„Manchmal fühle ich mich wie ein Fossil”

© Veronika Neubauer

Leben und Lieben

„Manchmal fühle ich mich wie ein Fossil”

Thorsten Nagelschmidt ist Musiker und Buchautor. Für das Medienmenü hat er mir seine Lieblingsquellen für die richtige Dosis Information verraten.

Profilbild von Aufgezeichnet von Christoph Koch

Ich lese den Interviewfragebogen zum Krautreporter-Medienmenü während einer Busfahrt an der kolumbianischen Karibikküste, und da springt mir natürlich direkt die Frage „Was lesen Sie auf Reisen?“ ins Auge. Also, schauen wir mal.

Das Wifi-Signal in diesem Bus von Necocli nach Cartagena ist so schwach, dass es gerade zum Abrufen der Mails reicht. Was auch daran liegen kann, dass es gerade von der gesamten Busladung angezapft wird. Niemand, wirklich NIEMAND um mich herum, liest etwas auf Papier Gedrucktes. Keine Zeitungen, keine Zeitschriften, keine Bücher, nur Richtung Smartphone gesenkte Köpfe, starrende Augen, wischende Finger, nervös tippelnde Füße. Es ist kein schöner, aber ein vertrauter Anblick, und während draußen die irrste Landschaft mit 50 Shades of Green vorbeifliegt, bilde ich in diesem absurden Schauspiel keine Ausnahme.

Eine Besonderheit am Reisen in fernen Ländern: Man nutzt das Wifi-Signal, wo man es kriegt. Wer weiß denn schon, wann es das nächste Mal etwas gibt! In meinem Fall für E-Mail, Google Maps und Booking.com, kurz: für Kommunikation und Tourmanagement. Ein bisschen Social Media vielleicht noch, aber da sende ich eher als zu empfangen. Was die Leute da so alles ins Internet reinschreiben, es zieht mich meistens nur runter. Wenn ich wirklich viel Langeweile habe, klicke ich mal bei Facebook auf Links zu Artikeln oder Videos, und klar, ich habe dabei auch schon Interessantes gefunden.

Facebook ist für mich so eine Art kuratiertes Internet. Ich habe auch die Apps von diversen Nachrichten- und Politmagazinen installiert, nutze diese aber kaum noch. Aktuell, weil in Deutschland gerade nicht viel Interessantes zu passieren scheint (außer irgendwelcher SPD- und GroKo-Wasserstandsmeldungen, und da schaue ich dann wirklich lieber aus dem Fenster). Und allgemein, weil ich ungern längere Texte auf dem Handy oder dem Computer lese. Diese Geräte dienen für mich ausschließlich der Kommunikation und Information. Was ja schon mal nicht wenig und auch nicht unwichtig ist. Aber Lesevergnügen digital? Kenne ich gar nicht.

Ich stehe auf Papier, auf Haptik. Ich mag Zeitungen, Zeitschriften, Bücher. Ich mag auch Kugelschreiber, Bleistifte, Schallplatten, Kino, Polaroids … Manchmal fühle ich mich als Relikt, als Fossil.

Mein iPhone und Mac Book dagegen sind mit Arbeit konnotierte Utensilien. Wichtige und täglich benutzte Gebrauchsgegenstände, zu denen ich aber keine emotionale Bindung habe und die einfach funktionieren und ansonsten den Mund halten sollen.

https://www.youtube.com/watch?v=EiaI5JtJmGY

Bevor die Sonne untergeht und mir auf dem Rest dieser Busfahrt nur noch die Wahl zwischen Musikhören, irgendwelchen vorher heruntergeladenen Podcasts (aktuell zum Beispiel „Im Gespräch“ von Deutschlandfunk Kultur mit Alex Capus oder Natascha Wodin) und Schlafen bleibt, möchte ich mich schnell einem der Bücher zuwenden, von denen ich mal wieder viel zu viele dabeihabe. Momentan lese ich „100 Jahre Einsamkeit“ von Gabriel Garcia Marquez, einen dieser Weltliteratur-muss-man-gelesen-haben-Schmöker, der natürlich gut hierher nach Südamerika passt. Er gefällt mir auf den ersten 200 Seiten auch schon gut, auch wenn man den Roman wegen der vielen auftretenden Figuren schneller lesen sollte, als ich es momentan tue.

Seit Jahren, ach was, seit Jahrzehnten schleppe ich auf jeder Reise oder Lesereise tonnenweise Bücher mit mir rum. Weil ich auch unterwegs immer mehr kaufe, als ich lesen kann, und weil man entgegen besserem Wissen jedesmal denkt, man hätte auf den vielen Bus- und Zugfahrten, in all den Hotelzimmern oder Backstageräumen bestimmt wahnsinnig viel Zeit zu lesen. Hat man aber gar nicht. Hat man nie. Denn es gibt ja immer so viel zu sehen, so viel zu hören, so viel zu belauschen. Überall Leute, mit denen man reden möchte oder muss. Und dann will man ja auch irgendwann mal schlafen oder betrunken sein.

Der Tagebücherschrank des Autors.

Der Tagebücherschrank des Autors. Foto: T. Nagelschmidt

In meinem Fall kommt noch das Tagebuchscheiben hinzu, das täglich mindestens ein bis zwei Stunden einnimmt.

Mit 15 habe ich damit angefangen, mehrmals erfolglos versucht, damit aufzuhören und es mittlerweile auf 142 vollgeschriebene Kladden gebracht, was noch viel mehr ist, als es klingt. Trilliarden sinnloser Informationen, die ich mir nie durchlese und die zu nichts gut zu sein scheinen. Es gibt keine großen Gedanken oder Analysen, meist nur grobe Abhandlungen über das, was seit dem letzten Eintrag passiert ist, dazu ein kurzer Ausblick auf das, was kommt oder kommen könnte.

Offensichtlich geht es mir beim Schreiben weniger um das Festhalten als vielmehr ums Loswerden. Katharsis statt Dokumentation, und immer mit Stift und Papier. In einem Tagebuch geht es darum, schnell und spontan zu sein, und mit der Hand zu schreiben dauert. Regelmäßig frage ich mich, was ich da mache, was das Ganze soll, an irgendeine Form von Verwertbarkeit habe ich dabei nie gedacht. Ich schreibe ein Buch voll, nummeriere es und stelle es in den Schrank. Bis ich vor einigen Jahren mal eine Information aus dem Sommer ’99 suchte und bei meinen 16 Jahre alten China-Kladden hängenblieb, die ich in den folgenden Wochen las wie den Coming-of-Age-Roman eines Fremden, und auf denen nun mein neuer Roman namens „Der Abfall der Herzen” basiert.

1999 hatte ich weder Handy noch Computer, geschweige denn Internet. Ich trauere dem nicht hinterher, glaube aber, dass ich im Grunde problemlos wieder so leben könnte, wenn ich müsste. Aber nur, wenn alle anderen mitmachen würden.


Thorsten Nagelschmidt wurde unter dem Namen „Nagel” als Sänger und Gitarrist der Punkband „Muff Potter” bekannt. Seit deren Auflösung 2009 ist Nagelschmidt vor allem als Buchautor, Künstler, und Gastgeber der Berliner Lesebühne „Nagel mit Köpfen” aktiv. Am 22. Februar 2018 erscheint sein Roman „Der Abfall der Herzen” im S. Fischer Verlag.

In der von Christoph Koch betreuten Rubrik Medienmenü stellen regelmäßig interessante Persönlichkeiten die Medien vor, die ihr Leben prägen. Ihr könnt per Mail an christoph@krautreporter.de vorschlagen, wen er porträtieren soll.

Illustration: Veronika Neubauer