Ich fahre, also bin ich
Leben und Lieben

Ich fahre, also bin ich

Ich lebe in Deutschland und in den USA – zwei Autonationen. Für viele Amerikaner ist das Auto vor allem Gebrauchsgegenstand. Es ist auch Statussymbol, aber ganz anders als in Deutschland.

Profilbild von von Gabriel Yoran, USA

Ich habe die vergangenen Jahre hauptsächlich in den USA gelebt – mit Auto. In Berlin habe ich keins, aber in Providence, Rhode Island, ist man ohne Auto ein Niemand. Obwohl man in Amerikas kleinstem Bundesstaat im Nordosten vielleicht anderes erwarten würde. In „Little Rhody” ist man nie weiter als eine Stunde Autofahrt vom Atlantik entfernt, also braucht man schon alleine deshalb ein Auto, um hinzukommen – dachte ich.

In Wirklichkeit braucht man das Auto ständig, weil sich das Leben um das Auto dreht. Aber nicht um das Auto als Fetisch, nicht als Statussymbol. Sondern man braucht es so, wie man ein Dach über dem Kopf braucht. Sogar in einer relativ kompakten Stadt merkt man sofort: Amerika ist um das Auto herum gebaut. Deutschland ist eine Autonation, weil sie ihre Autos liebt – Amerika ist eine Autonation, weil sie ihre Autos braucht.

Wer in einem „liquor store” in den USA ein Bier kaufen möchte, zeigt seinen Führerschein vor – das ist der Ausweis der Wahl, praktisch jeder volljährige Amerikaner hat einen. Autofahren lernt man bei den Eltern, und die Prüfungsgebühren sind überschaubar. Wer dennoch keinen Führerschein hat, kann eine „State ID” beantragen, eine Art Personalausweis. Da es in den USA keine Meldepflicht gibt, gibt es keine Meldestellen. Die State ID bekommt man folglich bei der Kfz-Behörde – und zwar als, kein Witz, Führerschein ohne Fahrerlaubnis (non-driver ID).

Dass es um den öffentlichen Nahverkehr in den USA nicht gut bestellt ist, hat man ja schon mal gehört. Aber selbst dort, wo es Busse gibt, werden diese – sieht man mal von den Metropolen ab – nur widerwillig genutzt. Der Grund ist einfach: 86 Prozent der Amerikaner fahren mit dem Auto zur Arbeit (in Deutschland nur 68 Prozent), weil es oft gar nicht anders geht. Selbst billige Wohnungen in mittelgroßen Städten werden oft nur mit Stellplatz vermietet; man geht eben davon aus, dass selbst Geringverdiener ein Auto haben. Und ja, Autobesitz ist in den USA traditionell günstig (auch wenn sich das tendenziell ändert). Der Sprit ist billiger und auch die Kfz-Steuer, die nicht vom Hubraum, sondern je nach Bundesstaat entweder vom Kaufpreis abhängt oder schlicht als Pauschbetrag abgeführt wird.

Eine aus deutscher Sicht verkehrte Welt

Für unseren gebrauchten Lexus IS 300 (Baujahr 2002) werden in Rhode Island gerade mal 45,75 Dollar (weniger als 40 Euro) im Jahr fällig – in Deutschland wären es 202 Euro. In manchen Städten wird allerdings eine zusätzliche Autosteuer erhoben, die stark variiert – in Providence wird diese gerade schrittweise aufgehoben, und die Fahrer der ältesten Autos werden zuerst von der Steuer befreit. Eine aus deutscher Sicht verkehrte Welt, will man doch den Flottenverbrauch senken und alte Spritschleudern durch neue, verbrauchsärmere Autos ersetzen. Im demokratisch regierten Providence jedoch bedeutet ein altes Auto zu fahren, sich kein neues leisten zu können – das Auto ist unverzichtbar und soll deshalb nicht noch mit einer weiteren Steuer belastet werden. Verkehrspolitik ist hier Sozialpolitik, nicht Umweltpolitik.

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All diese Faktoren führen dazu, dass es in 90 Prozent der US-Haushalte mindestens ein Auto gibt (Deutschland: 78 Prozent). Die, die keines besitzen, sind vor allem Bewohner von Metropolregionen wie New York City, die kein Auto brauchen – oder Arme. Während in Manhattan wie München die Öffentlichen klassenlose Verkehrsmittel sind, zeigt sich in Providence überdeutlich, wer Bus fährt: diejenigen, die müssen. Auf manchen Linien sind das Studenten, aber sehr oft sind es Leute, die am Ersten des jeweiligen Monats Essensmarken im Supermarkt einlösen müssen und deren körperliche und psychische Verfassung so schlecht ist, dass man schon sehr abgehärtet sein muss, damit einem das nicht nahegeht.

Das abstrakte Wissen um den allgegenwärtigen Rassismus, die Ungerechtigkeit, die „opioid crisis” mit vielen Drogenabhängigen, all das konkretisiert sich in dem zersetzenden Trübsal, das sich vor einem ausbreitet, sobald man einen öffentlichen Bus nach Downtown benutzt. Die bittere Erkenntnis: Wenn du als Amerikaner nicht extrem arm dran bist, ist der Bus nicht deine Welt. Und die beste Blase, in die du dich zurückziehen kannst, ist dein Auto.

Die Biomarktkunden haben alle Autos

In Providence sitzt die Brown University, ein Ivy-League-College mit einem Stiftungsvermögen von fünf Milliarden Dollar. Ein Studienabschluss kostet dort 300.000 Dollar. Nicht weit entfernt vom Brown-Campus liegt die Fachhochschule Johnson & Wales, die so viele Köche ausbildet wie sonst keine Einrichtung auf der Welt. Manchmal eilen Studenten in adretten Kochuniformen mit Bratenthermometern über den Kennedy Plaza vor dem Rathaus, und mancher Absolvent eröffnet sein erstes Restaurant in Providence. Oder erprobt das neue Konzept erstmal in einem Foodtruck. Die Rhode Islander, die als Foodies gelten, stehen dann eine halbe Stunde an, um Jakobsmuschel-Brötchen mit Bacon und Wasabi zu essen. Foodtrucks servieren kein Arme-Leute-Essen, ein Burger kann zehn Dollar kosten.

Bedürftige erhalten in Rhode Island Coupons für Supermärkte teils vom Sozialamt, oft aber auch durchs Betteln. Um sie einzulösen, muss man zum Supermarkt fahren, zu Fuß ist es zu weit. Also nimmt man die Buslinie 92, Endstation Eastside Marketplace. Weil der Bus vor dem Supermarkt hält, ist das Publikum dort ein anderes als im teuren Whole Foods Market, einen Block nördlich. Dort hält auch kein Bus, warum auch – Biomarktkunden haben ja Autos.

Die Orte des täglichen Lebens sind in den USA oft so weit voneinander entfernt, dass man nur mit dem Auto hinkommt. Und weil dann auch alle mit dem Auto hinfahren, braucht es überall große Parkplätze, die die Orte noch weiter auseinandertreiben. Das vielgescholtene Konzept der „mall” ist eine Antwort darauf: Im Einkaufszentrum sind alle Geschäfte an einem Fleck, so dass es nur einen Parkplatz pro Kunde braucht, weil man zu Fuß von Geschäft zu Geschäft gehen kann. In diesem Sinne ist die mall nichts anderes als eine mehrstöckige Fußgängerzone mit Parkhaus, eine synthetische Promenade, auf der einen niemand um Coupons anbettelt – weil die Security-Leute Bettler gar nicht erst rein lassen.

Pendeln ist in den USA ein wichtiger Teil des Tages

Wenn ich in Berlin bin, laufe ich ins Büro – in Amerika pendle ich mit dem Auto zur Arbeit. Dieser „commute” ist für die meisten Amerikaner ein wichtiger Bestandteil des Tages – er ist im Schnitt weiter als in Deutschland und dauert länger. Autohersteller wie Hörbuchanbieter vermarkten ihre Produkte gezielt an Pendler: „Upgrade your commute”, heißt die Devise, mach das Beste aus der Pendelzeit. Die lokalen Fernsehsender berichten, wie lange die Fahrt in die Innenstadt heute dauert (mit Livebildern von neuralgischen Autobahnkreuzen), und die App Waze verrät, ob man heute den Highway oder besser die Schleichwege nimmt. Die Leute kennen nicht nur die Bezeichnungen der Highways auswendig, sondern auch die Nummern der Abfahrten. Eine typische Wegbeschreibung ist: „Du fährst auf den Highway und dann bei Exit 4 raus.“ Das habe ich in Deutschland noch nie gehört.

Generell kommt der Highway (das amerikanische Äquivalent der deutschen Bundesstraße) in meinem amerikanischen Leben sehr viel häufiger vor als in Deutschland. Providence hat, wie viele mittelgroße Städte, etliche Ausfahrten, und daher ist der Highway oft der schnellste Weg zum Ziel. Wenn ich zum Supermarkt will, fahre ich also tatsächlich über eine vierspurige Schnellstraße, die auf Stelzen durch die Stadt geführt wird. Machen doch alle so. Es klingt höchst fragwürdig in den Ohren europäischer Großstadtbewohner, aber unter amerikanischen Rahmenbedingungen ist die Autofahrt die vernünftigste Lösung. Und natürlich erst recht im Winter, wenn Schneesturm angekündigt ist.

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Dann verfällt die ganze Region New England in eine Art kontrollierten Ausnahmezustand. Der Bürgermeister verhängt einen „citywide parking ban”, das heißt, man darf nur noch in Einfahrten, Garagen und Parkhäusern parken – auf der Straße ist es dann für einen halben oder ganzen Tag verboten, damit die Räumfahrzeuge keine Rücksicht nehmen müssen und den Schnee von der Straße an den Straßenrand befördern können. Manchmal folgen mehrere Blizzards, also Schneestürme, so kurz aufeinander, dass der Schnee nicht schmelzen kann – meterhoch türmt er sich dann fast überall in New England. Früher hat man den salzigen Schnee in Flüssen abgeladen, die daraufhin umkippten, weshalb das heute verboten ist. In Providence wie im eine Stunde entfernten Boston rücken seitdem Bagger aus, die den Schnee auf ungenutzten Parkplätzen zu imposanten Schneebergen, sogenannten snow farms, auftürmen. Der letzte Bostoner Schneeberg nach dem Winter 2013 schmolz erst im Juli 2014.

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Die Straßen in Rhode Island sind in erbarmungswürdigem Zustand. Der kleine Staat ist chronisch klamm, und der Versuch der Gouverneurin, eine Lkw-Maut einzuführen, wurde vom Parlament gestoppt – man fürchtete negative Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort. Die Schlaglöcher sind legendär, und die Bürger reagieren darauf mit dem Kauf von SUVs mit mehr Bodenfreiheit, die aber dann wieder schwerer sind und den Straßen noch mehr zusetzen. Ein struktureller Teufelskreis, der nur von außen aussieht wie völlig sinnloses Konsumverhalten.

Die in den USA gefahrenen Autos verbrauchen mehr Benzin als in Deutschland, aber der Vergleich hinkt, denn in Deutschland drückt der Diesel den Flottenverbrauch, stößt aber dafür giftige Stickoxide aus. In den USA hingegen spielen Diesel fast keine Rolle – sie gelten als Traktormotoren. Und in Deutschland nimmt die Politik traditionell Rücksicht auf die heimische Dieselindustrie, die den Verbrauch drückt um den Preis eines erhöhten Stickoxidausstoßes.

Absurderweise trägt CO2 zwar zur Aufheizung der Atmosphäre bei, ist aber unmittelbar nicht so gesundheitsschädlich wie die Stickoxide. In den USA, wo man praktisch keine Dieselautos produziert, kann man harte NOx-Grenzwerte festlegen, die dann europäische Hersteller wirtschaftlich benachteiligen. Es ist ein Zielkonflikt: mit dem Diesel die Erderwärmung verlangsamen und dafür die Stadtluft vergiften? Oder umgekehrt mit dem Benziner? Und es ist Industriepolitik: Auf welche Branche, auf welche Technologie, will die Politik Rücksicht nehmen?

Benzin ist aufgrund niedrigerer Steuern deutlich billiger als in Deutschland, auch, weil die USA selbst zu den größten Ölförderern des Planeten zählen. Das Bewusstsein für den eigenen Spritverbrauch ist in den letzten Jahren dennoch gestiegen – weil Autos zuletzt immer teurer wurden und der durchschnittliche Autokredit heute mit gut 500 Dollar (430 Euro) im Monat zu Buche schlägt. Beim Verbrauch lässt sich aber sparen, und der wird in Amerika in MPG gemessen, in Meilen pro US-Gallone. Die Amerikaner rechnen also eigentlich nicht, was ein Auto verbraucht, sondern wie weit der Sprit sie bringt. In Deutschland ist der Verbrauch eine Eigenschaft des Autos – in den USA ein Möglichkeitsraum des Fahrers: Wie viel Freiheit verspricht mir dieses Auto? Wie weit darf die nächste Tankstelle entfernt sein?

Aufgrund der schieren Größe des Landes eine nicht ganz unberechtigte Frage. Denn Amerikaner/-innen fahren auch klaglos Strecken mit dem Auto, bei denen man hierzulande eher in den Zug oder gar ins Flugzeug steigen würde. Autofahrten von fünf oder sieben Stunden Länge sind nichts Besonderes – da man aber praktisch nirgends schneller als 130 Kilometer pro Stunde fahren darf und selbst Kleinwagen meist mit Tempomat ausgestattet sind, sind solche Reisen beschaulichere Unterfangen als in Deutschland. Es gibt keinen Grund zu rasen, alle kommen gleich schnell an, so what?

In den USA geht es den japanischen Herstellern glänzend

Bleibt die Frage, welches Auto es sein soll. Da haben meine amerikanischen Freunde eine einfache Faustregel: Nimm keine Amerikaner, denn die sind unzuverlässig, nimm keine Deutschen, denn die sind anfällig und teuer in der Reparatur. Nimm einen Japaner. Diese Regel scheinen noch ein paar andere Amerikaner beherzt zu haben, jedenfalls geht es den japanischen Herstellern glänzend in den USA. Überhaupt kommt jedes zweite in Amerika verkaufte Auto von einem asiatischen Hersteller, in Deutschland ist es nur etwa jedes zehnte.

Ein Grund ist, dass die japanischen Hersteller auch ihre gehobenen Modelle erfolgreich in den USA verkaufen können: Wer in Deutschland viel Geld für ein Auto ausgibt, kauft normalerweise allein schon aus den eingangs erwähnten Imagegründen ein deutsches Modell. In den USA jedoch spielt die gehobene Toyota-Marke Lexus in einer Liga mit Mercedes, BMW und Audi. Auch Nissan und Honda haben erfolgreiche Luxusmarken im Angebot, Infiniti und Acura. Toyota hatte den Erfolg von SUVs aller Größen in den USA früh richtig eingeschätzt hat und dominiert nun mit seinen Marken diesen Markt.

Die erfolgreichste Karosserieform in den USA ist jedoch die klassische Limousine („sedan” genannt), die in Deutschland beliebte Kompaktwagenform wie beim Golf oder auch der klassische Kombi spielen keine große Rolle. Ihr Vorteil knapperer Abmessungen und ökonomischerer Raumaufteilung ist in den USA keiner. Wer kann, gönnt sich ein „full-size car”, also ein rund fünf Meter langes Auto, das in Deutschland alleine schon aufgrund seiner Abmessungen als Oberklassefahrzeug vom Rang einer Mercedes-E-Klasse durchginge. Aber in Amerika werden auch in dieser Größe recht einfach gebaute (und verhältnismäßig günstige) Fahrzeuge verkauft.

Drive-Through bei der Bank und beim Donut-Laden

Liest man deutsche Autozeitschriften, ist viel die Rede von „hochwertigen Soft-Touch-Oberflächen“ und „hörbar klackenden Einrastpunkten der Klimadrehsteller“, die Amerikaner hingegen haben ein eher nüchternes Verhältnis zum Auto, was in Anbetracht von Pick-ups und Stretchlimousinen vielleicht überrascht. Aber genau so wenig, wie Deutschland nur aus biertrinkenden, fußballspielenden Lederhosenträgern besteht, fahren in den USA nur spritschluckende Riesenautos herum.

In Providence bin ich zum ersten Mal durch ein Donut-Drive-Through gefahren (um einen Cronut zu kaufen, eine Mischung aus Croissant und Donut), habe mein erstes Bankgeschäft am Geldautomaten einer Drive-Through-Bankfiliale erledigt und auch ansonsten Dinge getan, die ich in Berlin nicht tun könnte und nie tun würde. Ich bin in Providence ein anderer Mensch als in Berlin – ich bin ein Mensch in einem Auto in einem Land für Menschen in Autos.


Rico Grimm und Esther Göbel haben beim Erarbeiten des Textes geholfen; Vera Fröhlich hat gegengelesen; Martin Gommel hat das Aufmacherbild ausgesucht (Unsplash / Adrian).