Max Fuhrmann erinnert sich gerne an das Haus am Ammersee. Es stand frei auf einem Hügel, der Blick ging aufs Wasser, zwischen den Obstbäumen weideten Schafe. Eigentlich war das Haus viel zu weitläufig für seine Großtante, die allein in dem Haus lebte, den ganzen Tag Whisky Soda trank und endlos Zigaretten rauchte. Aber Fuhrmann und seine Geschwister kamen oft zu Besuch, in den Ferien oder zur Obsternte, und dann verbrachten sie ganze Tage allein auf dem Dachboden, spielten mit altem Gerümpel und Nazi-Andenken.
Wenn Fuhrmann von den kindlichen Abenteuern erzählt, fangen seine Augen an zu leuchten. Als wäre es gestern gewesen, erinnert er sich zum Beispiel daran, wie sie den vergessenen Tresor im Wohnzimmer knackten. Niemand sonst scherte sich darum. Aber die Kinder trieben den dazugehörigen Schlüsselbund auf, probierten jede mögliche Kombination für die beiden Schlüssellöcher, und hielten schließlich einen kleinen Schatz in den Händen.
„Da waren so Silberstücke und Silbermünzen drin. Durften wir natürlich nicht behalten.” Aber Jahre später fand ein Batzen Geld den Weg auf sein Konto. Er erbte den Teil eines Vermögens, dessen Ursprung unklar war.
Eine stattliche Summe von der Großtante
Fuhrmann sitzt an einem großen, hölzernen Esstisch in seiner Wohnung in Berlin-Neukölln. Vor ihm ausgebreitet: Dokumentenstapel, die Blätter mit bunten Klebestreifen markiert, manche haben umgeknickten Ecken. Es sind Zeugnisse einer historischen Recherche, die ihn lange umgetrieben hat. Im Gespräch nimmt er die Papiere immer wieder nebenbei in die Hand. Zärtlich rückt er die Stapel zurecht. Ecke auf Ecke.
Fuhrmann, Mitte 30, Politikwissenschaftler, groß und schlaksig, wirkt nicht wie ein Typ für dramatische Szenen, für Anklagen mit Pauken und Trompeten. Eher wie ein Typ, der versucht, das große Ganze zu verstehen und die Rolle der Einzelnen darin. Er ist gerade erst in diese Wohnung gezogen, viele Kartons sind noch nicht ausgepackt. Aber sein Adorno, sein Gramsci und sein Foucault, all die Klassiker der linken Gesellschaftstheorie, stehen schon liebevoll aufgereiht im Bücherregal.
25.000 Euro. Das Erbe einer kinderlosen Großtante würden viele Menschen mit Kusshand nehmen. Ein Auto kaufen, schön in Urlaub fahren, etwas zurücklegen für schlechte Zeiten. Max Fuhrmann dachte keinen Moment daran. „Ich konnte der Frage einfach nicht ausweichen. Ich wollte wissen, woher die Kohle kommt und was es mit dem Menschen auf sich hat, dem ich die zu verdanken habe.“
Dieser Mensch, ein gewisser Friedrich von Lossow, wurde in seiner Familie selten erwähnt. Seine Großtante hatte sich in den Vierzigerjahren mit ihm verlobt und war in sein Haus am Ammersee gezogen. Zur Hochzeit kam es nicht mehr, denn von Lossow wurde direkt nach dem Einmarsch der Alliierten verhaftet. Im Sommer 1945 brachte er sich in britischer Kriegsgefangenschaft um. Mit Zyankali, dem Gift, das auch viele hochrangige Nazis als Suizidmittel verwendet hatten. SS-Chef Heinrich Himmler war einer davon.
Fuhrmann war zwölf, als seine Großtante starb. Das Grundstück am Ammersee, der Hauptteil ihrer Erbschaft, fiel an ihre Schwester, Max’ Großmutter. Die entschied sich zu verkaufen. Fuhrmann erinnert sich gut, wie sie das Haus ausräumten. Der ganze Plunder vom Dachboden landete in einem Müllcontainer, alte Möbelstücke und NS-Devotionalien, Fotos, Urkunden und Auszeichnungen, alles durcheinander. „Was das genau war, weiß ich nicht. Aber auch mir als Zwölfjährigem ist klar gewesen, dass das irgendetwas mit dem Nationalsozialismus zu tun haben musste.“
Bis heute bedauert er, dass er die Dinge nicht einem Historiker übergeben hat. „Das wäre einer dieser berühmten Dachboden-Funde gewesen. Ich weiß noch, wie meine Oma damals sagte: „Jetzt schmeißt’s scho’ weg!“.“ Er imitiert den Satz in rauem Bayrisch, fährt sich mit der Hand über sein Gesicht. „Aber es ging ja auch um ihre Schwester.“
Das Bild von dem Container kam ihm immer mal wieder in den Sinn. Aber erst nach dem Tod seiner Großmutter, als die 25.000 Euro ihren Weg auf sein Konto fanden, beginnt Max Fuhrmann zu recherchieren. Nur: Wie etwas herausfinden über den Mann, der das Geld in die Familie gebracht hatte? Fast alle Ansatzpunkte waren auf dem Müll gelandet.
Also entschließt sich der damals 27-Jährige, ein Recherche-Seminar in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme nahe Hamburg zu besuchen. Dort lernt er: Antworten muss er im bayrischen Staatsarchiv und bei der Deutschen Dienststelle in Berlin suchen.
Tatsächlich findet er Unterlagen über Oberstleutnant von Lossows militärische Karriere in den beiden Weltkriegen und über das Spruchkammerverfahren von 1948. Besonders letzteres ist für Fuhrmann interessant: In Spruchkammerverfahren wurde Ende der Vierzigerjahre entschieden, wer als nationalsozialistisch belastet galt und wer nicht.
Friedrich von Lossow war für den Geheimdienst tätig gewesen und deswegen Teil einer Elite, deren Vermögen von den Alliierten vorsorglich beschlagnahmt wurde. Für Fuhrmanns Großtante hieß das: Das Verfahren musste abgeschlossen werden und ihr Verlobter höchstens als Mitläufer eingestuft werden, damit sie, die alleinige Erbin, auf das Vermögen zugreifen konnte.
Die Spruchkammer arbeitet nicht allzu gründlich
Bei der Einschätzung der Unterlagen lässt Fuhrmann sich von dem Historiker Albrecht Kirschner helfen. Der urteilt, dass die Kammer ihre Untersuchung „offensichtlich nicht allzu tief ausgeführt“ hat: Schon in von Lossows Meldebogen werden wichtige Informationen unterschlagen, zum Beispiel die Mitgliedschaft in der SA, den Paramilitärs der NSDAP, oder seine Tätigkeit für die „Abteilung Abwehr“ – dem Geheimdienst der Wehrmacht.
Einige der entlastenden Aussagen sind wenig glaubhaft, aber Fuhrmann empört sich vor allem über ein Schreiben des Anwalts seiner Großtante. „Da schreibt der, das Gericht möge doch bitte die Nicht-Betroffenen-Karte ausstellen, damit meine Großtante das Erbe antreten kann!“ Fuhrmann blättert in der Akte, lacht trocken. Obwohl von Lossow bis Kriegsende allem Anschein nach „im Sinne des NS-Systems funktioniert“ hat, wie der Historiker Kirschner urteilt, wurde der Oberstleutnant als unbelastet eingestuft. Das Erbe wurde freigegeben.
Damals dachte Fuhrmann daran, eine Stiftung zu gründen, um andere Menschen bei ähnlichen historischen Familienrecherchen zu unterstützen. Denn so eine Recherche ist nicht billig. 2.200 Euro hat er für die Archivaufenthalte, die Kopien und die historischen Gutachten ausgegeben, ohne Fahrt- oder Übernachtungskosten.
In seiner Familie stößt seine Idee auf wenig Begeisterung. Was er herausgefunden hat, das hören sie sich schon an. Aber nur einer seiner fünf Geschwister wäre bereit gewesen, eine solche Stiftung mitzutragen. Niemand stellte die Legitimität des Erbes infrage. Immerhin ging das Geld durch viele Hände, und das Grundstück am Ammersee war rechtmäßig und lange vor dem sogenannten Dritten Reich erworben worden.
Außerdem sagten Fuhrmanns Geschwister, dass sie das Geld brauchten. Er versteht das. „Ich hatte damals keine Schulden und einen Job. Da sagt man leicht: ‚Das Geld will ich nicht.‘“
Fuhrmann hält generell nichts vom Erben
Warum aber jagt Fuhrmann dieser Geschichte überhaupt so hinterher? Investiert Zeit und Geld und provoziert unangenehme Reaktionen – wie die eines Verwandten, der ihm vorwarf, das Ansehen der Familie und der Großmutter in den Dreck zu ziehen?
Max Fuhrmann sagt, dass er diese Frage nicht genau beantworten kann. Dass er das Konzept des Erbens an sich ungerecht findet, bei dem man dank irgendwelcher Blutsbande Geld geschenkt bekommt. Dieses Gefühl von Ungerechtigkeit habe wohl eine Rolle gespielt, meint er. Auch, dass er sich in seiner Jugend antifaschistisch engagiert habe und deswegen sensibel für das Thema sei.
Heute ist er nicht mehr aktiv, aber viele Überzeugungen sind geblieben, davon zeugen die Sticker mit linken Sprüchen auf den Badezimmerfliesen seiner Wohnung. Fuhrmann berichtet auch, dass viele seiner Genossen vor Recherchen in der eigenen Familie zurückgeschreckt seien.
Fuhrmann wiederum merkt: Je länger er sich in historische Dokumente vergräbt, um so mehr fühlt er sich in der Hand von etwas, das er selbst trocken als „Recherche-Dynamik“ bezeichnet. „Das ist, wie einen Baum hochklettern. Je höher man kommt, desto mehr Ästen kann man nachsteigen.“ Immer mehr Geschichten treten zutage, die Verstrickungen Einzelner in ein verbrecherisches System.
„Auf einmal bist du derjenige, der diese individuellen Geschichten ausgraben muss. Denn sonst macht es keiner.“ Fuhrmann kämpft alleine gegen das Vergessen. Er wendet sich einem neuen, dickeren Dokumentenstapel zu. In diesem geht es nicht mehr um sein Erbe. Sehr wohl aber um seine Familie.
Haben die Vorfahren wirklich KZ-Öfen gebaut?
Den Anfang der neuen Recherche bildet ein Gerücht, ebenfalls eine Erinnerung aus Fuhrmanns Kindheit. Eine Freundin seiner Schwester gab einmal damit an, dass ihre Vorfahren Lampen erfunden hätten. Fuhrmanns Schwester trumpfte in kindlicher Naivität auf: „Dafür haben meine Vorfahren die Öfen für die KZs gebaut“. Konnte das sein?
Zumindest hatte Fuhrmanns Ur-Ur-Großvater eine Firma gegründet, die bis heute Öfen produziert. Er muss auch diesem Verdacht nachgehen.
Der erste Coup der Firma war während der Nazi-Zeit: 1938 konnte die Firma ein jüdisch geführtes Konkurrenzunternehmen übernehmen. Für einen Spottpreis. Die Verträge waren rechtlich einwandfrei, aber man kann nicht davon ausgehen, dass die Eigentümerfamilie hart verhandelt hat. „Es war wohl eher so: Der jüdische Eigentümer hatte die Wahl: Entweder ich verkaufe die Firma für ’n Appel und ’n Ei oder ich werde so aus dem Land geworfen“, erläutert Fuhrmann.
Bis in die Vierzigerjahre hatte die Firma ihr Stammkapital zwei Mal verdreifacht. Das deutet auf große Investitionen einer stark wachsenden und gewinnschreibenden Firma hin. 1943 wird eine Dividende von 25.000 Reichsmark ausgeschüttet – ein auffallend großer Gewinn in Kriegszeiten.
Nach Kriegsende hatte die Firma einen sehr guten wirtschaftlichen Ausgangspunkt im zerstörten Deutschland – es handelte sich immerhin um einen voll funktionsfähigen Betrieb. Die Ausgangssituation war auch deswegen so gut, weil sich nichts an den Vermögensverhältnissen der Firma geändert hat: Die Wirtschaftsprüfer der Süddeutschen Treuhandgesellschaft urteilen in einem Gutachten, die Firma sei nicht Nutznießer des NS gewesen.
Wie konnte das sein? Wo doch die Firma unter anderen Umständen nie so günstig ein Konkurrenzunternehmen hätte übernehmen können? Die Firma 1942 mindestens ein Drittel ihrer Produktion an die Wehrmacht lieferte? Wo doch mindestens 138 sowjetische Zwangsarbeiter auf dem Firmengelände gelebt hatten? Die Firma möglicherweise auch an die NSDAP oder ihre Unter-Organisationen geliefert hatte?
„Das fand ich ganz schön krass”, sagt Fuhrmann, zum ersten Mal sichtlich empört. Er blättert durch seinen Dokumentenstapel. „Hier, da hat sich die Firma selber einen Beleg ausgestellt, dass das übernommene Werk gar nicht rentabel war.“ Auch der Historiker Albrecht Kirschner, den Fuhrmann erneut um eine Einschätzung gebeten hatte, schreibt: Das Gutachten der Süddeutschen Treuhand sehe nach „Verschleierung“ und einem „Gefälligkeitsgutachten“ aus, sei als entlastender Beweis „unbrauchbar“ gewesen.
Der Hauptgesellschafter der Firma, ein großer bayerischer Industrieller namens Dr. Michael Schottenhamel, war nicht nur Mitglied der NSDAP, sondern saß sogar an der Ehrentafel der Partei in der Stadt Moosburg, wo er Ratsherr war. In einem gesonderten Prozess wurde Schottenhamel nur als Mitläufer eingestuft und beglich seine Schuld mit 1.000 Reichsmark Strafe.
Das Befreiungsgesetz sah vor, dass Firmen, die von Krieg und NS-Verbrechen profitiert hatten, entweder zerschlagen oder an unbelastete Leute übergeben werden sollten. Nichts dergleichen war in diesem Fall geschehen.
Je mehr Fuhrmann sich mit den alten Dokumenten beschäftigt, desto mehr verliert er den Glauben an eine gerechte Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Schottenhamel trat 1951 nach dem Urteil wieder als Gesellschafter der Ofen-Firma bei und konnte unbehelligt weiter wirtschaften. Heute kennen wir die Familie Schottenhamel als Betreiber eines der größten Zelte auf der Münchner Wiesn. Jedes Jahr eröffnet der Münchner Oberbürgermeister hier mit einem fröhlichen „O’zapft is!“ das Oktoberfest.
Fuhrmann sagt, solche „Überraschungen“ hätten an seinen Energien gezehrt. Irgendwann wollte er nur noch einen Schlussstrich ziehen und spendete den Rest seiner Erbschaft an eine Organisation für ehemalige sowjetische Zwangsarbeiter. Von denen hatte die Ofen-Firma profitiert, viele sind bis heute nie entschädigt worden. „Ich hätte das total gut wegrationalisieren können, denn eigentlich habe ich ja mit der Firma finanziell nichts zu tun. Aber ich begreife mich als Teil dieser Familie, und es berührt mich.“
Seine Ausgangsfrage – ob Friedrich von Lossow „ein Nazi“ war – kann er bis heute nicht beantworten. Auch nicht, ob die Ofen-Firma Konzentrationslager beliefert hat, in Dachau hat er vergeblich nach dem Firmenlogo gesucht.
Aber was ist denn überhaupt „ein Nazi“? Das ist eine der Fragen, die ihn seit seiner Recherche mehr als vorher beschäftigt. Wo Täterschaft anfängt und wo sie aufhört, das ist nicht eindeutig zu klären. Diese Ambivalenz auszuhalten, das ist das Wichtigste, was er gelernt hat, sagt Fuhrmann.
Worüber er sich aber heute noch den Kopf zerbricht, ist die Frage, wie er mit den Ergebnissen seiner Recherche umgehen soll. „Wie konfrontativ soll man sein? Sollte ich den Nachfahren von Schottenhamel schreiben und vorrechnen, was sie geerbt haben und wie das mit den Zwangsarbeitern zustande gekommen ist?“
Nachfragen bleiben unbeantwortet
Nur einmal hat er einen der Nachkommen kontaktiert mit den Informationen, die er herausgefunden hatte. Ganz sachlich, ohne Vorwurf, um herauszufinden, wie die Familie dazu steht. Es kam keine Antwort. Auch eine Anfrage von Krautreporter an Christian und Michael Schottenhamel, die Betreiber der Festzelthalle auf dem Oktoberfest, ob sie sich als Nachkommen in der Verantwortung sehen, blieb unbeantwortet.
Irgendwann hatte auch Max Fuhrmann genug von dem Thema, es belastete ihn, sich ständig mit der Ungerechtigkeit von früher zu beschäftigen. Aber den Drang zum Vergessen der deutschen Gesellschaft findet Fuhrmann einen Skandal. Er hat die Dokumente jetzt ein wenig beiseite geschoben und sich ein Stück Käsekuchen aus der Küche geholt.
„Es heißt immer: Was passiert ist, das ist so schlimm. Aber nicht in unserer Familie.“ Dass das nicht stimmen kann, ist offensichtlich.
Fuhrmann ist sich sicher: Es muss viele Menschen in seinem Alter geben, die Vermögen erben, das in Verbindung mit dem NS-System zusammengekommen ist. Gerne würde er sich mit anderen Erben der dritten Generation austauschen. Denn eine Frage lässt ihm keine Ruhe: Wie wäre die deutsche Gesellschaft, die deutsche Wirtschaft, wirklich dagestanden, wenn das Unrecht sorgfältiger aufgearbeitet und Schulden zurückgezahlt worden wären? Und wie kann man Geld, für das man nichts getan hat, einfach annehmen, ohne etwas über dessen Ursprung wissen zu wollen?
„Darüber sollen sich die Menschen, die in Deutschland erben, zumindest mal Gedanken machen“, sagt Fuhrmann und lacht zögerlich. „Und vielleicht einen Teil ihres Vermögens abgeben.“
Rico Grimm hat bei der Erarbeitung des Textes mitgeholfen; Theresa Bäuerlein hat gegengelesen; Martin Gommel hat die Bilder ausgesucht, fotografiert hat Carolin Haentjes.