die Palliativmedizin mittlerweile fast flächendeckend. Hospizvereine, die Spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV). Es gibt so viele Möglichkeiten der Hilfe.

Es muss wieder ein Thema werden – das Nachdenken über den Tod. Den eigenen oder den von unseren Liebsten. Nicht erst kurz vor knapp. Und manchmal muss man sich ein Herz fassen und – am besten in guten Zeiten – darüber sprechen: Wie habt ihr euch das vorgestellt?

Auch die Zeit vor dem Sterbeprozess ist wichtig

Es gibt viele Vordrucke von verschiedensten Organisationen. Ich weiß dann, dass sie gut ist, wenn sie verständlich für mich als Patienten ist. Sie soll ein weites Feld abdecken, aber sich auch nicht verzetteln. Wenn man nicht vom Fach ist, ist es hilfreich, sich jemanden zu suchen, der einem behilflich ist beim Ausfüllen. Es heißt auch oft: „Keine lebensverlängernden Maßnahmen“. Aber: Aus völliger Gesundheit stirbt man nicht. Es geht auch um die Zeit vor dem Sterbeprozess – das ist auch wichtig.

Kann ich mir vorstellen, vorher fünf Jahre als Pflegefall im Bett zu liegen? Oder wäre das schon ein Ausschlusskriterium für mich? Viele wissen auch leider zu wenig über den Sterbeprozess. Das stelle ich immer wieder fest. Wenn das alles mehr bekannt werden würde, dann würde vieles mit anderen Augen gesehen werden. Und manchmal schadet es auch nicht, den Arzt zu wechseln.

Die „Textzicke“ hat ein wundervolles Gedicht über ihre Oma geschrieben, das ich hier abdrucken darf.

Sie hat es geschafft,
sagt Papa am anderen Ende der Leitung,
endlich hat sie Ruhe,
endlich.

Ich komme sofort,
sage ich,
natürlich.

Als ich 60 Kilometer später
das Zimmer betrete,
liegt sie da in ihrem Bett
wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen,
so klein,
so durchsichtig irgendwie,
aber so friedlich:
Oma.

An jeder Bettseite
einer ihrer Söhne,
jeder hält eine Hand.
Winzig, viel zu dünn ihre Finger
in den großen Männerpranken,
aber wie immer knallrot lackierte Nägel,
das war ihr wichtig.

Vorsichtig legt Papa
ihre Hand
auf der Decke ab,
um mich fest in den Arm zu nehmen
und mit mir zu weinen.
Er ist kein Mann,
der sich seiner Tränen schämt.

Scheiße.
Es ist traurig, dass sie weg ist,
nie wieder Rommé,
nie wieder schwäbische Küche,
nie wieder ihr helles Lachen
über schlüpfrige Witze.
Aber es ist auch gut,
für sie selbst am besten,
irgendwann gab es gegen die Schmerzen
nur noch diesen Weg.

Wie war es,
frage ich,
wie ist es gewesen?

Papa holt tief Luft,
schaut seinen Bruder an,
schaut mich an
und erzählt.

Schlimm war es,
sagt er,
zuerst sehr schlimm,
sie hat arg geklammert am Leben.
Immer wieder entsetzliche Atemnot,
das war krass,
jedes Mal überlegst du,
ob es noch sinnvoll ist,
und dann greifst du doch wieder
nach der Sauerstoffmaske.
Dieser Scheißkrebs.

Liebevoll streichelt er
die kleine, leblose Hand.

Dann kam der Punkt,
sagt er,
wo klar war,
jetzt passiert es.
Aber es war okay,
sogar höchste Zeit,
und der Zeitpunkt war gut,
denn wir waren beide da
und das hat sie sich doch gewünscht.
Vor ihrem letzten Atemzug
hat sie erst M.,
dann mich noch einmal so angeschaut,
wie nur eine Mama ihre Kinder anschauen kann,
und hat ihre letzte Kraft
in diese Hände hier gesteckt
und ganz fest gedrückt.

Pfiats eich, meine Buam,
hat sie gesagt,
und dann war es einfach vorbei
und es war gut.

Jetzt weinen wir wieder,
alle drei,
ich kniee mich neben das Bett
und streichle ihr kühles Gesicht,
das gleichzeitig so vertraut
und so fremd ist.

Servus, kleine Oma,
sage ich leise,
und danke für alles,
für stundenlange Spiele
und die allerschönsten Ferien
und diese kleinen Füße, die ich auch habe,
und die besten Kässpatzen auf der Welt
und dass du mir beigebracht hast,
wie man unsichtbar Socken stopft.

Noch heute ist Omas hölzerner Stopfpilz
einer meiner größten Schätze.
Von allem, was ich erbte,
ist er mir am wertvollsten
und der Grund dafür,
dass ich über jeden Kinder-Socken-Kartoffelzeh
schmunzeln muss
und mich auf die Arbeit daran freue,
statt mich zu ärgern,
genau, wie ich das bei so vielen kleinen Dingen mache,
über die ich mich ebenso gut
furchtbar aufregen könnte.
Danke, Oma.

Das ist es, was uns als Pflegepersonal umtreibt. Uns aufreibt. Unserer eigenen Geschichte und Sterblichkeit einen Spiegel vorhält. Was uns nicht loslässt. Und viel zu selten bleibt Zeit, all diese sterbenden und uns unbekannten Menschen zu betrauern. Denn wir sind alle irgendwie und irgendwo miteinander verbunden.

Und wem der Text noch nicht lang genug war – hier gibt es noch was dazu: „Sinnlos gelitten“


Die Notaufnahmeschwester möchte nicht, dass wir ihren Namen nennen – von wegen Schweigepflicht und so. Wer mehr über sie erfahren will: Sie hat den „Goldenen Blogger für den Blogtext des Jahres“ 2017 gewonnen. Hier findet ihr ihren persönlichen Bericht von der Preisverleihung.

Wie dein Leben endet, liegt in deiner Hand

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