„Du, ich muss dir etwas sagen”, sagte Andreas. „Ich bin eine transsexuelle Frau.” Claudia blickte Andreas an. „Was ist denn das? Wieso? Was bedeutet das?”, antwortete sie. Andreas sagte ruhig: „Ich bin eigentlich in meinem Innersten eine Frau und muss mich da angleichen.”
Claudia weinte nicht, Claudia schrie nicht, Claudia lachte nicht. „Ich habe das wie durch einen Nebel gehört”, sagt sie. „Ich habe das erst gar nicht an mich herankommen lassen, gar nicht ernst genommen.” Sie dreht sich um zu Dorothea, die heute, fünf Jahre später, neben ihr an dem gleichen Tisch sitzt. „Du hast es ernst gemeint, aber ich habe es nicht ernst genommen.”
Dorothea war bis zu diesem Moment Claudias Mann, zumindest nach außen, zumindest dachte Claudia das. Aber Andreas gab es nur äußerlich. Und weil Dorothea im Innersten schon immer eine Frau war, ist es wichtig, das Pronomen „sie” auch zu verwenden, wenn man von den alten Zeiten erzählt, in denen sie noch als Mann wahrgenommen wurde.
In der Zeit vor ihrem Coming-out am Küchentisch hatte sie viel gearbeitet, sie hatte eine neue Pfarrstelle in einem bayerischen Dorf angenommen, die Familie war gerade umgezogen, manchmal war sie so im Stress, dass sie die Treppen so schnell hinauf- und hinabrannte, dass sich Claudia Sorgen machte, sie würde stolpern und sich das Genick brechen. „Ich dachte, er sei überarbeitet”, sagt Claudia. „Es gibt ja diesen Spruch: Der arbeitet so hart, dass er nicht mehr weiß, ob er Männlein oder Weiblein ist.”
Aber Dorothea war nicht überarbeitet, jedenfalls war das nicht die Ursache des Coming-outs. Sie war sich absolut sicher, dass sie in Wirklichkeit eine Frau ist. Eigentlich hatte sie es schon ganz lange geahnt, schon seit ihrer Kindheit. Ihr ganzes Erwachsenenleben war es, als hätte sie ganz verschiedene Puzzlestücke in der Hand. Sie sah die Puzzlestücke und wunderte sich, aber sie konnte sie nie zu einem vollständigen Bild zusammensetzen, das ihr sagte: Ich bin eine transsexuelle Frau. Bis zu diesem Sommer, als sie das letzte Puzzleteil fand, das Bild zusammensetzte und verstand, dass sie als Frau leben wollte und musste. Dass sie Claudia davon erzählen musste. Dass in ihrem Leben nichts mehr so sein würde, wie es einmal war.
Das Wichtigste war, miteinander zu reden
Claudia und Andreas hatten eine gute Ehe. Sie hatten 1985 gleichzeitig angefangen, in München Theologie zu studieren. Sie hatten gemeinsame Freunde, fuhren die gleiche S-Bahn-Strecke zur Universität und trafen sich manchmal bei Claudia auf eine Kanne Ostfriesentee. „Es war nett, jemanden zum Reden zu haben”, sagt Dorothea. „Wir waren locker befreundet”, sagt Claudia. Andreas, wie Dorothea damals ja hieß, hatte eine andere Freundin zu dieser Zeit, Claudia gab Beziehungstipps.
Verliebt waren sie nicht ineinander. Bis Claudia Andreas zu ihrer Geburtstagsparty in ihre Heimatstadt einlud und die beiden gar nicht mehr aufhören konnten, miteinander zu reden. Andreas kam vier Tage vor Claudias Geburtstag zu Besuch. Die beiden wechselten von einer Parkbank auf die nächste in der Kleinstadt und sprachen über alles, was ihnen wichtig war.
Und plötzlich war die Liebe da. „Es passierte auf einen Schlag, als ich gemerkt habe: Mit der kann ich über alles reden, stundenlang”, sagt Dorothea. „Wir waren oft einer Meinung und wenn wir mal nicht einer Meinung waren, haben wir einen Kompromiss gefunden.” Zwei Tage nach Claudias Geburtstag waren sie schon verlobt. „Wir haben gleich gesagt: wenn dann richtig”, sagt Claudia. 1986 heirateten sie.
Sie haben mal gestritten, immer viel gelacht und manchmal versucht, einander zu erziehen. Sie haben unterschiedliche Interessen entwickelt, gelernt, Kompromisse zu schließen, und Gemeinsamkeiten entdeckt. „Es war für uns immer ein wichtiger Punkt in unserer Ehe, dass wir die Sonne über unseren Streitereien nicht haben untergehen lassen”, sagt Dorothea. „Wenn wir uns gestritten haben, haben wir uns noch am selben Tag vertragen”, sagt Claudia.
Sie haben lange miteinander gesprochen, was eine gute Ehe ausmacht, und überlegt, woran andere Paare scheitern. „Wir hatten beide den Eindruck, dass andere Ehen daran scheitern, dass die Leute nicht genug miteinander reden”, sagt Claudia. „Gefühle machen eine Ehe aus, natürlich, aber das ist ein Auf und Ab”, sagt Dorothea. „Das Wichtigste für uns beide war, dass wir immer bereit sind, miteinander zu reden, alles auszusprechen und uns dafür Zeit zu nehmen.”
Andreas bewegt sich wie eine Frau
Sie wurden beide Pfarrer, über Jahre hinweg teilten sie sich eine Pfarrstelle. Nachdem sie ihren Sohn bekamen, kümmerte sich Claudia um den Haushalt und hielt Dorothea den Rücken frei. Ihnen gefiel das so. Sie schafften sich einen Hund an. Trixi ist inzwischen schon alt, heute liegt sie unter dem Tisch, schnarcht und bellt manchmal im Schlaf.
Andreas bewegt sich ab und zu ein bisschen wie eine Frau, dachte Claudia damals öfter für sich. Und wie er die Kaffeetasse hält, auch so feminin. „Du warst auch manchmal etepetete mit dir selbst”, sagt Claudia. „So richtig männlich war mein Mann nie, so einer, der allen Witterungen trotzt.” Dorothea – damals noch Andreas – gab ihr Klamottentipps, sie hatte einfach mehr Geschmack als Claudia. „Ich habe mir immer gesagt, dass er halt ein Künstlertyp ist. Ich habe nie gedacht, dass er eine Frau ist, ich kannte das ja gar nicht.” Mehr als fünfundzwanzig Jahre lang ahnte Claudia nicht, dass in ihrem Mann eine Frau steckte.
Bis zu dem Herbsttag am Küchentisch. „Mir war klar, dass ich es ihr jetzt sagen muss”, erzählt Dorothea. „Ich wollte es noch hinausschieben, aber ich konnte nicht mehr. Ich musste meiner Frau reinen Wein einschenken.” Dorothea sah nun das ganze Bild. Das letzte Puzzleteil hatte sie bei einer Veranstaltung zur Faschingszeit in ihrer Gemeinde gefunden. Etliche Leute kamen verkleidet oder schminkten sich, und eine der jungen Frauen fragte, ob sie auch den Herrn Pfarrer schminken dürfe. Alle fanden das lustig, aber für Dorothea war es ein Schock. „Als es dann im Pfarrhaus daran ging, sich abzuschminken, kam eine abgrundtiefe Traurigkeit hoch”, sagt sie. Es fühlte sich so gut und so richtig an, wie sich schon lange nichts mehr für sie angefühlt hatte.
Aber konnte das denn sein? Sie googelte „Männer” und „Schminke” und fand auf einer Website für Schminkkurse den Begriff „Transsexualität”. Nach und nach erinnerte sie sich an die anderen Erlebnisse. Wie sie schon mit fünf Jahren ihre Mutter, die sie ja Andreas nannte und für einen kleinen Jungen hielt, gefragt hatte, wie sie schwanger werden könne und dann so traurig war, als sie erfuhr, dass das nicht ginge, weil sie ja keine Gebärmutter hat. Als Kind und Jugendliche hatte sie niemanden, mit dem sie über ihre Gefühle sprechen konnte.
„Bei den Mädchen hättest du als Spanner gegolten, wenn du das erzählt hättest. Bei den Jungen ging es schon gar nicht”, sagt Dorothea. „Es gab kein Internet, ich konnte mich nicht informieren.” Das Wort „transsexuell” hatte Dorothea noch nie gehört. Ihr Elternhaus war konservativ. „Bei uns gab es so etwas nicht”, sagt Dorothea. „Und alle hatten große Angst vor der Psychiatrie, alles war tabu.”
Dorothea will sich nicht scheiden lassen
Die Teenager-Jahre waren besonders schwierig. Dorothea wollte Brüste bekommen, stattdessen wuchsen zu viele Haare. Ein Puzzleteil folgte auf das andere. Einmal ertappte sie sich zum Beispiel beim Einkaufen an der Kasse, wie sie Nylonstrumpfhosen für sich selbst kaufte, das hatte sie eigentlich gar nicht vorgehabt. Und sie liebte es, sich Damenkleidungskataloge anzuschauen. „Es war schon immer da, als wäre Dorothea unter Andreas”, sagt Dorothea.
Am Ende des Studiums hörte sie zum ersten Mal das Wort „Transsexualität”. Sie war zu dem Zeitpunkt schon mit Claudia verheiratet und liebte ihre Frau. Aber sie wollte mehr über ihre Gefühle und Transsexualität herausfinden und ging heimlich zum Psychiater.
Als die damals Siebenundzwanzigjährige dem Psychiater erzählte, dass sie glücklich verheiratet sei, antwortete der nur ganz trocken, dass eine Scheidung zwingend sei für Transsexuelle. Das sei im Transsexuellengesetz vorgeschrieben. Ohne Scheidung könne sie zwar den Vornamen, aber nicht den Personenstand ändern lassen. Sie würde dann Briefe bekommen, die als Anrede weiter „Herrn” hätten, aber dann einen weiblichen Vornamen dahinter, erklärte der Psychiater. „An Herrn Dorothea”, zum Beispiel. Aber Dorothea wollte auf keinen Fall ihre Ehe auflösen, sie liebte Claudia.
Und außerdem stünde Andreas doch auf Männer, unterstellte der Arzt. Dorothea antwortete zunehmend verzweifelt: „Ich weiß ganz genau, dass ich nicht auf Männer stehe, ich hatte immer Freundinnen.” Doch der Arzt glaubte ihr nicht. Wenn sie sich nicht scheiden lassen wollen würde, habe sie keinen klinisch relevanten Leidensdruck, diagnostizierte er. Und der sei entscheidend für die Krankenkasse.
Der Psychiater sagte, so dürfe er keine Hormone verschreiben, die sie brauchte, damit aus ihr auch körperlich eine Frau werden konnte. Sie sei einfach etwas verklemmt, sie müsse mal ihre männliche Sexualität ausleben, urteilte er. Sie sei ein Mann und müsse damit leben. Dorothea glaubte dem Psychiater, schließlich war er ein Experte. Nach dem entmutigenden Arztbesuch stürzte sie sich in die Arbeit und versuchte, ihr Leben als Mann zu leben. Jahrelang. Bis es nicht mehr ging.
Claudia droht mit Selbstmord
Dorothea hatte wochenlang gewartet, bis sie Claudia von dem Durchbruch mit dem Schminken beim Faschingsfest erzählte. „Es war ein Albtraum. Sonst habe ich meiner Frau alles erzählt”, sagt Dorothea. „Ich war völlig verzweifelt.” Vor allem hatte sie Angst, dass Claudia denken würde, dass sie ihr fünfundzwanzig Jahre lang etwas vorgemacht hatte. Sie hatte Angst, sie zu verlieren. Aber sie wusste gleichzeitig, dass sie nicht mehr als Mann weiterleben konnte. „Man kann nicht ewig weiterfasten, wenn man Grillhähnchen gerochen hat. Es hätte mich krank gemacht.”
Sie las im Internet von anderen Transsexuellen und ihren Coming-outs. Sie holte sich Tipps, wie man es am besten erzählt. Aber es gab nicht viele Fälle, die Hoffnung machten. „Ich dachte, jetzt kommt wahrscheinlich die Scheidung”, sagt sie. „Ich dachte, meine Chance ist ein Prozent, ich hatte keine große Hoffnung.”
Das erste Gespräch am Küchentisch war gar nicht so schlimm, Claudia glaubte Dorothea einfach nicht und blieb ganz ruhig. Dorothea ging zu einem Psychiater in München, und Claudia hoffte, dass der raten würde, einfach ein bisschen weniger zu arbeiten. „Und dann wird er wieder normal.” Aber Dorothea blieb dabei: Sie ist eine Frau, und sie will als Frau leben. Nein, sie muss als Frau leben.
Sie redete jeden Tag davon, wenn sie zu zweit waren. Sie redete von nichts anderem mehr. Irgendwann merkte Claudia: Da steckt mehr dahinter als Überarbeitung. Nach und nach sickerte die Erkenntnis durch Claudias Gefühlsnebel. „Warum tust du mir das an?”, rief sie. Dorothea antwortete: „Ich kann nicht anders.” Beide weinten viel in diesen Monaten. Bei einem der ersten großen Streits rief Claudia: „Wenn du dich umwandeln lässt, bringe ich mich um.”
Das war schlimmer, als Dorothea sich vorgestellt hatte. „Ich dachte, wenn ich was Falsches mache, hängt sie sich am nächsten Baum auf.” Claudia sagt heute, die Drohung sei ein unfertiger Satz gewesen, noch nicht vollständig durchdacht. Aber der Tod erschreckte sie in diesen Tagen wirklich weniger als das Leben. „Ich sah keine Perspektive mehr”, sagt sie. „Der Lebensentwurf, wie ich ihn hatte, war am Ende.”
Sie konnte gar nicht daran denken, dass sie mit Dorothea, die bald auch aussehen würde wie eine Frau, zusammen bleiben könnte. Sie war ja nicht lesbisch, sie liebte ihren Mann als Mann. „Es war ein Schock. Ich dachte, alles ist aus.” Sie weinte in den Gesprächen, sie weinte allein in ihrem Bett, sie weinte bei Spaziergängen im Wald, sie weinte, wenn sie betete.
Jetzt macht Claudia ihre Hausaufgaben
„Es ist ein kleineres Problem, wenn ein Mensch stirbt und dann nicht mehr da ist, dann hat man Zeitgenossen, die das gleiche Schicksal teilen, mit denen man sich austauschen kann”, sagt Claudia. Sie wusste, dass der Mensch, den sie liebte, nicht gestorben war, aber er war trotzdem nicht mehr da. Andreas verschwand, stattdessen war da nun eine transsexuelle Frau. Und wenn die Hormontherapie beginnen würde, würde Andreas immer weiter verschwinden.
„Die Liebe zwischen Mann und Frau ist anders als von Frau zu Frau, wenn man nicht lesbisch ist”, sagt Claudia. „Darüber hinwegzukommen, dass nichts mehr so ist wie früher, das muss man erst mal schaffen. Selbst wenn da etwas Neues ist, das spannend sein kann.”
Dorothea, die damals noch Andreas hieß, hatte ihre Recherche erledigt, bevor sie mit ihrer Frau sprach. Sie hatte mit anderen Transsexuellen Kontakt aufgenommen, viele Fachbeiträge gewälzt, Internetforen und Artikel gelesen. Jetzt war Claudia an der Reihe mit der Recherche. Sie las viel im Internet. Einmal fuhr sie nach München für ein Treffen von Angehörigen Transsexueller und lernte viel über eine Welt, die ihr vorher fremd war. „Hinterher habe ich gedacht, es wäre schön gewesen, ein Vokabelheft dabeizuhaben. Was es noch alles gibt: bisexuell, butch und so weiter. Ich war ziemlich gewürfelt.”
Es war schwer für sie, dass sie mit niemandem darüber reden durfte. Nicht mit ihrer besten Freundin, es musste ja ein Geheimnis bleiben, schließlich ist ein Pfarrer eine öffentliche Person. Nicht mit ihrem Sohn, er würde es nicht verstehen. Und nicht mit Andreas. „Mit ihm konnte ich ja nicht, weil er der Grund für alles war.”
Transsexualität ist keine Krankheit
Nach und nach fand Claudia heraus, was Dorothea schon wusste: dass Transsexualität keine Krankheit ist und nichts, das man heilen kann. Dass manche Menschen von Kindheit an transsexuell sind. Dass niemand etwas dafür kann und es sich nicht ändern lässt. Claudias Glaube half ihr in dieser Zeit. „Jeder ist von Gott geliebt, und das ist nicht nur ein Spruch”, sagt sie. „Ich könnte nie jemanden auf Grund seiner sexuellen Neigungen verurteilen.” Also auch nicht Andreas beziehungsweise Dorothea. Es half ihr, ihn zu verstehen – beziehungsweise sie.
Aber es half nur wenig mit dem Gefühl, angelogen worden zu sein. „Wir haben drei Grundfesten unsere Ehe: den Glauben, die Treue und die Wahrhaftigkeit”, sagt sie. „War vorher alles nur gefälscht?”, fragte sie. Dorothea antwortete immer wieder: „Ich habe dir nichts vorgemacht. Ich liebe dich wirklich. Was ich sage, das gilt.”
Schon wenige Wochen nach dem Geständnis am Küchentisch gab es den ersten kleinen Durchbruch. Die beiden waren zusammen einkaufen und Dorothea, damals noch kurzhaarig und gekleidet wie ein Mann, schaute verträumt auf einen Ständer voller Damenschals. Claudia bemerkte den Blick und fragte: „Magst du so einen Schal haben?” Dorothea antwortete: „Wenn du dich dann umbringst, das ist es mir nicht wert.” Claudia verstand das nicht. „Wieso umbringen?”, fragte sie. „Aber du hast das doch erst vor drei Wochen gesagt”, erinnerte sie Dorothea. „Das war etwas anderes”, antwortete Claudia.
Sie kauften den Schal. „Ich war so was von happy”, sagt Dorothea. „Für mich war die Zeit ein Wechselbad”, sagt Claudia. „Bis zu dem Ereignis mit dem Schal ist ja bei mir auch einiges gelaufen, was sie nicht so mitkriegte.” Dorothea wusste nicht, dass Claudia über Transsexualität las und langsam verstand, dass sie nicht Dorotheas Schuld war.
Nach und nach öffnete sich Claudia für das Neue. Ob sie die Scheidung verlangen würde, wusste sie noch nicht. Aber sie entschied sich schon recht schnell, Modeberaterin für Dorothea zu werden. „Ich liebe Herausforderungen”, sagt sie. Der Schal war nur der Anfang. Sie überlegte, welche Farben Dorothea stehen könnten. Sie kauften Damenschuhe Größe sechsundvierzig, die waren gar nicht so leicht zu finden. Claudia bewunderte, wie leicht es Dorothea fiel, auf den hochhackigen Schuhen zu laufen, sie konnte es besser als Claudia. „Diese Attribute typisch weiblich und typisch männlich verrutschen ziemlich”, sagt Claudia.
Das „Geschenk Gottes” gefiel beiden
Claudia suchte einen neuen Namen für Andreas. Dorothea hatte eigentlich einen anderen im Sinn, Jasmin, Petra oder Julia gefielen ihr. „Geht gar nicht”, sagte Claudia und schlug Dorothea vor. Eine große Person mit einer tiefen Stimme brauche einen längeren Namen. Dorothea ist 1,86 Meter groß. Und außerdem heißt der Name übersetzt „Geschenk Gottes”, das gefiel beiden. Früher hat Claudia Andi gesagt, jetzt sagt sie Doro – immerhin blieb es zweisilbig. Eine kurze Zeit lang probierte sie Andoro oder Dorandi, aber dann fiel der Wechsel zu Dorothea doch gar nicht so schwer.
Claudia erlebte, wie freudig Dorothea nach Hause kam, wenn sie auf der Straße oder an der Tankstelle als Frau erkannt wurde. „So von innen heraus begeistert war er nur in der ersten Zeit unserer Ehe”, sagt Claudia. „Ich habe gemerkt, dass es den Menschen glücklich macht, den ich so lieb habe.” Sie merkte, dass sie die Person, die sie vor fünfundzwanzig Jahren geheiratet hatte, noch immer liebte – und dass sie mehr miteinander verband, als Mann und Frau zu sein: Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, ihr Glaube. Statt darum zu bitten, ihr altes Leben zurückzubekommen, begann sie zu beten: „Herr, mach aus Andreas den Menschen, den du haben möchtest.”
Nach und nach begann sie zu denken, dass Dorothea der Mensch war, den Gott aus Andreas machen wollte. Im Juli, fast ein Jahr nach dem Geständnis, traf Claudia ihre Entscheidung. „Ganz egal, was passiert, ich bleibe bei dir”, verkündete sie. Dorothea weinte, Claudia nahm sie in den Arm. Von nun an wollten sie zusammen gehen auf dem schwierigen Weg, der vor ihnen lag. „Gott freut sich, dass ich mich entschieden habe, bei meinem …”, sagt Claudia und stockt, „… bei Dorothea zu bleiben.”
Für Dorothea waren die Monate zuvor gleich doppelt schwer. Sie wollte die Scheidung nicht, sie wollte bei ihrer Frau bleiben und machte sich Sorgen um sie. Und sie begann gleichzeitig mit der Geschlechtsangleichung. Sie musste dem Psychiater beweisen, dass sie wirklich transsexuell und deshalb die Angleichung medizinisch notwendig ist. Dafür musste sie zunächst einmal anfangen, auch äußerlich als Frau zu leben und darum Frauenkleidung zu tragen. In Deutschland müssen zwei Gutachter bestätigen, dass Menschen transsexuell sind, bevor sie mit der Hormontherapie beginnen und ihren Namen und Personenstand ändern dürfen. Ständig hatte Dorothea Angst, noch zu männlich zu wirken.
Sie ließ sich die Haare wachsen und die Barthaare epilieren. Manchmal hatte sie ein zweites Outfit und einen Lippenstift in der Tasche, denn in der Kirchengemeinde und der Kirchenverwaltung durfte ja noch niemand von ihren Plänen wissen. Sie nahm Unterricht bei einem Logopäden und lernte, wie Frauen sprechen: leiser und mit weicherer Stimme, nicht so sehr in der Kehle, sondern weiter vorn im Mund. Sie machte Übungen, sagte immer wieder „Gack gack gack”. „Stell dir vor, du erklärst einem kleinen Kind etwas”, riet Claudia.
Die Gemeinde will nicht, dass sie gehen
Im Herbst begann Dorothea dann mit der Hormontherapie, die Psychiater hatten ihre Transsexualität eindeutig diagnostiziert. Claudia bereitete sich derweil auf ihr neues Leben als Ehefrau einer transsexuellen Frau vor. „Für die Optik von anderen Leuten bin ich ja lesbisch”, sagt sie. Sie musste sich erst einmal informieren: Was heißt das denn, lesbisch zu sein? Was genau würde der Unterschied sein zu zwei Frauen, die einfach nur Freundinnen sind? Würde sie Dorothea in der Öffentlichkeit umarmen und Händchen halten wie früher? Küssen?
Bald würde der Zeitpunkt kommen, an dem Dorotheas Veränderungen so sichtbar werden würden, dass sie niemand mehr übersehen konnte. Sie wollte sich nicht mehr verstecken und erzählte dem Dekan und dem Personalchef der bayerischen Landeskirche von ihrer Transsexualität – noch vor der Hormontherapie. Sie brauche sich keine Sorgen zu machen, man würde schon eine Lösung finden, sagte der Personalchef.
Sie würde die Gemeinde gern wechseln und woanders von vorn anfangen, sagte Dorothea, aber sie wollte gerne Pfarrerin bleiben. Die Kirche erklärte sich bereit, das möglich zu machen. „Ich war so etwas von glücklich, meine Frau bleibt bei mir, und ich kann meinen Beruf behalten”, sagt Dorothea. Sie erzählte auch ihren früher so konservativen Eltern von ihrer Transsexualität. Danach schrieben sie ihr per SMS: Wir stehen voll hinter dir.
Eine große Hürde war das Coming-out in ihrer niederbayerischen Gemeinde. Nach dem Gottesdienst zog Dorothea den Talar aus und verkündete, dass sie etwas Privates zu sagen habe. Claudia saß in der ersten Reihe. Dorothea hatte Tränen in den Augen, als sie sie ansah.
Dann erklärte sie es den Kirchgängern, wie sie es vor vielen Monaten schon Claudia erklärt hatte. Sie erzählte von dem Puzzle, das sie jetzt vollständig sehen kann. Am Ende sagte sie: „Wir haben beschlossen zu gehen.” Nach kurzem Schweigen sagte eine Frau ganz laut: „Ich bin dafür, dass sie bleiben. Wer ist dafür, dass der Pfarrer Zwölfer bleibt? Hände hoch!” Und alle Hände gingen nach oben. „Es war ein ergreifender Moment”, sagt Claudia.
Dorothea erlebt eine neue Euphorie
Sie entschieden sich dann aber doch für den Wechsel und zogen einige Zeit später um in eine neue Gemeinde im Norden Bayerns. Dorothea war der erste transsexuelle Mensch im Pfarramt in Bayern, der dritte deutschlandweit. In ihrer neuen Gemeinde waren die Menschen neugierig und offen.
Als sie Anfang des neuen Jahres ankam, wurde sie mit Glockengeläut begrüßt. Als sie kurz darauf in der Kirche offiziell ins Amt eingeführt wurde, läuteten die Glocken wieder. „Die ganze Gemeinde war auf den Beinen, um die neue Pfarrerin willkommen zu heißen”, schrieb die Lokalzeitung. Der Dekan zitierte bei der Feier den Apostel Paulus: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat!”
In den ersten Wochen der Hormontherapie, sie lebten noch in der alten Gemeinde, war Dorothea oft krank. Die Hormone waren ein Schock für ihren Körper, und die Veränderungen kamen schnell. „Es war ein Schock, aber auch eine Befreiung”, sagt Dorothea. „Ich hätte nicht gedacht, dass Hormone so viel ausmachen.” In den ersten Monaten der Umstellung war sie manchmal zickig wie ein Teenager. „In der Szene nennt man das die zweite Pubertät”, erzählt sie. „Aber es ging mir so was von gut. Ich war so euphorisch, so etwas habe ich noch nie erlebt.” Sie macht eine Pause und lächelt Claudia an. „Außer vielleicht am Anfang unserer Ehe.”
Ihre Gesichtszüge wurden schmaler und weicher, sagt Dorothea, ihre Haut zarter, die Lippen voller. Außerdem weinte sie mehr, alle Gefühle wirkten nachdrücklicher. Auch Berührungen fühlten sich viel intensiver an. Gestreichelt werden war natürlich schon immer schön, aber nun war es noch viel schöner. Sie konnte sogar besser riechen.
„Ich kann mich jetzt an Dingen freuen, die ich vorher gar nicht bemerkt habe: Blumen oder Farben zum Beispiel”, sagt Dorothea. „Ich genieße das in einer Art und Weise … Ich hätte mir vorher gar nicht vorstellen können, wie schön das ist.” Wenn sie ihren eigenen Körper sah, fühlte sie sich zum ersten Mal wie sie selbst. „Es war, wie wenn man immer mit angezogener Handbremse fährt und plötzlich nimmt einer die Handbremse raus.” Dorothea war glücklich. Und Claudia war glücklich, sie so glücklich zu sehen.
Claudia vermisst ihren Mann sehr
Im Herbst nach dem großen Coming-out fuhren Claudia und Dorothea zusammen in ein Bekleidungsgeschäft, Dorothea brauchte einen Mantel. Solche Situationen in der Öffentlichkeit waren noch schwierig für Claudia, Dorothea sah zwar fast aus wie eine Frau, aber noch nicht komplett. Sie fanden einen Mantel, der beiden gefiel. Aber als sie dazu noch einen Schal oder Hut aussuchen wollten, kam eine ältere Verkäuferin zu ihnen und bemerkte spitz: „Das hier ist eigentlich die Damenabteilung.” Claudia konterte: „Genau das wollen wir auch.” Claudia rauchte vor Wut auf die Verkäuferin. Und merkte an ihrer Wut, wie sehr sie Dorothea beschützen wollte.
Auf der U-Bahn-Fahrt nach Hause saßen sie einander gegenüber, Dorothea spiegelte sich in den Fenstern, als die Bahn durch das Dunkel fuhr. Claudia sah gleichzeitig den Bartschatten und den roten Lippenstift in Dorotheas Gesicht, und ihr kamen die Tränen. Das, was sie sich so sehr wünscht, nicht zu haben, ist das, was ich an ihm liebe, dachte sie. Einerseits möchte ich, dass sie sich wohlfühlt als Frau. Aber andererseits liebe ich meinen Mann so sehr.
Claudia erzählte auch ihrer besten Freundin von Andreas’ Transsexualität: „Du hast zwar deinen Mann verloren, aber eine allerbeste Freundin hinzugewonnen, die du besser kennst als jeden anderen Menschen”, sagte ihre Freundin. Claudia mochte diesen Ausdruck: allerbeste Freundin. „Das war für mich ein Arbeitstitel, eine Art Übergangstitel”, sagt sie. In der Adventszeit fand sie eine hübsche Glaskugel mit einer kleinen roten Zipfelmütze. Auf der Kugel stand: „Für die allerbeste Freundin.” Sie schenkte Dorothea die Kugel. Aber letztlich wusste – und wollte – sie, dass Dorothea mehr ist als nur eine Freundin: ihre große Liebe.
Nach und nach trauten sich Dorothea und Claudia mehr miteinander. Für Küsschen oder Händchenhalten in der Öffentlichkeit war Claudia zwar noch nicht bereit. Zu Hause, beim Spaziergang im Wald, im Garten oder im Auto ging es aber schon. Und dann stellte sich noch die Frage: Wie sollte Claudia Dorothea nennen, wenn sie mit anderen Menschen über sie sprach: eine Freundin, meine Freundin, meine Frau? Einmal sagte sie aus Verlegenheit „ein Familienmitglied” und schämte sich hinterher für den hölzernen Begriff.
Claudia und Dorothea haben lange gemeinsam überlegt, ob die Hormone genügten oder ob Dorothea sich auch operativ an ihr Innerstes angleichen sollte. Die Risiken, dass etwas schiefgeht, waren nicht klein, es gab Schreckensgeschichten über Operationsfehler im Internet, und Dorothea lernte einige Transsexuelle kennen, die viele Nachoperationen brauchten. Und es ging Dorothea ja schon deutlich besser durch die Hormontherapie. Aber dann fanden sie in München einen Spezialisten und entschieden sich für die Geschlechtsangleichung.
Dorothea lässt sich operieren
Am Tag nach ihrem einundfünfzigsten Geburtstag ließ Dorothea sich operieren. Die OP gelang ohne Komplikationen, alles heilte gut, jetzt verrät sie kein Teil ihres Körpers mehr. Manchmal, wenn sie in den Spiegel schaut, denkt sie zwar noch immer: Mensch, du schaust ja immer noch männlich aus. Das Gesicht, meine Güte. Und die Stimme. Und die Frisur, reicht das jetzt?, erzählt sie. „Ich wäre gern noch kompletter fertig.” Sie ist groß und breitschultrig für eine Frau, aber wer keine Ahnung von ihrer Transsexualität hat, merkt vermutlich nichts.
Sie musste vieles lernen nach der Operation: zum Beispiel, wie Frauen im Wald auf Toilette gehen. Claudia erklärte es ihr. Und sie hat eine Chance, die sonst kaum ein Mensch bekommt: Sie kann die Welt als Frau und als Mann erleben und erfahren, wie die Welt auf sie als Frau und als Mann reagiert. „Ich bin nicht mehr so getrieben innerlich”, sagt sie und denkt, dass das am fehlenden Testosteron liegt. Wenn Andreas früher eine hübsche Frau sah, war es schwierig, sich noch auf die Arbeit zu konzentrieren. Einmal vergaß er in der S-Bahn seine Jacke, weil er so durcheinander war, weil er eine besonders schöne Frau gesehen hatte. So etwas würde Dorothea nicht mehr passieren.
Andererseits wird Dorothea in Dienstsitzungen nun häufiger unterbrochen. „Ich muss ständig aufpassen, dass ich zu Wort komme”, sagt sie. „Es waren immer alle still und hörten zu, wenn ich als Mann etwas gesagt habe.” Andererseits wiederum helfen ihr jetzt die Müllmänner bei der Selbstabladestelle mit den Müllsäcken, früher musste sie sie selbst schleppen. Ab und zu hält ihr jemand die Autotür auf. Bei Facebook flirten sie manchmal fremde Männer an. Und einmal hat sogar ein Lkw gebremst, nur um sie über die Straße zu lassen.
„Das sind Momente, die ich schon genieße”, sagt Dorothea. „Mir passiert so etwas nie”, sagt Claudia und grinst. Es ist ein Thema, das sie heute viel beschäftigt und früher nie: Was bedeutet es, ein Mann zu sein? Was macht es aus, eine Frau zu sein?
Für viele sind sie jetzt ein lesbisches Paar
Es gab ein paar Enttäuschungen für Dorothea und Claudia: Sie haben ein paar Freunde verloren, die mit Dorotheas Transsexualität nicht zurechtkamen. In manchen Gemeinden war Dorothea als Pfarrerin nicht willkommen. Sie bekam ein paar böse E-Mails. Und bei einer Beerdigung wurde sie abgelehnt mit der Begründung: „Wir wollen keine von St. Pauli” – obwohl Dorothea sich immer sehr dezent kleidet. Aber bereut hat sie die Angleichung nie.
Mittlerweile haben sich auch die Hemmungen gelegt, inzwischen halten die beiden in der Öffentlichkeit Händchen. Gerade hier in ihrem fränkischen Heimatörtchen ist das kein Problem, schließlich weiß ohnehin jeder Bescheid. „Ich mache mir nichts mehr daraus”, sagt Claudia. „Auch von meiner Seite aus war es am Anfang komisch, aber irgendwann einfach wurscht”, sagt Dorothea. Auch sie hatte darüber nachgedacht, wie es ist, nach außen lesbisch zu sein. „Meine Unbefangenheit war weg, aber jetzt habe ich sie wieder.” Sie erwähnt sogar in Predigten manchmal „ihre Frau”.
Claudia ist heute sechsundfünfzig Jahre alt, Dorothea ist zweiundfünfzig. „Ich bin zwar dreißig Jahre insgesamt verheiratet, aber eigentlich bin ich 25 + 1 + 4 Jahre verheiratet”, sagt Claudia. „Fünfundzwanzig Jahre mit Andreas, dann ein Jahr Bedenkzeit und vier Jahre mit Dorothea.” Die Grundfesten ihrer Beziehung haben sich aber nie geändert, ihr Eheversprechen gelte noch immer, sagt Dorothea: „Wir wollen einander treu sein in guten wie in schlechten Tagen. Wir wollen einander gegenüber ehrlich und wahrhaftig sein, auch wenn es schwer ist und schmerzt.”
Wenn Claudia in Beziehungsratgebern liest, dass man auch in langen Beziehungen immer wieder etwas ändern und neue Seiten an dem Partner entdecken sollte, muss sie lachen, sagt sie. „Das haben wir wieder voll im Griff.”
Kathrin Werner, geboren 1983, ist Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung in New York. Sie hat in Hamburg Jura studiert, sich dann aber entschlossen, Journalistin zu werden. Für die Zeitung schreibt sie über die Welt der Wirtschaft, vor allem über die Menschen hinter den Zahlen. Privat geht sie dem schönsten Gefühl der Welt auf den Grund: „Ich habe 20 wahre Liebesgeschichten gesammelt, die so groß und überraschend sind, dass man denkt, so etwas könnte im wahren Leben doch gar nicht passieren.” Ihr Buch ist Ende September 2017 im S. Fischer Verlag erschienen.
Illustration: Peter Gericke für Krautreporter.