24. Dezember
Das alles machte keinen Sinn, dachte Maria. Wie kam der Staubsauger in ihre Wohnung? Und der teure Schal? Die neue Bettwäsche und das Buch? Wer hatte die klapprigen Griffe an den Pfannen wieder fest gemacht? Sie hatte nicht an die Partei geglaubt, und sie glaubte nicht an Gott. Das hier war entweder ein Wunder oder ein Eingriff in ihre Privatsphäre. Oder beides.
23. Dezember
Der Morgen saß in der Ecke und gähnte, und als Mamaia bei den Nachbarn austrat, war der Himmel noch voller Sterne. Pass auf, bleib doch hier über Nacht, gefährlich ist’s draußen für eine alte Frau, hatten sie gesagt, aber draußen war nichts außer den Sterne und dem Atmen der Tiere, denen Weihnachten egal war, und was sonst sollte sein. Als sie um die Ecke bog und langsam den Lehmweg auf ihr Haus zuging, erkannte sie Alex. Er stand vor ihrem Tor und hielt eine große Netto-Tüte in der einen Hand und sein Herz in der anderen.
22. Dezember
Die eine Mark Mitgliedsbeitrag im Gans-Club, die Gerd seit einem Dreivierteljahr wöchentlich für Futter und Bauern entrichtete, hatte sich endlich in die feiste, herrlich weiße Gans verwandelt, die nun empört auf dem Gepäckträger seines Fahrrades herumschnatterte, während er die August-Bebel-Straße runterlief. Seine Befriedigung über diese Weihnachtsgans steigerte sich ins Unendliche, als er erst am Rewe und dann am Edeka vorbeikam, die beide wegen „Lieferengpässen“ schon zwei Tage vor Weihnachten schließen mussten. „Das kommt davon, wenn man alles auf den letzten Drücker erledigen will“, freute sich Gerd.
21. Dezember
Zum vierten Advent trafen sich die Aktivisten mit ihren Familien und Freunden in der ehemaligen Reichshauptstadt Berlin, um gemeinsam dem Jahresrückblick und dem nationalen Weihnachtsfest der Partei beizuwohnen. Groß und Klein versammelte sich im festlich geschmückten Raum, und Tisch für Tisch wurden die Kerzen entzündet. Ein Sprecher leitete die völkische Gala ein und erläuterte Sinn und Zweck des Julfestes. Gedichte wurden vorgetragen und gemeinsam Lieder gesungen. Nach einem passenden Tischspruch genoss die Gemeinschaft allerhand lokale Spezialitäten und belebte den Raum mit ausgelassenen Gesprächen.
20. Dezember
Einmal, ich studierte schon, hatte ich es geschafft, die Familie zu einem Weihnachtsfest zu bewegen: Es gab ein Festessen und Rotwein. Wir saßen am Tisch und keiner wusste so richtig, was all der Aufwand sollte. Plötzlich sahen wir uns selbst: Wie es einer Familie nicht gelang, Anschluss zu bekommen. Wir hatten alle die Abfahrt zu diesem Teil des Lebens in der neuen Heimat verpasst. Ich kann mich nicht erinnern, wann wir uns je so heftig betrunken hätten.
19. Dezember
An jenem Heiligabend hatten sie sich alle gegenseitig erzählt, was die drei schönsten Dinge sind, die ihnen je widerfahren waren. Danach schrieben sie die drei schlimmsten Dinge, die ihnen je widerfahren waren, auf Zettel. Mit den Zetteln in den offenen Händen gingen sie in den verschneiten Garten und verbrannten sie. Im Jahr darauf konnte sich keiner von ihnen mehr an die drei schlimmsten Dinge, die ihnen je widerfahren waren, erinnern.
18. Dezember
Wir kommen an einer Polizistin und einem Polizisten vorbei, die miteinander flirten, während sie mit ihren Gewehren gestikulieren. „Muss hart für sie sein, all diesen Leuten dabei zuzusehen, wie sie sinnlos viel Glühwein trinken, ohne das Gleiche tun zu dürfen”, sage ich und stoße ihn durch fünf Jacken- und Pulloverschichten hindurch mit dem Ellenbogen ein bisschen in die Rippen. „Hoffentlich tun sie das nicht”, antwortet er, und geht weiter seinen langsamen, schwingenden Gang über den Weihnachtsmarkt, seine Augen starren leer nach vorne, die Mundwinkel leicht nach unten gezogen.
17. Dezember
Ihre Beine baumelten in 35 Metern Höhe über der Düsseldorfer Altstadt, und zwei Dutzend winzige Feuerwehrleute rückten unter ihnen ein gigantisches Sprungkissen zurecht. Mircea, Andrei und Vlad hatten den Kran vor zwei Stunden besetzt. Die Baustelle war verwaist seit der letzten Zollkontrolle, Chef-Chef-Chef mit dem Wohnungsschlüssel wieder mal über alle Berge. „Guck mal, ist das ein Kamerateam?“ Andrei deutete nach unten. „Ja! Dort steht auch ein Satellitenwagen. RTL! Das ist RTL!“, jubelte Mircea.
16. Dezember
Das schönste Weihnachtsgeschenk machte sich Dr. Horke immer selbst. An Weihnachten ließ der Schiri immer den Außenseiter gewinnen. Wenn es ging. Wenn es auf Kippe stand, praktisch. Unparteiisch sein ist keine Lebenseinstellung, sagte er zu seiner Frau.
15. Dezember
Der Bürgermeister saß an einer langen Tafel und wischte sich mit einer weißen Stoffserviette Gänsefett von den Fingern. Er hatte, wie es Tradition war seit langer Zeit, die Armen der Stadt zum Weihnachtsessen in das Rathaus eingeladen. Da es aber keine Armen mehr gab, wurde die Teilnahme unter allen Einwohnern ausgelost. „Möge es auch in Zukunft dem Zufall überlassen bleiben, wer zum Weihnachtsessen in unser schönes Rathaus kommen darf“, sagte der Bürgermeister und hob sein Weinglas.
14. Dezember
Die Royal Highland Fusiliers legten ihre Helme ab und setzten sich hinter den Mastiff, dessen riesiger Dieselmotor leise grummelte. Es war Heiligabend, sie lagerten auf einem Hügel in der Nähe von Nahr-e Saraj und bewachten die Straße nach Helmand. Scott stellte seinen Esbitkocher auf. Sam ließ das Knallbonbon knallen, das ihm Emmy geschickt hatte, und wollte gerade den Witz erzählen, den er darin gefunden hatte, als unten im Tal ein einzelner Schuss fiel.
13. Dezember
Aus der B.Z., Ausgabe vom 24.12.2014
Weihnachten ist das Fest der Liebe. Aber auch der Völlerei. Träge nach dem Festschmaus? Wir verraten Ihnen, wie Sie Lust und Libido trotzdem zusammenbekommen! Wonne- statt Völlegefühl! Erleben Sie ein sinnliches Fest mit diesen Tips:
- Druck auf einen vollen Magen, das kann unangenehm sein (oder gar schlimmer!) Wählen Sie eine Position, bei dem Sie und Ihr Partner sich nebeneinander liegend beglücken, statt übereinander. Zum Beispiel Löffelchen.
- In der Regel setzt das Gefühl, übersättigt zu sein, erst etwa 20 Minuten nach dem Essen ein. Nehmen Sie den Nachtisch doch einfach mal mit ins Bett und naschen dort weiter!
- Trinken Sie moderat, da Alkohol die Fettverbrennung verzögert.
12. Dezember
Eine Annonce aus der Apotheken Review 12/2037
Wann, wenn nicht an Weihnachten, kommt die ganze Familie einmal zusammen? Nutzen Sie die Zeit für das, was wirklich zählt: Ihre Gesundheit und die Ihrer Lieben. Mit unserem Adventskranz Malignom4 können Sie mit einem kleinen Pieks in den Finger beim Entzünden der Kerzen eine zuverlässige Blutanalyse erhalten. Vier spielerische Schnelltests auf die 43 häufigsten letalen Krankheiten geben Ihnen die Gewissheit, ob alles wirklich gut ist!
11. Dezember
Herr Lorenz, Sie sind der größte Importeur für Weihnachtsdekoration in Europa. Manche sagen, Sie handeln mit Kitsch, hergestellt in Sklavenarbeit.
90 Prozent meiner Artikel stammen aus drei Fabriken in Yiwu, China. Ich weiß, wie es dort aussieht und wer dort arbeitet. Und es stimmt, für deutsche Verhältnisse ist das skandalös. Aber es ist nun mal in China, und dort sind keine deutschen Verhältnisse, sondern chinesische. Und irgendwann werden die genug Geld mit billigen Weihnachtskitsch verdient haben, um sich weiterzuentwickeln. Bald bauen die dort Tablets zusammen oder so. Ich bin es, der am Ende in die Röhre guckt.
Sie geben also zu, dass sie hauptsächlich billigen, sinnlosen Kitsch importieren?
Dass es ist billiger Kitsch ist, gebe ich gern zu. Das ist doch offensichtlich. Aber sinnlos ist er nicht.
Warum?
Dieser Kitsch verkauft sich bestens. Und wissen Sie warum?
Nein!
Weil die Leute ihn brauchen. Es sind die Geschenke, die nichts als Geste sind. Niemand erwartet doch ernsthaft, diesen Mist nochmal wiederzusehen. Es sind die Geschenke, von denen man weiß, sie landen auf dem Müll, weil sowieso niemand mehr noch irgendwas wirklich braucht. Es sind die Geschenke, von denen man selbst vergisst, dass man sie gemacht hat. Man fragt sich nicht: Hat ihm oder ihr das wirklich gefallen? Der Kitsch, den ich verkaufe, ist das sorgenfreieste und unbeschwerteste Geschenk, das Sie machen können. Wenn Sie philosophisch werden wollen, könnte man sagen: Kitsch ersetzt den materiellen Aspekt des Schenkens symbolisch, und erlaubt uns, uns auf den ideellen Aspekt zu konzentrieren.
10. Dezember
Dirk zündete sich eine Zigarette an und seufzte. Draußen war noch Tag, aber er hatte seine Leute zusammengerufen, die nun mit Kaffeetassen bewaffnet in der Bar rumstanden, als wäre es eine Bushaltestelle. Einige arbeiteten schon seit mehr als zehn Jahren für ihn. Weihnachten war für niemanden leicht in dieser Branche. „Ich weiß, es ist eine anstrengende Zeit. Aber ihr könnt nun mal nicht alle gleichzeitig an Heiligabend hinter dem Tresen stehen. Das geht einfach nicht“, sagte er.
9. Dezember
Sie hatte es in die letzte Maschine geschafft, die Kinshasa noch verlassen konnte, bevor Kabilas Truppen den Flughafen besetzten. Das Ticket kostete sie ihre gesamten Ersparnisse. Sie hatte nur das Nötigste mitnehmen können und fror so erbärmlich, dass sie von ihren letzten 20 Mark am Bahnhof in Frankfurt einen Winterpulli kaufte und mit knurrendem Magen in den Zug nach Hause stieg. Schnee auf Giebeldächern. Schwibbögen. Das alles schien so surreal. Sie klingelte bei ihren Eltern, und die träge Kadenz aus Glockentönen wirkte wie das Glöckchen des Hypnotiseurs. Die Tür ging auf und es war, als wäre sie nie weg gewesen. „Wie du wieder aussiehst! Löcher in der Hose“, sagte Mutter.
8. Dezember
Robert ging immer noch Weihnachten mit seinen Eltern in die Kirche. Hauptsächlich wegen Mutter. Und das war ja auch gut genug als Grund. Trotzdem ist es nicht mehr das gleiche, seitdem Opa nicht mehr dabei ist und singt. Es ist schwer zu beschreiben, aber er gab seiner Stimme so ein erzprotestantisches Tremolo mit, wenn er „Es ist ein Ros’ entsprungen“ sang, und zugleich sang er auch viel zu hoch, fast alle alten Leute sangen so, es war ein wahres Leiden, man konnte denken, sie hatten alle eine Spritze bekommen. Und wie böse Opa wurde, wenn man nicht mitsang.
7. Dezember
Faria hatte ganz einfache Instruktionen für den Idioten von Vater und seinen Sohn, der nun nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubte: Heiligabend sollte der Junge ein Foto von sich und seinem Vater vor dem Weihnachtsbaum aufnehmen, und in den Händen sollten die beiden jeweils die Geschenke halten, die sie sich gegenseitig gemacht hatten. Für jedes Foto legte Faria 100.000 Euro für den Sohn und 100.000 Euro für den Vater in je ein separates Schweizer Bankschließfach. Die Schlüssel für die beiden Fächer würde er ihnen zukommen lassen, sobald der Junge seinen 18. Geburtstag feierte. „Aber wenn nur ein Foto fehlt, kriegt ihr beide keinen Cent“, schrieb Faria.
6. Dezember
„Der Weihnachtsmann ist jetzt in unserem Haus!“, sagte der Junge und drückte die Nase gegen die Zugscheibe.
„Ooaaaar! Ich krieg gleich ’ne Krise. Setz dich jetzt hin! Zum letzten Mal!“, sagte der begleitende Volljährige. Der ICE schaukelte durch den Thüringer Wald wie ein besoffenes Kamel.
„Also, der Vater ist ein ausreichend hoffnungsloser Idiot“, sagte Alexandre Clemens Faria, der die kleine Szene mitgehört hatte. Es war ihm eine liebgewordene Tradition geworden, einem Kind, das noch an den Weihnachtsmann glaubte, die Wahrheit zu sagen. Manchmal dachte Zorina Ava, die Lebensgefährtin des Herrn Faria, dass dieser Moment für ihn der schönste im Jahr überhaupt war: das verdutzte Kindergesicht, das mit der Wut ringt, bevor ihm die Tränen über die Wangen kullern. „Das macht erwachsen“, sagte Faria dann wie immer, mitleidlos, und reichte dem Vater des Kindes ein Briefkuvert.
5. Dezember
Vor drei Jahren schenkte sie ihm zu Weihnachten: eine braune Strickjacke. Braun wie Dobermannscheiße, dachte er. Außerdem war sie zu klein. Und die Knopfleiste auf der rechten Seite. Sah aus, als hätte sie sie am Flughafen gefunden. Damals machte es Klick bei ihm: Er würde besser werden. In allem. Bis sie ihn wieder wirklich liebte.
4. Dezember
Ich liebe es, wenn wir mit der U-Bahn nach Hause fahren, als kämen wir beide gerade von der Arbeit. Die nur durch einen glücklichen Zufall am gleichen Ort liegt. Ich verkaufe Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Brutus geht seinem Tagwerk am Bratwurststand nach. Er ist der geschickteste Bettler der Welt. Er bettelt so wenig, die Leute fühlen sich, als täte er ihnen einen Gefallen, wenn sie ihm ein Stückchen Wurst abgeben dürfen.
3. Dezember
Drei Tassen Tee hatten sie zusammen getrunken. Fünf Mal musste sie auf Toilette. Und fünf Mal war er aufgestanden und hatte den Stuhl für sie zurechtgerückt, als sie zurückkam. Er wäre ein fantastischer Weihnachtsmann für die Kids gewesen, dachte sie.
2. Dezember
Die Welt sieht aus wie eine Christbaumkugel, dachte der Astronaut. Er schwebte in dem hellblauen Overall der Weltraumstation vor dem Panoramafenster und maß den Riss im Glas nach: 7 Millimeter.
1. Dezember
Dirk war Weihnachten nicht da gewesen und deshalb war es nicht verwunderlich, dass seine Mutter nicht nochmal das ganze Weihnachtsmahl für ihn nachkochte. Am 6. Januar doch nicht mehr, schien selbst der kotzgrüne Rosenkohl zu sagen, den sie ihm neben die aufgewärmten Reste der Gans schaufelte.