Wenn du so tickst wie ich, nimmst du dir abends vor, zu einer vernünftigen Zeit schlafen zu gehen – und stellst dann um 3:30 Uhr morgens fest, dass du zwar im Bett liegst, aber hellwach bist und auf deinem Handy Artikel im Internet liest.
Die Themen sind wild gemischt. Vielleicht geht es um Rassismus und Ungleichheit oder die Frage, warum Autoren lieber nicht sagen, wie viel sie verdienen, oder darum, dass die Sängerin Taylor Swift angeblich keinen Bauchnabel hat. Später wachst du auf und erinnerst dich an nichts von dem, was du gelesen hast.
Ich lese im Durchschnitt etwa 20 Artikel am Tag. Keinen davon habe ich mir aktiv selbst ausgesucht. Sagen wir, ein Freund schickt mir einen Artikel über die kulturelle Aneignung von indischem Butterschmalz. Ein Link auf der Seite führt mich dann zu einem weiteren Link auf noch einer anderen Seite und plötzlich bin ich dabei, einen langen Essay über die Geschichte der British East India Company zu lesen, der mich wiederum zu einem Text über die Geschichte des Juwelenhandels führt, die man auch einfach „Die Geschichte des Diebstahls“ nennen könnte. In der U-Bahn lese ich Bücher auf meinem iPhone und die Handlung der Bücher mischt sich mit der Handlung meines Lebens. Wer hatte nochmal Angst vor dem Zahnarzt – Poirot oder meine Freundin Becky?
Jeden Tag lesen wir so viele Wörter, wie ein Roman enthält
2008 hat Nicholas Carr einen Artikel im US-Magazin „The Atlantic“ geschrieben, der den Titel trug „Macht Google uns dumm“. Dieser Artikel wurde so berühmt, dass es auf Wikipedia jetzt einen eigenen Eintrag dafür gibt. Carr behauptet darin, dass die Masse an Informationen, die das Internet uns zur Verfügung stellt, unsere Fähigkeit reduziert, wirklich zu verstehen, was wir lesen. „Mein Verstand will Informationen jetzt so aufnehmen, wie das Internet sie verteilt: Einst war ich ein Taucher, der durch das Meer der Worte schwamm. Jetzt flitze ich über die Oberfläche wie ein Typ auf einem Jet-Ski“.
Vielleicht hat Carr seine Taucherflossen einmotten müssen, weil das Meer einfach zu groß und zu voll geworden ist, um noch etwas sehen zu können. Wenn man derart viele Sätze am Tag sieht, selbst wenn sie schön formuliert, intelligent und eigentlich erinnerungswürdig sind – wie soll man sich da noch an einen einzelnen klugen Gedankengang erinnern?
Laut einer Studie der Universität San Diego von 2009 erfasst der Blick des durchschnittlichen Amerikaners täglich 100.500 Wörter – Textnachrichten, E-Mails, Posts in sozialen Medien, Untertitel, Werbung – und diese Zahl bezog sich auf das Jahr 2008. Das Marketingunternehmen Likehack hat Daten gesammelt, die zeigen, dass der durchschnittliche Nutzer sozialer Medien 285 Inhalte am Tag „liest” – vielleicht klickt er auch nur darauf – das sind etwa 54.000 Wörter. Wenn das stimmt, lesen wir jeden Tag einen Roman, der etwas länger ist als „Der Große Gatsby“ (der in der deutschen Diogenes-Ausgabe 188 Seiten umfasst).
Viele Menschen tweeten einen Artikel eher, wenn sie ihn nicht ganz gelesen haben
Natürlich ist das Wort „lesen” in diesem Fall nicht eindeutig. Man kann einen Text sorgfältig durchlesen oder ihn nur überfliegen. Ich habe den Schriftsteller John Sherman, der auch ein leidenschaftlicher Leser ist, gefragt, wie sein Leseverhalten im Internet aussieht. „Manchmal, wenn ich sage, dass ich einen Artikel gelesen habe”, gab er mir gegenüber zu , „heißt das eigentlich, dass ich einen Tweet über den Artikel gelesen habe.” Damit steht er kaum allein da.
Fahrhad Manjoo schreibt in einem Artikel, dass es nur eine kleine Korrelation dazwischen gibt, wie weit ein Leser durch einen Artikel gescrollt hat, und wann er oder sie den Artikel auf Twitter teilt. Viele Menschen tweeten den Link zu einem Artikel sogar eher, wenn sie ihn nicht ganz gelesen haben. „Es gibt so viel Inhalte da draußen, und viele davon überschneiden sich,” sagt Sherman. „Man kann schneller auf eine Idee reagieren als auf einen ganzen Argumentationsstrang”. Noch weniger Zeit braucht man, um auf eine Idee oder ein Argument zu reagieren, indem man auf einen Artikel verweist. „Hast du das gelesen?” – „Nein, aber das ist genau das, was in diesem einen Artikel steht.”
„Lesen” beschreibt eine nuancenreiche Handlung, aber am häufigsten lesen wir auf eine Art, die Inhalte eigentlich nur konsumiert: Wir lesen, um Informationen zu sammeln, das gilt besonders fürs Internet. Diese Informationen werden fast nie zu Wissen, außer, sie bleiben hängen.
Ich habe eine Neigung, Untergangsszenarien zu entwerfen. Deswegen denke ich gerade an ein Zitat aus dem Buch „Hundert Jahre Einsamkeit”, und zwar aus dem Teil, in dem die Stadt Macondo von einer Krankheit getroffen wird, die dafür sorgt, dass die Bewohner die Namen aller Menschen und Dinge vergessen. Selbst wenn sie sich Erinnerungszettel schreiben, zum Beispiel einen Zettel mit dem Wort „Kuh” auf eine Kuh kleben, vergessen sie, wozu eine Kuh gut ist. „So lebten sie in einer schlüpfrigen Wirklichkeit dahin, die sie vorübergehend mit dem Wort festhielten, die ihnen jedoch unentrinnbar entglitt, sobald sie den Wert des geschriebenen Buchstabens vergaßen.”
E-Book-Leser schaffen mehr Bücher als Papierfans
Ich finde es komisch, dass ich mich an eine Stelle aus einem Buch erinnern kann, das ich vor acht Jahren gelesen habe, aber nicht an die Argumentation des Autors in einem Artikel über ISIS, den ich letzte Woche gelesen habe. Ein wenig Recherche über E-Books sorgt aber dafür, dass mein Untergangsszenario einer Gesellschaft, die nicht mehr lesen kann, sich etwas beruhigt. Denn während E-Books zwar die Menge gedruckter Bücher reduziert haben, von denen wir umgeben sind, werden deswegen nicht weniger Bücher gelesen. Laut eines Berichts des Pew Research Centers, in dem die Lesegewohnheiten der Leser elektronischer und gedruckter Bücher im Jahr 2011 verglichen werden, liest der durchschnittliche E-Book-Leser im Laufe eines Jahres 24 Bücher, während der klassische Papierfreund nur 15 im Jahr schafft.
E-Book-Leser mögen mehr lesen, aber behalten sie dabei auch mehr Informationen? Laut einer Studie von Erik Wästlund der Karlstad Universität in Schweden wahrscheinlich schon. Aber Menschen, die im Internet lesen und ständig scrollen, fällt das schwer. Wästlund hat 82 Freiwillige einen Vergleichstest machen lassen. Beide Tests waren online angesiedelt, doch wurde einer Gruppe ein mehrseitiges Dokument zum Blättern gezeigt, während die andere einen langen Text zum Durchscrollen bekamen. Danach machte jeder Teilnehmer einen Kurzzeitgedächtnis-Test, bei dem er sich an die Reihenfolge von Ziffern erinnern musste, die auf einem Bildschirm aufblinkten oder Karten in der Reihenfolge sortieren mussten, in der sie ihm oder ihr gezeigt worden waren.
Beide Gruppen schnitten gleich gut beim Test zum Leseverständnis ab, doch die Teilnehmer, die ihre Tests gescrollt hatten, zeigten schlechtere Ergebnisse, wenn Aufmerksamkeit und Erinnerung abgefragt wurden. Laut Wastlund hat das Scrollen „viele mentale Ressourcen gefordert, die man hätte nutzen können, um den Text zu verstehen”.
Wenn wir scrollen, bewegt unser Blick sich tendenziell in Form des Buchstaben „F”. Forschungen von Jakob Nielsen, eines dänischen Experten für Nutzerfreundlichkeit, zeigen, dass die Augenbewegungen beim Lesen im Internet zunächst einmal über die ganze Seite gehen, dann, beim Runterscrollen, noch einmal über die halbe Seite, bis schließlich kaum noch Augenbewegung stattfindet. Viele Internetseiten sind schon an dieses „F”-Muster angepasst worden, das im Grunde dem halben Text entspricht.
Ein schöner Schreibstil verlangt mehr Geduld, als viele Leser haben
Im Time-Magazin schreibt Maia Szalavitz, dass die Darstellung eines Texts entscheidend dafür ist, ob wir uns an das erinnern, was wir gelesen haben. Das gilt besonders für gedruckte Bücher. Es ist leichter, eine bestimmte Stelle in einem Buch wiederzufinden, wenn man sich an die Seitenzahl erinnert oder daran, wie schwer die Seiten sich auf der linken oder rechten Seite angefühlt haben oder wie weit weg von der oberen Papierkante die betreffenden Sätze standen. Wenn man ein gedrucktes Buch nach dem gleichen „F”-Muster lesen würde wie eine Internetseite, würde man wichtige Teile der Handlung oder sprachlich besonders schöne Absätze einfach übersehen.
Anthony Doerrs „All The Light We Cannot See” ist genau die Sorte Buch, bei der einem so etwas entgehen kann. Das Buch stand 48 Wochen auf der Bestseller-Liste der New York Times und war Finalist für den amerikanischen nationalen Buchpreis 2014. Die Kapitel sind extrem kurz, höchstens drei Seiten lang. Das gibt dem Leser (mir zumindest) das Gefühl, dass die Handlung sehr schnell voranschreitet. In einem Interview mit einem Buchhänder hat Doerr gesagt: „Meine Prosa kann dicht sein. Ich liebe es, Details anzuhäufen. Ich liebe es, zu beschreiben…ich weiß, dass das fordernd sein kann, das war also vielleicht eine freundliche Geste. Als würde ich dem Leser sagen: ’Ich weiß, dass das hier lyrischer ist als 70 Prozent dessen, was amerikanische Leser gerne sehen wollen, aber hier ist ganz viel weißer Raum, damit du dich von der dieser ganzen Lyrik erholen kannst.”
Mit anderen Worten: Ein schöner Schreibstil verlangt nach einer Geduld, die moderne Leser dem geschriebenen Wort nicht mehr zu geben gewohnt sind.
Unsere Art zu Lesen hat viele Seiten. Wie ein Mensch Texte liest, ist wohl keine gute Grundlage, hochnäsig über ihn zu urteilen. Doch kann es sein, dass das allgegenwärtige Scrollen in Browsern und auf Handys im Gegensatz zum Lesen auf Papier zu etwas führen kann, das Psychologen den „Fehlinformationseffekt” nennen. Meghan Salomon, Forscherin an der Northwestern University, hat mir diesen als ein Phänomen erklärt, bei dem Menschen Informationen aufnehmen, von denen sie wissen, dass sie falsch sind, diese aber später trotzdem nutzen.
In einer Studie von Salomon wurden Freiwillige aufgefordert, Texte zu lesen, in denen viele allgemein bekannte Informationen standen, zum Beispiel „Der pazifische Ozean ist der größte Ozean der Erde” und „Thomas Edison hat die Glühbirne erfunden”. In den Texten steckten aber auch viele absichtlich falsche Aussagen, wie „Der atlantische Ozean ist der größte Ozean der Erde” und „Ben Franklin hat die Glühbirne erfunden”.
Ähnlich wie in Wästlunds Studie unterzog man die Teilnehmer anschließend Erinnerungstests, bei denen Fakten abgefragt wurden, die im Text vorkamen. Zu 20 bis 30 Prozent gaben die Freiwlligen auf allgemeine Wissensfragen über den größten Ozean und den Erfinder der Glühbirne falsche Antworten. Man muss sich dabei klar sein, dass die Teilnehmer Studenten an einer der besten Universitäten des Landes waren.
„Das sind besonderes schlechte Nachrichten, wenn man bedenkt, dass der Retweet nur einen Klick entfernt ist”, sagt Salomon. „Nicht selten verbreiten wir schnell und einfach Informationen, die wir selbst nicht kritisch betrachtet haben.” Die Teilnehmer an Salomons Studie erkannten ihre Fehler nur dann, wenn man ihnen Rotstifte gab, mit denen sie Anmerkungen am Text machen konnten.
Der höchste Anteil der Print-Leser liegt bei 18 bis 29-jährigen
Es überrascht mich deswegen nicht, dass Digital Natives, Studenten also, die mit Laptops in ihren Klassenräumen aufgewachsen sind, an der American University in Washington allmählich anfangen, gedruckte Bücher zu bevorzugen. Sie empfinden es als Vorteil, dass sie an den Rändern Notizen machen und Eselsohren als Erinnerungsstützen falten können. Wie der Studienanfänger Cooper Nordquist der Washington Post sagte: „Ich kann mir nicht vorstellen, Tocqueville in elektronischer Form zu lesen oder zu verstehen.”
Mehrere Studien des Pew Research Centers zeigen, dass der höchste Anteil der amerikanischen Print-Leser bei den 18 bis 29-jährigen liegt, die gleiche Altersgruppe nutzt immer noch und viel öffentliche Bibliotheken. „Ich mag das Gefühl [eines gedrucken Buchs],” sagte der Student Frank Schembari den Reportern der Washington Post. Er saß dabei zum Lesen im Atrium des Universitätscampus, das Smartphone neben sich. „Ich habe es [das Buch] gerne in der Hand. Es rührt sich nicht. Es macht keine Geräusche.”
Als ich meinen Job als Redakteurin bei The Morning News angefangen habe, musste ich jeden Tag um fünf Uhr morgens fast 18 Monate lang jeweils fünf – und manchmal sogar 17– Nachrichtenartikel in einem oder zwei Sätzen zusammenfassen, um damit auf der Internetseite des Magazins die Seitenleiste mit den täglichen Nachrichten zu befüllen. Ich weiß noch, wie ich an diesen Sätzen gearbeitet habe, als ein Freund irgendwann innerhalb dieser 18 Monate mit einer Flasche Rosé zu Besuch in mein noch leeres Apartment kam, um meine erste Wohnung in New York zu feiern. Ich erinnere mich auch daran, dass ich das gleiche von einem Doppelbett in Mailand aus machte, aber nur, weil ein Freund mich dabei fotografiert hat.
Damals fand ich die Artikel faszinierend und konnte mir nicht vorstellen, sie jemals zu vergessen, diesen einen Artikel über die Explosion eines Planeten etwa oder jenen über den Pferdefleischskandal. Vergessen habe ich sie trotzdem.
Laut Salomon könnte das daran liegen, dass ich die Informationen allesamt aus den gleichen Quellen bezogen haben. Zwar habe ich das ganze Internet nach interessanten Überschriften abgesucht, wusste aber, dass es ein paar Seiten gab, auf die ich mich immer verlassen konnte: BBC, Slate, Andrew Sullivans mittlerweile nicht mehr aktive Seite The Dish, das Aeon Magazin, den britischen Guardian und mehr. Ich habe auch viele Artikel über meinen RSS-Reader gelesen, also nicht mehr auf ihrer Herkunftsseite, dadurch hatten alle beim Lesen den gleichen weißen Hintergrund und grünen Rand.
Nicht nur wie wir lesen, sondern wo wir lesen, ist wichtig
Lesen kann oft eine Frage des Kontexts sein. Das heißt, dass wir uns eher an bestimmte Momente erinnern, wenn wir uns an den Orten befinden, die zu diesen Momenten gehören. Vielleicht würde ich mich, wenn ich noch einmal in jenem Hostel-Zimmer in Mailand wäre, wieder daran erinnern, dass ich dort in einem Artikel über archäologische Ausgrabungen gelesen habe, dass die alten Ägypter im Sommer öfter fremdgegangen sind.
Vielleicht kann ich mich schlechter an Artikel erinnern, die ich in meiner Wohnung oder auf meinem Telefon gelesen habe, weil ich zu viele Artikel an einem Ort oder zu viele Artikel an zu vielen verschiedenen Orten gelesen habe. Vielleicht können sich deswegen viele Journalisten – zumindest ich selbst und die Journalisten, die ich für diesen Artikel befragt habe, – nicht immer daran erinnern, was sie in ihrem Lieblingscafe oder in ihrer Wohnung gelesen oder worüber sie dort geschrieben haben, weil sie dort häufig sind.
Nicholas Carr schreibt, in der Welt von Google und unseren unendlich großen Informationsspeichern sei „Zweideutigkeit keine Tür zur Erkenntnis, sondern ein Fehler, den man beheben muss”. Vielleicht müssen wir einfach darauf vertrauen, dass es Gründe gibt, aus denen wir uns an Dinge erinnern – und wenn wir das nicht tun, überraschen sie uns vielleicht an einem anderen Punkt. „Wenn es erinnerungswürdig ist”, hat Womack mir gesagt, „dann erinnerst du dich daran, ob mit Absicht oder nicht.”
Wissen ist wertvoll, egal, durch welches Medium man es gewinnt
Ich glaube nicht, dass wir auf dem Weg in eine Zeit sind, in der Lesen zu einer ganz und gar oberflächlichen Angelegenheit wird. Clay Shirky, Experte für soziale Medien und ein Kritiker von Carr, schreibt: „Nachdem die Welt der Literatur ihre zentrale Bedeutung schon vor einer Weile verloren hat, verliert sie nun auch die Kultur aus ihrem normativen Griff. Die Bedrohung liegt nicht darin, dass die Menschen nicht mehr ‘Krieg und Frieden’ lesen werden…, sondern darin, dass die Menschen keinen Kniefall mehr vor der Idee machen, ‘Krieg und Frieden’ zu lesen.”
Es ist also gleich, ob du in einem Geschichtsbuch liest, wie brutal die „East India Company” indische Juwelen an sich gerafft hat, oder in einer Rezension des Buchs im Internet. Wenn die Materie für dich interessant ist, wirst du dich wahrscheinlich daran erinnern, wenn auch vielleicht nicht in der gleichen Genauigkeit.
Aber: „Forschungen der jüngeren Zeit haben gezeigt, dass Studenten, die während des Unterrichts Notizen auf Papier statt mit dem Computer machen, am Ende bessere Noten haben”, sagt Salomon. „Das könnte eine ganze Reihe von Gründen haben, von mehr oder weniger Aufmerksamkeit bis hin zu unterschiedlich starker Anteilnahme. Man kann aber auch argumentieren, dass in diesen Situationen unterschiedliche Formen von Verarbeitung stattfinden. Wenn du im ‘echten Leben’ in einem Klassenraum sitzt, ist es ganz natürlich, dass du das Gehörte in ein Notizbuch schreibst. Wenn du aber einen Computer nutzt, musst du den Klassenraum um dich herum ‘verlassen’, um dich auf einen Computerbildschirm zu konzentrieren. Der Weg vom ‘echten Leben’ zur Technik ist vielleicht so, wie wenn man von einem Zimmer zum anderen geht.“
Um bei diesem Bild der Zimmer zu bleiben: Wenn du online etwas lernst und dich auch dann noch daran erinnerst, wenn keines deiner Geräte in der Nähe ist, hat das Gelernte wahrscheinlich mit einem Thema zu tun, das dich besonders interessiert. Vielleicht scheiterst du bei dem Versuch, dich an einen Artikel zu erinnern, den du letzte Woche über den indischen Premierminister Narendra Modi gelesen hast, aber der Anblick eines Mannes im Nadelstreifenanzugs in der U-Bahn erinnert dich auf einmal daran, dass es in dem Artikel um einen Anzug von Modi ging, dessen goldene Nadelstreifen aus den Buchstaben seines Namens bestanden.
Vielleicht wirst du dich auch an diesen Artikel kaum noch erinnern, sobald du nicht mehr auf deinen Laptop, dein Handy oder dein Tablet schaust. Ich bin deswegen nicht beleidigt.
Anders, als ein Artikel, der ein besonders einprägsames Bild zu bieten hat (wie das von Narendra Modis Anzug), habe ich hier nur ein ganz normales Bild davon gezeichnet, wie du und andere Menschen lesen. Aber wenn ich es schon nicht schaffe, dir ein Bild zu vermitteln, das diesen Artikel erinnerungswürdig macht, möchte ich es zumindest mit diesem Satz versuchen: Online-Lesen findet in einem bestimmten Raum statt – der einem nicht ganz selbst gehört.
Dieser Artikel ist zunächst auf Englisch bei The Morning News erschienen. Mit Erlaubnis der Autorin hat Theresa Bäuerlein den Text übersetzt. Schlussredaktion: Rico Grimm und Esther Göbel. Fotoredaktion: Martin Gommel. Aufmacherfoto: Gilles Lambert/unsplash