Die Angst wohnt mit Chrissy und Aliou in ihrer Dreizimmerwohnung in Rostock. Sie wohnt im Schlafzimmer, wenn sie abends ins Bett gehen. Sie wohnt in der Küche, wenn sie kochen. Sie wohnt auf dem Balkon, wenn sie dabei zusehen, wie die Möwen an ihnen vorbeigleiten. Sie wohnt im Kinderzimmer, in dem sie schon den hellblauen Strampelanzug für ihr Baby in die Krippe gelegt haben, das in wenigen Wochen zur Welt kommen wird. Die Angst ist da, wenn jemand an die Tür klopft, bei lauten Schritten im Treppenhaus und wenn es klingelt. „Wenn ich Pizza bestelle und es klingelt kurz danach, dann weiß ich ja, dass der Pizzamann kommt”, sagt Chrissy. „Aber wenn es einfach so klingelt, fange ich an zu überlegen. Die Angst ist immer da.”
Chrissy und Aliou haben sich schon oft vorgestellt, wie es wäre, wenn die Polizei käme. Es würde plötzlich Sturm klingeln, vielleicht wäre es mitten in der Nacht, und Männer in Uniform würden sie aus dem Schlaf reißen. Aliou hätte noch kurz Zeit, um ein paar seiner Sachen zu packen. Dann würden sie ihn mitnehmen, so wie sie Freunde von ihm schon mitten in der Nacht aus ihren Betten mitgenommen haben. Sie würden Aliou nach Mauretanien zurückschicken, in das Land, in dem der Geheimdienst und vielleicht der Tod auf ihn warten. Chrissy und Aliou würden sich wahrscheinlich nie wiedersehen. „Eingesackt und in den Transporter und weg”, sagt Chrissy. „Abgeschoben.”
Dies ist die Geschichte von Chrissy und Aliou, den Chrissy meist „Steppi”, „Schatzi” oder „Cherie” nennt und manchmal, wenn sie böse auf ihn ist, auch einfach nur Aliou. Seine Arbeitskollegen nennen ihn anders, weil er sich bei ihnen mit dem falschen Namen vorgestellt hat, der in dem gefälschten Pass steht, mit dem er nach Deutschland gekommen ist. Und auf dem Brief, mit dem Deutschland ihm das Asyl verweigerte. Aber auf dem Papier, das er jetzt bekommen hat, als die deutschen Behörden ihn als Vater des Babys in Chrissys Bauch anerkannt haben, steht zum ersten Mal sein richtiger Name, das ist ihm wichtig.
Alles begann in einer Rostocker Disco
Als Chrissy und Aliou sich zum ersten Mal trafen, war die Angst noch in weiter Ferne. Sie haben gelacht und getanzt und geredet. Nicht über Abschiebung, Asyl und Duldung, über Flüchtlingsheime, die Dublin-Verordnung, Reisepass-Ersatzdokumente oder Ledigkeitsbescheinigungen, sondern über die Themen, für die sich die beiden schon lange interessieren: Kommunismus und Kapitalismus, die Macht des Geldes, Freiheit und ihre Neugier auf die weite Welt. „Hakuna Matata”, sagte Aliou damals und auch heute noch oft, obwohl die Angst jetzt in ihrer Wohnung lebt: „Hakuna Matata. Du musst das Leben genießen, jeden Tag.”
Zum ersten Mal getroffen haben sie sich im Sommer 2013 in einer Rostocker Disco – es hätte der Anfang einer ganz normalen Liebesgeschichte sein können. Chrissy war mit einer Freundin tanzen wie so oft damals, um drei Uhr nachts sind die zwei noch in den Club gekommen, in dem Aliou mit einem Freund schon den ganzen Abend lang war. Chrissys Freundin fing sofort an, mit Alious Freund zu tanzen. Also fingen auch Chrissy und Aliou an zu tanzen und ein wenig zu reden. Aber es war laut in der Disco, und die beiden sprachen Englisch miteinander, was weder seine noch ihre Muttersprache ist. Sie riefen sich ein paar kurze Sätze zu, aber richtig unterhalten konnten sie sich nicht. Also tanzten sie miteinander, beobachteten ihre Freunde und lachten viel. „Das war ein lustiger Abend, feucht-fröhlich”, sagt sie.
„Mein Freund und ich haben sie und ihre Freundin gleich gesehen, als sie reinkamen”, sagt Aliou, der inzwischen gut Deutsch kann. „Sie waren anders, schick, très jolies.” Chrissy lächelt über das „schick”. „Da hatte ich noch nicht so viele Wassereinlagerungen wie jetzt”, sagt sie. Sie sitzt auf dem Balkon, blinzelt in die Sonne und hält die geschwollenen Füße in eine Schüssel mit kaltem Wasser, sie ist im neunten Monat schwanger. Sie sind schon gespannt, wie hell oder dunkelhäutig ihr Baby sein wird, eine Mischung aus Chrissys weißer und Alious schwarzer Haut.
Als Chrissy und ihre Freundin damals aus der Disco nach Hause gehen wollten, kamen die beiden Jungs mit. Auf dem Weg nach draußen, an der Garderobe, wo es leiser war, sprachen Chrissy und Aliou dann zum ersten Mal richtig miteinander. „Darüber, dass man sich immer so bescheuert über Geld definiert, für das Schöne aber gar kein Geld braucht”, sagt Chrissy. „Man braucht viel weniger, als man denkt”, sagt Aliou. Die vier machten auf dem Weg nach Hause noch Halt an einer Bäckerei. Während die anderen Brötchen holten, warteten Aliou und Chrissy draußen vor der Tür. Es war fünf Uhr morgens und die beiden sprachen über das Leben und waren sich bei allem so einig.
Aliou bekam ihre Telefonnummer nicht
Trotzdem sagte sie „nö”, als Aliou sie nach ihrer Telefonnummer fragte. „Ich finde das immer so plump. Ich habe meine Telefonnummern den Männern nie gegeben”, sagt sie. „Am Ende der Nacht wollen alle Männer immer nur die Telefonnummer haben.” Aber Aliou wollte sie so gern wiedersehen. „Ich wollte sie kennenlernen”, sagt er. „Und ich war auch neugierig: Du sagst nö? Warum?” Heute kennt Chrissy das an ihm: „Er will immer wissen warum, bei allen Dingen.”
Statt ihm die Telefonnummer zu geben, sagte Chrissy, er könne ja am Samstag in zwei Wochen wieder in die gleiche Disco kommen, sie sei dann auch da. Aber die beiden trafen sich zufällig schon vorher in einer anderen Bar, die an dem Abend ein Fußballspiel zeigte. Rostock ist eben keine große Stadt, sagt Chrissy. Erst tat sie so, als würde sie ihn nicht wiedererkennen. Aber er kam zu ihr herüber, sie plauderten und tanzten wieder ein bisschen miteinander. Als Chrissy sich verabschieden wollte, weil sie am nächsten Morgen früh arbeiten musste, begleitete Aliou sie nach draußen. „Ich gehe auch nach Hause”, sagte er. „Aber du gehst dann wirklich zu dir”, antwortete sie streng. Schließlich sollte Aliou nicht denken, dass Chrissy leicht zu haben ist.
Also schlenderten die beiden zu Fuß durch die Innenstadt zur Straßenbahn-Haltestelle und unterhielten sich wieder so gut, dass die Zeit nur so verflog. Wie konnte es sein, dass zwei Menschen, die Tausende Kilometer voneinander entfernt geboren waren, so viel gemeinsam haben? Aliou und Chrissy warteten zwanzig Minuten auf seine Straßenbahn, aber er stieg nicht ein, sondern küsste sie. Danach nahm er ihr Gesicht in seine Hände und blickte ihr tief in die Augen. „Der Augenblick nach dem Kuss war ganz schön intensiv”, sagt sie. Und statt auf die nächste Bahn zu warten, wollte er sie nach Hause bringen. „Gut, aber nur bis zur Haustür, du kommst nicht mit hoch”, sagte sie.
Die beiden gingen zu Fuß durch die halbe Stadt, ganz langsam. Sie redeten wieder über ihre Lieblingsthemen, über Geld und Freiheit und Hakuna Matata. „Ein Wort hat das andere ergeben. Wir haben uns lustig gemacht über Leute, die sagen: ‚Wir haben zwei Autos und müssen noch ein drittes haben‘, sagt sie. „Die Leute wollen immer mehr, immer mehr”, sagt er. „Aber warum?”
Und obwohl sie schon vor Mitternacht aus der Bar gegangen waren, wurde es langsam hell, als sie vor Chrissys Haus standen. „Wenn Aliou etwas Wichtiges sagen will, bleibt er immer stehen”, sagt sie. Vor der Haustür haben sie sich wieder geküsst, und plötzlich war es zu spät, um noch schlafen zu gehen. „Die Zeit ist so gerannt, dass ich gleich zur Arbeit musste”, erzählt sie. „Wir fragen uns auch immer noch, was mit der Zeit passiert ist an dem Abend.”
Chrissy wollte eigentlich nach Neuseeland
Sie erzählte ihm von Australien. Sie war nach dem Abitur ein Jahr lang dort gewesen und erst vor kurzem zurückgekehrt. In der Zeit in Australien hatte sie sich sehr verändert. Das Leben in Deutschland und die Erwartungen der deutschen Gesellschaft erschienen ihr eng und klein. Sie wollte noch schnell ihre Ausbildung in Rostock fertigmachen und dann wieder weg nach Neuseeland, mindestens für ein Jahr, bis sie einen Psychologie-Studienplatz bekommen würde, vielleicht auch länger, vielleicht für immer.
Lust auf eine feste Beziehung hatte sie nicht. „Ich wollte mir in Deutschland kein Leben aufbauen”, sagt sie. Aber sie gab Aliou dann doch ihre Telefonnummer nach der schlaflosen Nacht und den Küssen vor der Haustür und schaute den ganzen Tag aufs Handy. „Es war das erste Mal nach langer, langer Zeit, dass ich meine Telefonnummer rausgegeben habe. Ich war fast ein bisschen böse auf mich, ich wollte ja nach Neuseeland”, sagt sie. „Aber dann dachte ich: Du musst ihn ja nicht gleich heiraten.”
Aliou war begeistert von ihr. „Ich war fasziniert, dass sie ohne Schlaf zur Arbeit gefahren ist”, sagt er. Er hätte nicht gedacht, dass eine deutsche Frau so etwas machen würde. Nach drei Tagen rief er sie an, schneller ging es nicht, weil er kein Guthaben auf der Prepaid-Karte seines Handys hatte. Ein Flüchtling wie er hat nicht viel Geld und bekommt nur schwer einen normalen Handyvertrag. „Sonst hätte ich gleich am ersten Abend angerufen”, sagt er.
Er kochte für sie im Alte-Leute-Pullunder
Beim nächsten Treffen kam er zu Besuch in ihre WG und kochte für sie. Er hat seitdem schon so viele Mahlzeiten für sie gekocht, dass sie gar nicht mehr weiß, was er gemacht hat an diesem ersten Abend. Vielleicht Couscous mit Mangos, was inzwischen ihr Lieblingsessen ist? Aber Chrissy weiß noch ganz genau, wie Aliou in ihrer kleinen, schmalen Küche am Herd stand und stundenlang kochte. „Er hatte ein Hemd an und so einen grauen Pullunder, wie ihn alte Leute tragen”, sagt sie. „Er wollte sich schick machen für mich.”
Sie sah ihm beim Kochen zu, trank Rotwein, erzählte ihre Geschichten und hörte seinen Geschichten zu. Nach und nach erfuhr sie, welch langen Weg der Mann, der so viel lacht und „Hakuna Matata” sagt, zurückgelegt hatte, um in ihrer WG-Küche in Rostock für sie zu kochen. Heute kennt sie seine Geschichte fast besser als er selbst.
Wenn man Aliou fragt, seit wann er in Deutschland ist, überlegt er, nimmt seine rote Baseball-Kappe ab, streicht sich über den Kopf und setzt die Kappe wieder auf. „Ich weiß nicht genau, in Afrika konzentrieren wir uns nicht so auf Jahre und Monate. Ich habe immer ohne Termine gelebt”, sagt er. „Hier ist das anders. Um acht ist um acht.” Chrissy lacht. „Im April 2013 ist er nach Deutschland gekommen”, sagt sie. „Ich kann mir so etwas merken.”
Sein Cousin verschwand plötzlich spurlos
Aliou kam als Flüchtling nach Deutschland und beantragte Asyl wegen politischer Verfolgung. Er gehört zu einer Minderheit in Mauretanien, dem Stamm der Fulbe. Anders als die meisten Mauretanier sind sie Schwarzafrikaner, keine Araber oder Berber. Alious Volk lebt vor allem im Süden des Landes und in der gesamten Sahelzone, unter anderem in Guinea, Senegal und Gambia. Ursprünglich waren die Fulbe Nomaden. Als Aliou ein Kind war, war es normal für seine Familie, zwischen Mauretanien, Guinea und Senegal hin und herzuziehen. Einen Pass hatte niemand, die Grenzen wurden nicht kontrolliert und hatten keine große Bedeutung. Von der mauretanischen Stadt Rosso, in der Aliou eine Zeitlang lebte, musste man nur den Senegal-Fluss überqueren und war im Nachbarland.
Aliou war das einzige Kind der ersten Frau seines Vaters, er wurde in Mauretanien geboren und zog später nach Guinea und dann wieder zurück. Er hat Halbgeschwister von zwei weiteren Ehefrauen seines Vaters, der starb, als Aliou noch klein war. Er kann sich kaum an seinen Vater erinnern. Aliou und seine Mutter lebten bei der Familie des Vaters. Aliou ging zur Schule, danach suchte er sich hier und da Arbeit als Automechaniker, feste Jobs gab es kaum im armen Mauretanien. Aber arm war seine Familie nicht, sie waren irgendwo in der Mitte, nicht arm und nicht reich. „Mein Papa war selbständig”, sagt er. „Kinder haben, ein Haus haben, Kühe haben – das ist der Traum bei uns, und wir hatten das alles. Und wir waren frei.” Viele Schwarzafrikaner in Mauretanien waren Sklaven, Alious Familie nicht, seine Großeltern waren einst vor der Sklaverei von Mauretanien nach Guinea geflüchtet.
Mit den Jahren verschlechterte sich die Lage für die Fulbe und andere Schwarzafrikaner in Alious Heimat. Die Wüste dehnte sich immer weiter aus, Wasser wurde immer kostbarer. Und die Araber und Berber, die Mauretanien beherrschen, drängten die schwarzen Minderheiten weg von dem fruchtbaren Land am Senegal-Fluss und weiter hinein in die Wüste. „Es gab Streit um Wasser zwischen den Völkern”, erzählt Aliou. Und meist verloren seine Leute den Streit, erzählt er. „Der Präsident sagt immer, dass wir keine Mauretanier sind, nicht wählen dürfen und keine Rechte haben.” Darum bekam Aliou auch keinen Pass.
Obwohl die Sklaverei eigentlich verboten ist, leben noch immer viele schwarze Mauretanier als Sklaven. Alious Cousin machte bei einer Initiative gegen die Sklaverei mit und gründete eine Partei. Auch Aliou beteiligte sich an Protesten. „Wir wollten alle mit den gleichen Rechten leben in diesem Land”, sagt er. Aber dann wurden Oppositionelle entführt, auch aus Alious Familie, sein Cousin verschwand spurlos. Aliou bekam Angst, dass er als Nächstes dran wäre, und tauchte unter. Er erfuhr, dass die Geheimpolizei ihn suchte. Wenn sie ihn gefunden hätten, wäre er gefoltert und vielleicht ermordet worden, glaubt er. Damals trat die Angst in sein Leben – die Angst, wegen der er nach Deutschland floh.
„Warum hätte ich sonst das Land verlassen sollen?”, fragt er. „Na ja, um mich zu treffen”, sagt Chrissy und lacht.
Der Plan: zu Fuß nach Frankreich
Chrissys Leben war ganz anders. Sie ist in Rostock groß geworden. Ihre Eltern sind beide Beamte. „Aber ich bin keine typische Beamtentochter”, sagt Chrissy. „Meine Eltern sind nicht mit Schlips und Kragen rumgelaufen. Ich bin keine reiche, verzogene Tochter.” Als sie als Teenager einen Eastpak-Rucksack haben wollte, musste sie ihn sich ersparen. Chrissy und Aliou erzählten sich ihre Geschichten in diesen ersten Wochen des Kennenlernens, als Aliou für Chrissy kochte und sie die Nächte hindurch nicht aufhören konnten zu reden. Chrissy musste erst einmal im Atlas nachschauen: Wo genau liegt eigentlich Mauretanien? Tatsächlich, am Atlantik zwischen Westsahara, Senegal und Mali. Wo der Senegal-Fluss? Die Stadt Rosso?
Das Rote Kreuz hatte Aliou damals geholfen, Mauretanien zu verlassen. Auch sein Cousin war Dank der Hilfsorganisation in Sicherheit, erfuhr Aliou später. Erst floh er über den Fluss in den Senegal und blieb dort drei Monate. Das Rote Kreuz versprach ihm, ihn nach Europa zu bringen, aber dazu brauche er einen Pass. Ein Cousin knipste ein Foto von ihm und organisierte einen senegalesischen Pass. Das Rote Kreuz besorgte ihm dann ein Visum, und Aliou buchte einen Flug von Dakar nach Frankfurt. Eigentlich wollte er nach Paris, er sprach ja fließend Französisch wie fast alle Mauretanier, aber der Flug nach Frankfurt war billiger. Von Frankfurt nach Paris könne es ja nicht weit sein, dachte er. Und stieg mit seiner Reisetasche, seinem einzigen Gepäck für ein neues Leben, in die Lufthansa-Maschine.
In Frankfurt behielt die Polizei seinen Pass ein und winkte ihn zur Seite. Die Grenzbeamten stellten viele Fragen, nahmen seine Fingerabdrücke und ließen ihn warten, Aliou fühlte sich sehr allein in dem fremden Land. „Ich habe lange gewartet”, erzählt er. „Gewartet, gewartet, gewartet.” Dann ließen ihn die Polizisten einfach gehen. Er trat hinaus aus dem Flughafen, inzwischen war es Nacht geworden, und er wusste nicht, wohin er gehen sollte.
Er fragte einen Taxifahrer, dessen Haut genauso dunkel war wie seine, wie weit es nach Frankreich sei. „Ich dachte, das sei wie Rosso und ich könnte zu Fuß gehen”, erzählt er. Der Taxifahrer kam aus dem Senegal und sprach Französisch, er erklärte ihm, dass er nicht nach Frankreich reisen kann – nicht nur, weil es viel zu weit ist zu Fuß, sondern auch, weil ein Flüchtling immer in dem Land bleiben muss, in dem er zuerst ankommt und das zuerst seine Fingerabdrücke abgenommen hat. „Das nennt sich Dublin-Verfahren”, sagt Chrissy. „Ich weiß das jetzt alles.”
Alle Mauretanier müssen nach Meck-Pom
Aliou wusste nicht, was er machen sollte. In Deutschland kannte er niemanden, er sprach kein Wort Deutsch. „Es ist jetzt Nacht, du kannst bei mir schlafen”, sagte der fremde Taxifahrer zu ihm. „Und dann gucken wir morgen, wie ich helfen kann.” Am nächsten Tag half er Aliou, sich auf den Weg nach Dortmund zu machen, weil er dachte, dass Aliou dort den Asylantrag stellen müsse. Chrissy hat das inzwischen schon häufig erlebt, dass bei den Afrikanern auch Fremde einander helfen. „Sie sagen ‚Guten Tag‘ zueinander auf der Straße, obwohl sie sich noch nie getroffen haben. Es ist normal, dass man sich hilft. Für mich ist das beeindruckend.”
Aliou fuhr also nach Dortmund, schlief eine Nacht in einem Mehrbettzimmer im Flüchtlingsheim und fand heraus, dass alle Mauretanier in Mecklenburg-Vorpommern Asyl beantragen müssen, genauer gesagt im Örtchen Horst. Im Wald an der Elbe, wo früher DDR-Grenzer patrouillierten, liegt das Erstaufnahmeheim, es ist meist überbelegt. Aliou reiste weiter nach Horst und beschwerte sich nicht. Er bekam ein bisschen Geld dort und konnte in einer kleinen Kantine essen. „Es war nett und sauber, jeden Tag musste jemand putzen”, sagt er. „Aber ich wollte meine Freiheit, mein neues Leben anfangen.”
In Horst erzählte er die Geschichte seiner Flucht. Er berichtete, wie die Geheimpolizei nach ihm suchte, er erzählte von seiner Angst. Der Beamte kannte sich gut aus mit der Lage in Mauretanien, er stellte die richtigen Fragen, ein Übersetzer war immer dabei. Aliou war sich sicher, dass er Asyl bekommen würde. Er blieb einen Monat in Horst, dann zog er weiter nach Rostock, ins Asylbewerberheim. Dort begann das große Warten, schließlich wusste er nicht, wann er Post von der Ausländerbehörde bekommen würde. Es könnte einen Monat dauern oder sechs oder vielleicht auch ein Jahr, sagten ihm die Sozialarbeiter. Und bis sein Antrag genehmigt wird, könne er nichts machen. Nicht arbeiten und die Region nicht verlassen. Aber er konnte in die Disco gehen, Chrissy treffen, für sie kochen und ihr Freund werden.
Chrissy sagt, dass sie nichts Ernstes will
Wobei es gar nicht so leicht war für Aliou, Chrissy für sich
zu gewinnen. Er merkte ganz schnell, dass er sich in sie verliebt hatte. Er erinnert sich noch an den Moment, in dem es ihm bewusst wurde. Sie saßen auf dem Sofa in ihrer WG und sprachen davon, wie sie mit einem VW-Bus um die Welt fahren wollen. Sie würden überall Halt machen, wo es ihnen gefällt, und sie wären frei. „Das war mein Traum”, sagt er. „Und es war auch ihr Traum. Wir wollen beide alles wissen von der Welt.”
Aber Chrissy hatte auch ihren Traum von Neuseeland. Außerdem hatte sie sich selbst versprochen, dass der nächste Mann, den sie nach Hause zu ihren Eltern bringt, auch der letzte sein soll. Sie wollte sich erst ganz sicher sein, dass dieser Mann Aliou ist. „Ich musste kämpfen um ihr Herz”, sagt er.
Monatelang trafen sich die beiden mehrmals in der Woche, für ihn war es, als seien sie schon längst ein Paar. Aber Chrissy sagte ihm immer wieder, dass sie nichts Ernstes wolle. Er hat das lange gar nicht verstanden. „Wenn sich eine Frau und ein Mann bei uns küssen, dann sind sie auch zusammen”, sagt er. „In Deutschland ist das anders, du kannst alles machen, Sex und so, und musst trotzdem erst sagen: Wir sind ein Paar.” Ein Freund hat ihm das irgendwann erklärt. Aber so ganz versteht er es noch heute nicht. „Irgendwann fand er das nicht mehr so lustig”, sagt Chrissy. Einmal sagte er zu ihr: „Ich glaube, du spielst nur mit mir.” Aber das stimmte nicht, sie hatte sich schon längst in ihn verliebt und wollte es sich nur nicht eingestehen. Es war schon fast Winter, als sie es zugab. „Dann waren wir ein Paar”, sagt sie.
Hakuna Matata heißt keine Probleme
Danach kamen die unbeschwertesten Monate ihrer Liebe. Sie kochten und redeten dabei, sie lernten einander immer besser kennen, trafen Freunde, gingen tanzen und fuhren an den Strand an der Ostsee. Meist übernachteten sie in ihrer WG, aber Chrissy schlief auch mal im Asylbewerberheim, Aliou hatte dort sein eigenes kleines Zimmer. „Das gehörte ja zu ihm, das hat mir nichts ausgemacht”, sagt sie.
Er fing an, zu deutschen Schlagern zu tanzen, die sie deutlich mehr liebt als er, und merkte sich den Text von einem Lied von Helene Fischer. Sie lernte von ihm, wie man Eier kocht: gleichzeitig im Topf mit Nudeln oder Kartoffeln, so macht man das in Mauretanien. „Dann braucht man nur eine Herdplatte und kann Strom sparen, sehr praktisch”, sagt sie. Er lernte von ihr, dass die Deutschen erwarten, dass er überall pünktlich erscheint. „Ich frage immer, warum du so einen Stress machst”, sagt Aliou. „Hakuna Matata. Ich finde es so schlimm, wenn man das ganze Leben immer nur auf die Uhr guckt.” Chrissy macht sich ein bisschen darüber lustig. „Aber du findest es dann schon schön, wenn ich für dich gucke, wann die Straßenbahn kommt und du nicht zehn Minuten warten musst, oder?”, sagt sie.
Eigentlich mag sie seine Entspanntheit. „Wir genießen alles viel mehr, und wenn wir fünf Minuten zu spät kommen, dann ist das eben so”, sagt sie. Sie wussten in diesen unbeschwerten Monaten, dass irgendwann die Nachricht von der Asylbehörde kommen würde – aber sie dachten nicht viel daran. Aliou machte sich keine Sorgen – und Chrissy ließ sich davon verführen. Die Angst war weit weg.
Die Eltern waren „nicht böse überrascht”
Es wurde schon wieder Sommer, als Chrissy Aliou ihren Eltern vorstellte. Sie wollte das nicht überstürzen, schließlich hatte sie sich ja geschworen, dass der nächste Mann, den sie nach Hause bringt, auch der letzte in ihrem Leben sein wird. Zuerst erzählte sie ihrer Mutter von Aliou, bei einem Fußballspiel. „Ich habe einen afrikanischen Asylbewerber zum Freund”, sagte sie zu ihr. Ihre Mutter war erst ganz schön erschrocken. Aber Chrissy beantwortete in Ruhe alle Fragen. Am nächsten Tag fragte ihre Mutter bei Facebook, ob Chrissy ihr nicht ein Foto von Aliou schicken könne. Als sie sein sympathisches Lächeln sah, war die Sache für sie erledigt. Wenn Chrissy Aliou vertraue, wolle sie ihm auch vertrauen.
Auch der Vater war überrascht, als Chrissy ihm die Nachricht beim Abendessen vier Wochen später überbrachte. „Aber nicht böse überrascht”, sagt Chrissy. Er hatte ein wenig Angst, dass es gefährlich wäre für seine Tochter, mit einem Schwarzafrikaner durch die Straßen von Rostock zu gehen. Dass Aliou selbst für Chrissy gefährlich sein könnte, dachte er nie. Er wolle den jungen Mann jetzt aber treffen, sagte er.
Am Tag des großen Kennenlernens tauchte Aliou wieder mit Hemd und Pullunder auf. „Es war sehr aufregend”, sagt er. Sie warteten an der Haltestelle, ließen aber erst mal einen Bus wegfahren, bevor sie sich aufraffen konnten. In den nächsten Bus stiegen sie dann ein. Der Fußweg von der Haltestelle zum Haus von Chrissys Eltern ist eigentlich nur ein paar hundert Meter lang. „Es war für mich der härteste Lauf aller Zeiten”, sagt er. „Es fühlte sich an wie Kilometer.”
Aliou schwitzte, traf die Eltern dann im Garten und traute sich kaum, sein Stück Kuchen zu essen. Chrissys Vater trank in zwanzig Minuten zwei Bier. Sie unterhielten sich, so gut es ging, aber Aliou sprach damals noch kaum Deutsch und Chrissys Vater kein Englisch. Nach einer halben Stunde gingen die beiden wieder. „Aber sie waren wirklich freundlich, ich war überrascht”, sagt Aliou. „Ihre Eltern sind außergewöhnlich. Sie haben mich akzeptiert, wie ich bin. Sie sind wirklich gute Leute.”
Heute gehört Aliou zur Familie, beim allwöchentlichen Sonntagsessen ist er immer mit dabei, auch während des Ramadan, auch wenn es Schweinefleisch gibt. Er ist Muslim, aber nicht sehr religiös. Jedes Mal nach dem Essen bedankt er sich für die Mahlzeit. Am Anfang fanden die Rostocker Alious förmliche, afrikanische Höflichkeit lustig. Jetzt bedanken sich alle in Chrissys Familie so höflich nach dem Essen. Eine neue Tradition.
Nach elf Monaten kommt der Asylbescheid
Als sie nach diesem ersten Treffen wieder nach Hause fuhren, waren beide erleichtert und froh. „Wir waren glücklich”, sagt Aliou. „Aber nicht lange”, sagt Chrissy. Fünf Tage später kam der Brief, auf den Aliou seit elf Monaten gewartet hatte. Er rief Chrissy an und erzählte, dass der Asylbescheid angekommen sei und gar nicht gut klinge.
Dann fuhr er zu ihr, damit sie ihn selbst lesen und ihm erklären konnte. „Der Brief sagt: Du musst weg, bis Ende Mai”, erklärte ihm Chrissy. „Sie haben den Asylantrag nicht akzeptiert, da steht ‚offensichtlich unbegründet‘.” Sie mag gar nicht erzählen, wie es ihr damals ging, es tut noch immer zu sehr weh, sagt sie. „Der Brief war schlimm. Wir haben nicht mehr gut geschlafen”, sagt Aliou.
Es ging nicht nur um ihre Beziehung, es ging um Alious Leben. „Er hatte richtig dolle Angst”, sagt Chrissy. „Auf ihn wartet ja kein gutes Ende in dem Land als Wanted Person.” Warum genau die deutschen Behörden ihm Asyl verweigert haben, verstehen die beiden bis heute nicht. Hätte er irgendwie beweisen müssen, dass er verfolgt wurde? Oder war es sein Fehler, dass er mit einer falschen Identität einreiste?
„Seine Geschichte wurde einfach nicht geglaubt”, sagt Chrissy. „Sie wollten sie nicht glauben”, sagt Aliou. „Ich habe nie gedacht, dass der Brief negativ sein kann. Ich habe an die Politik hier geglaubt. Ich dachte, in Europa gibt es Freiheit, da bekommt man Hilfe, wenn man ein Problem hat”, sagt er mit leiser Stimme. „Ich war schockiert, schockiert. Ich hatte keinen Plan B. Wie sollte es jetzt weitergehen?”
Es ist von Vorteil, keinen Pass zu haben
Chrissy wollte nicht so leicht aufgeben, sie las alles, was sie über Asylrecht finden konnte, fragte ihre Eltern um Rat und ging mit Aliou zu den Sozialarbeitern beim Asylheim. Sogar ihr Vater kam mit, als Unterstützung für den Mann, den seine Tochter liebt und den er erst eine Woche vorher kennengelernt hatte. Sie stellten schnell fest, dass die Situation sehr schwierig war. „Alles war verwirrend”, sagt Chrissy.
Aliou hatte noch vor dem Brief, den er Chrissy gezeigte hatte, ein anderes Schreiben bekommen, das er nicht verstand und bei dem er sich nichts weiter dachte. Doch das war der wichtige Bescheid, in dem alles niedergeschrieben war, was bisher passiert war, unter anderem die ärztliche Untersuchung und das Interview aus Horst. Auf der letzten Seite des ellenlangen Briefs stand dann die Ablehnung mit dem Verweis, dass er vier Wochen Zeit habe, Widerspruch einzulegen. Doch Aliou hatte das nicht gesehen und verstand es nicht. Nach vier Wochen folgte dann der Brief, dass die Frist verstrichen sei und er deshalb innerhalb der nächsten zwei Wochen das Land zu verlassen habe. Erst dann begriff er, was passiert war, und zeigte Chrissy den Brief.
Bald fanden sie heraus, dass es ein Vorteil war, dass Mauretanien Aliou nie einen Reisepass gegeben hatte. „Ohne Ausweispapiere kannst du auch niemanden ins Flugzeug setzen”, sagt Chrissy. Sie fuhren gemeinsam nach Berlin, um dort bei der Botschaft seines Landes noch einmal einen Pass für ihn zu beantragen. Das mussten sie tun, denn Flüchtlinge haben eine Mitwirkungspflicht an ihrer Abschiebung. Aber auch bei der Botschaft bekam er keinen Pass mit der Begründung, er könne ja auch Senegalese oder Franzose sein. „Mein Land will mich nicht haben, und hier will man mich auch nicht”, sagt Aliou.
Duldung bedeutet nur einen Aufschub
Danach war Aliou offiziell geduldet in Deutschland. Die Duldung gab ihm kaum Rechte, war aber eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung. Doch wie lange sie ausgesetzt bleiben würde, ob es plötzlich nachts klingeln und Aliou mitgenommen würde, wussten die beiden nie. Nach dem Schock des Briefs entschieden sie, dass sie ab sofort nur noch Deutsch miteinander sprechen würden – je besser integriert Aliou wäre, desto unwahrscheinlicher wäre die Abschiebung.
Es war ganz schön schwierig, von einem Tag zum anderen die Sprache zu wechseln, aber die beiden waren streng. Sie zeigte auf einen Löffel und sagte „Löffel”. Er wollte ein Kaugummi und sagte etwas auf Deutsch, was für sie wie „Küchenmehl” klang. Sie holte das Mehl, er schüttelte den Kopf und machte Kaubewegungen. Sie verstand. Inzwischen spricht er so gut Deutsch, dass er alles sagen kann, was er sagen will, obwohl Chrissy ihn damit aufzieht, dass das Wort „plötzlich” bei ihm klingt wie „pscht” und „schwarz” wie „swats”.
Chrissys Eltern bezahlten ihm den ersten Sprachkurs, Anspruch auf den vom Staat bezahlten Integrationskurs hatte er als Geduldeter nicht. Er bestand den ersten Sprachtest, die Kosten für den zweiten Kurs übernahm dann die Behörde. Auch eine Krankenversicherung hatte er nicht. Wenn er krank geworden wäre, hätte Deutschland ihn nur notdürftig versorgt.
Eigentlich hätte er auch nicht arbeiten dürfen. Aber er fand mit Chrissys Hilfe einen Praktikumsplatz in einem Altersheim. Dort kam er so gut an mit seiner Höflichkeit und seiner zupackenden Art, dass die Leiterin ihm eine feste Stelle als Altenpflege-Helfer anbot. Er mag seinen Job, sagt er. „Bei uns ist das normal, dass man den alten Leuten hilft. Bei uns leben die alten Leute zu Hause bei ihren Familien, die Kinder müssen sie betreuen.” Chrissy hat viel von ihm gelernt, sagt sie. „Er hat oft so eine gesunde Einstellung. Viel ist in Afrika nicht so vom System getragen, sondern menschlicher.”
Der Weg zu seinem Job, für den das Altersheim schon seit langem jemanden gesucht hatte, war ein Papierkrieg, erzählt Chrissy. Sie mussten nachweisen, dass Aliou keinem Deutschen, EU-Bürger oder Ausländer mit richtiger Arbeitserlaubnis den Job wegnimmt. Er brauchte einen Bescheid für die Unfallversicherung, dann noch eine Arbeitsplatzgenehmigung. Auch wenn er die Gegend um Rostock verlassen wollte, brauchte er dafür ein besonderes Papier. „Wofür ist Papier da, was sagst du immer?”, sagt Chrissy zu Aliou. „Für die Toilette”, antwortet er grinsend. „So viele Papiere wie jetzt in Deutschland habe ich noch nie gehabt.”
Aber es klappte: Obwohl er nur geduldet war, hatte er jetzt einen festen, sozialversicherungspflichtigen Job. Er zahlte Steuern, zog aus dem Asylbewerberheim aus und fand mit Chrissy die Wohnung mit dem Balkon. „Wenn ich zurückdenke, was wir schon alles durchgemacht haben”, sagt er. „Es war immer parallel, dieser Kampf mit den Behörden und so voneinander verzaubert zu sein”, sagt Chrissy. „Wenn wir jetzt hier in unserer Wohnung sitzen, fragen wir uns manchmal, wie wir das überhaupt hingekriegt haben. Vor zwei Jahren war alles noch so aussichtslos, und jetzt sitzen wir hier so.” Sie legt die Hand auf ihren Bauch.
Das Kind hat ein Recht auf einen Vater
Das Baby in ihrem Bauch könnte ihre Rettung sein. Denn den Vater eines deutschen Kindes schieben die Behörden nicht ab. „Das Kind hat ein Recht auf einen Vater”, sagt Chrissy. „Ein Leben, das erst entsteht, hat mehr Rechte als er.” Sie ärgern sich, dass Deutschland Aliou als Menschen noch immer nicht will, sondern nur über seine Rolle als Vater zulässt. „Was kann man denn noch machen?”, fragt Chrissy. „Mehr als arbeiten, die Sprache lernen, Steuern zahlen und nicht straffällig werden kann man doch nicht.”
Eigentlich wollten die beiden heiraten. An einem Tag im August haben sie sich verlobt, Aliou hat förmlich bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten, ein Brauch, den Chrissy ihm erst erklären musste. Aber dann standen wieder die Dokumente im Weg. Alious Mutter hatte über Umwege seine Geburtsurkunde und ein Ledigkeitszeugnis besorgt und nach Rostock geschickt, aber zum Heiraten braucht man auch einen Pass – und genau den hat er ja nicht.
Chrissy hat schon ein paarmal mit Alious Mutter telefoniert, um sie kennenzulernen. Auf Französisch. Chrissy sagte nur „Ça va?” und ein paar Kleinigkeiten und war immer sehr nervös. „Seine Mutter lacht dann immer so laut”, sagt sie. „Ich hoffe, weil sie meinen Akzent süß findet.” Chrissy hatte sieben Jahre lang in der Schule Französisch gelernt, aber im Unterricht nicht besonders gut aufgepasst, erzählt sie. „Die Lehrerin hat immer gesagt: Irgendwann werdet ihr das brauchen. Aber ich habe ihr keinen Glauben geschenkt.”
Ihr Kind soll zweisprachig aufwachsen, und Aliou will ein ganz anderer Vater sein als in Mauretanien üblich. Er will bei der Geburt dabei sein, obwohl Männer sich in seiner Heimat üblicherweise erst mit ihren Kindern beschäftigen, wenn die schon laufen können. „Ich bin ein moderner Mann”, sagt er. „Ich will wissen, wie mein Sohn gekommen ist. Ich denke, dass das meine Aufgabe ist.” Von Polygamie hält er nichts, seit er gesehen hat, wie viel Schmerz es den Frauen und Kindern verursacht hat, dass sein Vater mehrere Ehefrauen gleichzeitig hatte.
Chrissy verschiebt ihre Neuseelandpläne
Chrissy ist jetzt in Mutterschutz, aber in den Monaten vorher hat sie erlebt, wie es in Deutschland mit den vielen Hunderttausenden Flüchtlingen läuft, von denen sie einen liebt. Sie arbeitete in der Flüchtlingshilfe beim Deutschen Roten Kreuz, in der Notunterkunft für Transitflüchtlinge, die nach Schweden weiter wollten. Später wurde aus der Transitunterkunft dann eine Notunterkunft für die, die bleiben wollen, aber noch keine feste Schlafstätte haben. Chrissy war Schichtleiterin und passte auf, dass jeder etwas zu essen hatte und alle gleich viel von der gespendeten Kleidung bekamen.
Psychologie studieren will sie immer noch, wenn das Baby etwas größer ist, sie ist ja noch jung. „Durch Aliou habe ich zu mir gefunden”, sagt sie. „Ich habe gelernt, was mir wirklich wichtig ist. Was meine Ziele im Leben sind, worum es mir geht.” Sie wollte eigentlich schon immer eine Familie gründen, dachte aber, dass man dafür verheiratet und mit dem Studium fertig sein muss, dass man ein Haus haben muss und einen Job. Aliou hat sie gefragt, warum sie das glaubt. Sie antwortete: „Sicherheit.” Und Aliou fragte wieder: „Warum?” Irgendwie hat er doch recht damit, sagt Chrissy. „Was ist denn sicher im Leben? Nichts ist sicher.”
Ihre Neuseeland-Pläne sind erst einmal verschoben. „Stattdessen ist Afrika zu mir gekommen”, sagt sie. „Was ist denn die Liebe deines Lebens gegen ein Jahr im Ausland?”, sagte ihre Mutter zu ihr. „Wenn du unbedingt nach Neuseeland willst, wird sich die Chance noch mal ergeben”, sagte ihre beste Freundin. „Irgendwann machen wir eine Reise um die Welt”, sagt Aliou.
Mit Deutschland, das ihr nach ihrer Australien-Reise so klein und eng vorkam, hat sie sich ein bisschen versöhnt. Sie hat gemerkt, wie gut es ist, kostenlos zum Arzt gehen zu können und jetzt im Mutterschutz trotz der Schwangerschaft weiter ihr Geld zu bekommen. „Die Dinge, die ich für Standard gehalten habe, sind in Wirklichkeit ein sehr hoher Standard”, sagt sie. Die beiden wünschen sich ein kleines, normales Leben in Mecklenburg-Vorpommern. Sie wollen ein Haus bauen und einen Garten haben mit Tomaten darin, mit Tieren und Kindern.
Die Angst vor der Abschiebung ist geblieben
Aliou würde gern als Automechaniker arbeiten, aber die Altenpflege ist auch in Ordnung. „Wir haben schon viele Träume. Wir reden oft davon”, sagt sie. „Ich fühle mich zu Hause hier”, sagt er. Wenn nur die Angst vor der Abschiebung nicht mehr wäre.
Natürlich ist es manchmal nicht einfach, ein Afrikaner in Rostock zu sein, schließlich gibt es dort mehr Rechtsradikale als an manchen anderen Orten. Ganz am Anfang ist Aliou einmal zusammen mit einem irakischen Bekannten aus dem Asylbewerberheim in Schwierigkeiten geraten. Die beiden hatten zwei deutsche Mädchen in einem Kaufhaus angesprochen. Plötzlich kamen vier oder fünf deutsche Männer auf Aliou und seinen Freund zu und schrien sie an. Aliou verstand kein Wort. Einer der Männer gab ihm eine Ohrfeige, Aliou boxte ein bisschen zurück. Die Polizei kam, aber es hatte keine Konsequenzen.
Etwas Schlimmes ist ihm danach nie wieder passiert, aber wenn er durch Rostock läuft, bemerkt er schon die Blicke. „Die Leute schauen mich an, und ich merke, dass sie sich fragen, was ich hier mache.” Und natürlich fragt er sich dann, warum das so ist. Er wundert sich, aber er ärgert sich nicht. „Ich bin stolz, so einen starken Mann gefunden zu haben, der über so etwas einfach drübersteht”, sagt Chrissy. „Für mich ist die Hautfarbe natürlich egal.”
Und Deutschland gefällt Aliou trotz allem, er versteht jetzt auch die Deutschen besser. Am Anfang wunderte er sich jedes Mal, dass in der Straßenbahn niemand „Guten Morgen” sagt. Jetzt hat er gemerkt, dass er die Deutschen erst ein wenig kennenlernen muss, damit sie offen und freundlich zu ihm sind. „Sie sind wie eine Konservendose. Man sieht nicht, was drinnen ist, man muss sie erst öffnen.”
Ein Personalausweis aus Guinea
Wenn Aliou auf dem Balkon sitzt, trägt er gern seine orangeschwarze Hose mit einem afrikanischen Muster mit Elefanten, die seine Mutter ihm genäht hat und die damals in seiner Reisetasche steckte, mit der er in Frankfurt landete. Er vermisst seine Heimat manchmal, vor allem wenn er den Mond sieht. Wenn er morgens früh um sechs aufsteht, um zur Arbeit zu fahren, und es noch dunkel und kalt ist, scheint der Mond milchig über Rostock. „Ich konnte als Kind den Mond so gut sehen in der Wüste, das vermisse ich”, sagt er. „Es ist der gleiche Mond hier in Deutschland, aber bei uns ist er viel heller.”
Vor kurzem hat er einen Personalausweis aus Guinea bekommen. In dem Land kann man mehrere Staatsangehörigkeiten haben. Weil seine Mutter aus Guinea kommt, hat ihn das Land akzeptiert und seiner Mutter einen Ausweis für ihren Sohn ausgestellt. Für einen Reisepass muss er allerdings nach Guinea fliegen. Irgendwann nach der Geburt will die ganze kleine Familie dorthin reisen, wenn sie von der Ausländerbehörde irgendeine Garantie bekommt, dass sie Aliou auch zurück nach Deutschland lässt. Alious Mutter will ja das Baby kennenlernen. Und Alious und Chrissys Kind soll auch das Land seines Vaters erleben. Wenn Aliou dann endlich seinen Reisepass bekommt, könnten die beiden heiraten und Aliou dürfte für immer in Deutschland bleiben. Dann könnte die Angst bei ihnen ausziehen.
Noch ist die Angst ihr Mitbewohner in ihrer Dreizimmerwohnung in Rostock. Manchmal haben sie das Gefühl, die Gesetze für Flüchtlinge ändern sich täglich – was, wenn auch Väter bald abgeschoben werden? Aber sie haben gelernt, mit der Angst zu leben. „Wir haben irgendwann akzeptiert, wie es ist, und uns gesagt, wir hoffen weiter und leben weiter”, sagt Aliou. „Wir mussten lernen, die Angst auch mal zu vergessen”, sagt Chrissy. „Wir haben gelernt, das Glücklichsein in unserer Welt zu trennen von der deutschen Bürokratie.”
Und glücklich sind sie. Aliou legt die Hand auf Chrissys Bauch. Die Sonne scheint, die Möwen gleiten an ihrem Balkon vorbei, Aliou hat frisches Obst aufgeschnitten, im Kinderzimmer liegt der Strampelanzug bereit. „Wir freuen uns jeden Tag auf unser Baby”, sagt Aliou. Chrissy lächelt ihn an und legt ihre Hand auf seine.
Kathrin Werner, geboren 1983, ist Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung in New York. Sie hat in Hamburg Jura studiert, sich dann aber entschlossen, Journalistin zu werden. Für die Zeitung schreibt sie über die Welt der Wirtschaft, vor allem über die Menschen hinter den Zahlen. Privat geht sie dem schönsten Gefühl der Welt auf den Grund: „Ich habe 20 wahre Liebesgeschichten gesammelt, die so groß und überraschend sind, dass man denkt, so etwas könnte im wahren Leben doch gar nicht passieren.” Ihr Buch ist Ende September 2017 im S. Fischer Verlag erschienen.
Illustration: Peter Gericke für Krautreporter.