Liebe Dünne, Dicke sind nicht willensschwach!
Leben und Lieben

Liebe Dünne, Dicke sind nicht willensschwach!

Wenn ein dicker Mensch einfach nicht abnimmt, dann sagen viele dünne Menschen: selbst schuld, muss er halt weniger essen. Dünne schließen von ihrem eigenen Körper auf andere - das ist ein großes Missverständnis, wie unsere Forschung zeigt.

Profilbild von Von Traci Mann und Janet Tomiyama, Psychologie-Professorinnen

Diäten funktionieren nicht.

Der wissenschaftliche Beweis dafür liegt mittlerweile klar auf der Hand: Weniger Kalorien führen nicht zu einem langanhaltenden Gewichtsverlust. Und wer dünner ist, ist nicht unbedingt gesünder.

Wir vermuten, dass die meisten Menschen, die abnehmen wollen, dies inzwischen auch begriffen haben. Und doch fassen sie wieder und wieder den Vorsatz, vor dem Frühling Gewicht zu verlieren. Es ist der gleiche Vorsatz wie im letzten Jahr.

Die einzigen Menschen, die das überhaupt nicht zu verstehen scheinen, sind Menschen, die noch nie in ihrem Leben eine Diät gemacht haben. Sie tun sich schwer mit dem wissenschaftlichen Beweis, weil er nicht mit ihren eigenen Essgewohnheiten vereinbar ist.

Nehmen wir zum Beispiel Nicky. Sie isst die meiste Zeit vernünftig, hier und da etwas Junk Food, aber es scheint sich nicht wirklich auf ihr Gewicht auszuwirken. Sie macht keine Diät. Sie ist einfach von Natur aus dünn, und es verwundert nicht, dass sie glaubt, was sie mit eigenen Augen sieht und in ihrem eigenen Körper fühlt – dass also ihre disziplinierte Ernährung der Grund dafür ist, dass sie ihr Idealgewicht hat. Trotzdem liegt Nicky falsch.

Diäten lösen einen unfairen Kampf aus

Als Forscherinnen haben wir lange untersucht, warum Diäten schiefgehen. Dabei haben wir festgestellt, dass es normal und nicht die Ausnahme ist, dass Diäten nicht funktionieren. Wir haben auch das Stigma studiert, das dicken Menschen anhaftet, und haben die Flut von Schuldzuweisungen erlebt, wenn Menschen nach einer Diät ihr Gewicht nicht halten können. Aus wissenschaftlicher Sicht verstehen wir, dass Diäten einen unfairen Kampf auslösen, den man kaum gewinnen kann. Trotzdem begegnen wir immer wieder den „Nickys” – auf der Straße, im Publikum, wenn wir Vorträge halten, und sogar unter anderen Wissenschaftlern. Sie reagieren irritiert, wenn wir sagen, dass Diäten nicht funktionieren – weil das nicht mit ihren eigenen Beobachtungen übereinstimmt.

Nicky denkt also, dass sie wegen ihrer Essgewohnheiten dünn ist. Tatsächlich aber spielt die Genetik eine große Rolle in dem Prozess, der sie schlank hält. Nicky bekommt massenhaft Anerkennung, weil die Leute sehen, wie sie isst, aber natürlich nicht sehen können, welche Gene in ihr stecken.

Der Punkt ist: Viele übergewichtige Menschen wären bei derselben Anzahl Kalorien und Nahrungsmittel nicht so dünn wie Nicky. Ihre Körper können einfach mit weniger Kalorien als der von Nicky funktionieren. Das ist eigentlich eine gute Sache – und wäre sogar ein enormer Vorteil, wenn es eine Hungersnot gäbe.

Aber es bedeutet auch, dass diese Menschen nach dem Verzehr der gleichen Nahrungsmittel wie Nicky, und nachdem ihr Grundumsatz abgedeckt ist, mehr Kalorien als sie als Fett speichern können. Um wirklich Gewicht verlieren zu können, müssten sie also weniger als Nicky essen. Mehr noch: Wenn sie eine Weile Diät gehalten haben, ändert sich ihr Stoffwechsel, so dass sie immer weniger essen müssen, um Gewicht zu verlieren.

Aber nicht nur Nickys genetisch bedingter Stoffwechsel lässt sie glauben, dass Diäten doch funktionieren müssten. Nicky, die niemals eine Diät gemacht hat, findet es ziemlich einfach, die Schüssel mit Süßigkeiten auf dem Schreibtisch ihrer Mitarbeiterin zu ignorieren. Aber für Menschen, die eine Diät machen, ist es, als ob diese Pralinen in der Schüssel auf und ab hüpfen würden und „Iss mich!” zu rufen scheinen.

Abnehmen bewirkt neurologische Veränderungen, die dich Lebensmittel stärker wahrnehmen lassen, als vor der Diät. Und sobald du sie entdeckt hast, machen genau diese neurologischen Veränderungen es schwierig, nicht laufend an das Essen zu denken. Nicky kann vergessen, dass da Pralinen sind, du aber nicht, wenn du auf Diät bist.

Essen kann dasselbe Hormon freisetzen wie Drogen

Tatsächlich mögen Menschen, die abnehmen wollen, solchen Naschkram sogar noch mehr als zuvor. Das liegt daran, dass andere ernährungsbedingte neurologische Veränderungen nicht nur den Geschmacksinn verstärken. Sie führen auch dazu, dass Lebensmittel eine größere Menge des Belohnungshormons Dopamin freisetzen lassen. Das ist dasselbe Hormon, das freigesetzt wird, wenn Süchtige ihre Lieblingsdroge nehmen. Nicky wiederum bekommt keinen Kick vom Essen.

Außerdem ist Nicky noch satt vom Mittagessen. Auch hier stehen jene, die abnehmen wollen, vor einem harten Kampf. Denn die Diät hat auch ihre Hormone verändert. Der Spiegel des sogenannten Sättigungshormons Leptin sinkt, was bedeutet, dass sie jetzt noch mehr Nahrung als zuvor brauchen, damit sie sich satt fühlen. Du warst also sowieso schon die ganze Zeit hungrig bei deiner Diät, aber jetzt fühlst du dich noch hungriger als zuvor. Sogar Nickys normales Mittagessen würde dich nicht sattmachen.

Wo bleibt deine Willenskraft?

Die Leute sehen Nicky und sind beeindruckt von ihrer großen Selbstbeherrschung oder Willenskraft. Aber ist es wirklich Selbstkontrolle, wenn jemand, der nicht hungrig ist, kein Essen zu sich nimmt? Ist es Selbstbeherrschung, wenn man etwas nicht isst, weil man es schlicht nicht bemerkt, es nicht mag oder keinen Belohnungskick davon bekommt?

Jeder kann unter diesen Umständen dem Essen widerstehen. Und auch wenn Nicky in dieser Situation nicht wirklich Willenskraft braucht, würde sie diese im Zweifelsfall aufbringen können, weil sie eben nicht auf Diät ist. Zusätzlich zu allem anderen stört die Diät die Wahrnehmung, insbesondere die kognitive Kontrolle – den Prozess also, der bei der Selbstregulierung hilft. So haben Menschen auf Diät genau dann weniger Willenskraft, wenn sie mehr Willenskraft benötigen. Und Menschen, die nie Diät halten, haben davon reichlich, auch wenn sie keine brauchen.

Aber selbst wenn Nicky verlockenden Nahrungsmitteln nicht widerstehen könnte, würde ihr Stoffwechsel mehr von diesen Kalorien verbrennen als der Stoffwechsel eines Menschen, der Diät macht.

So bekommt Nicky also irrtümlich Anerkennung dafür, dass sie bei einer Aufgabe erfolgreich abschneidet, die einfach für sie ist. Sicher einfacher als für einen Menschen, der abzunehmen versucht.

Und dann verändert sich auch noch der Stoffwechsel

Und hier ist noch grausame Ironie zum Schluss: Hast du einmal für einige Zeit eine Diät gemacht, finden in deinem Körper Veränderungen statt, die es schwierig machen, langfristig mit der Diät erfolgreich zu sein. Ja, es ist physisch möglich, und eine kleine Minderheit schafft es sogar, ihre Gewicht über mehrere Jahre hinweg zu halten. Aber nicht, ohne die ganze Zeit einen demoralisierenden und allumfassenden Kampf mit ihrer Physiologie zu führen.

Man kann also leicht verstehen, warum Menschen ihr Gewicht so schnell wieder darauf haben, trotz aller guten Vorsätze. Wir daher die folgenden Ratschläge:

  • Wenn du eine Nicky bist, denk an die Strapazen, denen sich Menschen unterziehen, die Diät machen. Wie wenig sie gegessen haben, während du dich mit dekadenten Desserts verwöhnt hast. Sei beeindruckt von ihren Bemühungen und dankbar, dass du das nicht tun musst.

  • Wenn du jemand bist, der eine Diät gemacht hat und trotzdem wieder zugenommen hat, denk daran, dass du deswegen nicht schwach bist. Sondern, dass der Kampf unfair ist und nur wenige ihn gewinnen. Konzentriere dich lieber darauf, deine Gesundheit durch Bewegung zu verbessern – was keine Gewichtsabnahme erfordert.

  • Und fasse nächsten Winter einfach einen anderen guten Vorsatz.


Traci Mann ist Professorin für Psychologie an der Universität von Minnesota. A. Janet Tomiyama arbeitet als Dozentin für Psychologie an der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Ihren Artikel veröffentlichte in Englisch The Conversation. Hier könnt ihr den Originalartikel lesen.

Übersetzung: Vera Fröhlich. Fotoredaktion: Martin Gommel. Aufmacherfoto: Unsplash / Christopher Flowers

The Conversation