Wieso ich an Weihnachten unsichtbar bin
Leben und Lieben

Wieso ich an Weihnachten unsichtbar bin

Ich bin die Tocher türkischer „Gastarbeiter” und wollte Weihnachten feiern, aber weder Familie, Lehrer noch Freunde konnten mit meinem Wunsch etwas anfangen. Deswegen bin ich heute zu einem Menschen geworden, der sich um diesen Tag windet wie ein Patient vor der Zahnarztuntersuchung.

Profilbild von Elif Urel

In der Schule habe ich als erstes entdeckt, dass ich an Weihnachten unsichtbar werde. Mit meiner türkischen Herkunft, meinen schwarzen Haaren und großen dunklen Augen war ich in der Provinzwildnis der rheinhessischen Weinberge in den 1980er Jahren so exotisch, dass ich genauso gut mit Baströckchen und Kreolen zur Schule hätte gehen können. Es wäre auf das Gleiche hinausgelaufen.

Ich bin Jahrgang 1978 und gehörte zu den ersten Kindern der sogenannten Gastarbeiter. Bei den türkischen Arbeitern war klar, dass sie kommen sollten, um zu arbeiten. An deren Kinder hat lange niemand einen einzigen Gedanken verschwendet. So saß ich zum Beispiel als „Gast” im katholischen Religionsunterricht, ohne teilnehmen zu dürfen. Ich lernte das christliche Leben kennen, ohne ein Teil davon zu sein. Hausaufgaben sollte ich keine machen, auch keine Klassenarbeiten mitschreiben. Ich sollte gar nichts machen – nur da sein, damit ich in der Zeit nicht auf der Straße war.

Stille Beobachterin einer neuen Welt

In der Weihnachtszeit bekam ich mit, wie meine Mitschüler Wunschlisten schrieben, Geschenke bekamen und Familienangehörige sie besuchten. Dass sie richtige Großeltern hatten, die sich freuen, ihre Enkel zu sehen. Ich verfolgte das Geschehen als stille Beobachterin und bekam Stück für Stück ein Bild davon, wie das Leben an Weihnachten in Deutschland aussieht.

Nur war ich nicht Teil dieses Bilds. Meine Verwandten lebten in Istanbul, und meine Großeltern hatten Deutschland überhaupt nicht auf dem Schirm, bis auf die D-Mark. Ich war für die nur fremdartiges Beiwerk. Die türkische Verwandtschaft nahm uns Auswanderer nur in den Sommerferien wahr. Das war die Zeit, in der wir Gastarbeiter mit viel Tamtam aus Deutschland anrückten, um so zu tun, als seien wir echte Türken mit einem echten Zuhause.

Die Türkei war von unseren deutschen Wohnzimmern aus gesehen stets das gelobte Land – dorthin sollten wir alle irgendwann zurückkehren, denn irgendwann würde das Kapitel Deutschland ja beendet sein, und wir würden wieder in Istanbul leben. Irgendwann.

Weihnachten stand nie und zu keinem Zeitpunkt im Drehbuch meiner Familie. Adventskalender und Lichterketten hätten den großen Gastarbeiter-Plan womöglich gefährdet. Die neuen Traditionen zuzulassen, hätte bedeutet, ein Stück alte Heimat zu verabschieden. Ich war wie eine Fremde in der Familie, weil ich etwas nach Hause mitbrachte, das meine Familie nicht verstehen konnte.

Das fing schon mit der Sprache an: Meine Mutter konnte kein Deutsch, mein Vater nur brüchig. Ich dagegen wurde täglich deutscher. Wahrscheinlich spürten sie, dass diese neue Fremde in ihrem Haus ihren großen Plan gefährden könnte – also wurde ich ausgeblendet. So wurde ich auch zu Hause an Weihnachten unsichtbar.

Wir wohnten im dritten Stock der Sozialwohnung eines 6.000 Seelen-Dorfs in der rheinhessischen Provinz. In unserem türkischen Wohnzimmer rückten wir jedes Jahr an Weihnachten zusammen und warteten darauf, dass unsere heimatlose Zeit endlich vorüberging. Es gab weder ein Festessen noch einen Weihnachtsbaum noch Verwandte, die sich für uns interessierten.

Es gab nur ein Flirren des gebrauchten Fernsehers im Wohnzimmer. Das Fernsehgerät mit dem öffentlich-rechtlichen Programm war unser Tor zur neuen, fremden Welt.

Mein hart arbeitender Vater starrte müde in die Kiste, und wir starrten mit. Es war die Zeit, in der der Vater frei hatte und sich ausruhen musste. Außerhalb der Arbeit gab es in der neuen Fremde kein Leben.

Ich schaute in die Röhre

Ich saß nebendran. Still. Und schaute zu.

Es war schräg. Ich wusste, dass in der in der neuen Welt draußen an Heiligabend Weihnachtsbäume standen, alles warm leuchtete und die Menschen sich füreinander interessierten. Ich wusste das alles, nur war ich nicht dabei. Ich schaute in die Röhre. Es war wie ein Sandkasten, in dem ich keinen Platz hatte, und es war völlig selbstverständlich. Seltsam, dass niemand auf die Idee kam, dass das Weihnachtsprogramm einem kleinen Kind gefallen könnte.

Keiner kam auf diese zündende Idee, was aber nicht böse gemeint war. Meine Eltern kannten Weihnachten einfach nicht: Sie wuchsen ja selbst ohne dieses Fest auf. Hin und wieder startete ich den Versuch und wünschte mir einen Weihnachtsbaum. Als Antwort bekam ich nur den müden, leeren Blick eines in der Fremde hart arbeitenden Familienvaters. Ich habe vergessen, wann ich damit aufgehört habe, mir Weihnachten zu wünschen.

Eigentlich wäre das alles kein Drama gewesen, nur gab es zwischen mir und meinen Eltern einen großen Unterschied. Meine Eltern mussten sich an Weihnachten nirgends wirklich zeigen. Sie lebten nur mal kurz für 40 Jahre in Deutschland, um hart zu arbeiten, ihren eigenen Erzeugern in der Heimat Geld zu liefern und irgendwann zurückzukehren. Was sie nicht ahnten, war dass ihr Kind eine viel härtere Aufgabe als nur das harte Arbeiten hatte: Deutschland zur neuen Heimat zu machen. Und zu dieser Heimat gehört nun mal Weihnachten. Das verstanden sie nicht.

Irgendwann war mir einfach klar, dass Weihnachten für mich nicht stattfindet. Das ist noch heute so. Die ganze Welt wuselt, hetzt und kauft da draußen. An Weihnachten leuchtet, feiert und wärmt die Menschheit einander, ohne mich.

Irgendwann hatte ich sogar den Wunsch vergessen, an Weihnachten sichtbar zu werden.

Vergessen kann man, indem man Jahre später als junge Frau über Weihnachten cool hinweglächelt und an den Feiertagen auf irgendwelchen komischen Partys abhängt, die von anderen verlorenen Seelen geschmissen werden. Oder indem man sich einfach sinnlos betrinkt. Einmal, ich studierte schon, hatte ich es mit aller Kraft geschafft, die Familie zu einem Weihnachtsfest zu bewegen: Es gab ein Festessen und viel Rotwein.

So saßen wir an einem reich gedeckten Tisch und keiner wusste so richtig, was ich mit all dem Aufwand bezwecken wollte. Zu Tisch in der stillen Zeit, sahen wir uns alle plötzlich selbst: Wie es einer Familie nicht gelang, Anschluss zu bekommen. Wir hatten alle die Abfahrt zu diesem Teil des Lebens in der neuen Heimat verpasst. Ich kann mich nicht erinnern, wann wir uns je so heftig betrunken hätten wie an jenem Abend: Wir spülten mit dem Rotwein alles runter, was uns hätte an unser Versagen erinnern können. Nach diesem Heiligabend machte ich mich nie mehr sichtbar.

Mutter machte keine Muslima aus mir

Nun wird der skeptische Leser wahrscheinlich sagen: Ja, aber die Moslems haben doch auch schöne Feiertage, in denen sich alle gegenseitig besuchen und beschenken und hübsche Lichter wird es ja bei euch ja mal wohl auch geben.

Stimmt.

Bei uns war es aber nicht so. Bei uns daheim leuchtete nichts.

So richtig religiös waren wir nie. Harte Arbeit in der Fremde erfordert einen klaren Kopf, da ist Religion keine Hilfe. Die jämmerlichen Versuche, aus mir so etwas wie eine Art Muslima zu machen, gab meine Mutter ziemlich schnell auf. In der Diaspora gab der Islam ihr etwas Halt, mir war er schon als Kind zu fremd. Zu fern war mir meine alte Heimat. Auch scheiterte meine Mutter gnadenlos daran, so etwas wie eine Feiertagskultur und türkische Bräuche in unser Wohnzimmer zu tragen: Zu stark war der hart arbeitende Vater, zu grell das Flirren des Fernsehgerätes im Wohnzimmer.

So versickerte diese kleine Familie wie ein Bach. Wir lebten in Deutschland ohne türkisches Umfeld, die ersten Schwarzhaarigen im rheinhessischen Kaff. Die türkische Verwandtschaft sah uns auch nicht mehr. Wir waren für sie fleischgewordene Gelddrucker. Ansonsten fanden wir weder hier noch da statt.

Deswegen bin ich ein Mensch ohne Feiertage.

Heute finde ich das nicht mehr so schlimm. Ich habe das alles eigentlich ganz gut im Griff und kann sogar sagen, dass ich sehr unabhängig von dem ganzen Weihnachtsstress bin – das ist ein Vorteil der Unsichtbarkeit. Wenn man nicht gesehen wird, werden auch keine Forderungen gestellt. Ich muss keinem etwas schenken, ich muss nirgends erscheinen und keinerlei familiäre Verpflichtungen erfüllen. Ich fehle nicht.

Nur manchmal merke ich, wie diese Weihnachts-Lichter irgendwas bei mir anknipsen. Dann werde ich nervös. Wenn die ersten Spekulatius im Supermarkt stehen und ich mit einem abfälligen Lächeln daran vorbeigehe, weiß ich, es ist bald wieder an der Zeit. Zeit, abzutauchen. Ich bin dann bald wieder weg.

Inzwischen bin ich zu einem Menschen geworden, der sich um diesen Tag windet wie ein Patient vor der Zahnarztuntersuchung, sobald das Besteck vorbereitet wird. Jedes Jahr erlebe ich die Zeit anders. Oft haue ich ab ins Ausland, oder ich verstecke mich hinter Arbeit. Am schlimmsten wäre es, frei zu haben und in meinem Wohnzimmer sitzen.

Abserviert an Heiligabend

Dass ich nicht stattfinde, zeigten mir komischerweise auch immer wieder meine Mitmenschen. Wie ein Affären-Typ, der mich einen Tag vor Heiligabend abservierte – und das noch, bevor der erste Kaffee ausgetrunken war. Er wollte vor der heiligen Zeit reinen Tisch machen und keinen Affären-Nerv haben – keine nervige Türkin, der man alles erklären muss.

Ein anderer Typ, mit dem ich zusammen war, ließ mich mal in der Notaufnahme sitzen, damit er pünktlich bei seiner Familie erscheinen konnte. Ich war da immer sehr verständnisvoll. Seltsam, aber wenn man einmal sich an die Unsichtbarkeit gewöhnt hat, geht man überhaupt nicht davon aus, dass man für andere sichtbar sein kann. Wenn Vorgesetzte mich wie selbstverständlich an Heiligabend in den Dienstplan einteilten, weil die fränkische Kollegin ja Familienmensch sei, war das total okay für mich. Der Geist der ungelebten Weihnacht war inzwischen so ein fester Teil von mir, dass ich ihn nie richtig hinterfragt hatte.

Unsichtbar zu sein, bedeutet aber keineswegs, dass man sich selbst nicht sieht. Und ich sah mich irgendwann sehr deutlich in meinem Wohnzimmer allein an Heiligabend sitzen. Ich glaube, irgendwann ging es mir so wie den Frauen, die von prügelnden Eltern großgezogen wurden – sie suchten sich Typen, die auch zuschlagen. Und ich suchte mir eben Kreise, in denen ich nicht mitgezählt wurde. So ist das.

Noch heute.

Ich bin froh, dass ich dieses Jahr an Weihnachten arbeiten werde. Natürlich gehe ich wegen des verlockenden Feiertagszuschlages hin.
An nächstes Jahr mag ich noch nicht denken. Ich werde sehen. Ihr mich nicht.


Theresa Bäuerlein hat beim Erarbeiten des Textes geholfen; Vera Fröhlich hat gegengelesen.