Zwei Autisten finden die Formel der Liebe

© Peter Gericke

Leben und Lieben

Zwei Autisten finden die Formel der Liebe

Es gibt sie wirklich, die ganz großen Liebesgeschichten dieser Welt. Ich habe sie auf meinen Reisen gesammelt. Heute erzähle ich euch die Geschichte von Lindsey und Dave: Gefühle zu verstehen, fällt ihnen schwer. Aber ihre Ehe bekommen sie trotzdem hin – mit ein paar kleinen Tricks.

Profilbild von Liebesgeschichten, gesammelt von Kathrin Werner

Ein gemeinsames Dinner ist keine leichte Angelegenheit für Lindsey und Dave. Wenn die beiden zusammen in ein Restaurant gehen, müssen sie manchmal an getrennten Tischen sitzen, der eine am einen Ende, der andere am anderen Ende des Raums. Das sind die schlechten Tage, an denen Dave es nicht aushält, Lindsey kauen zu hören. Dave hasst Kaugeräusche.

Meistens suchen sie ein Restaurant aus, das laut genug ist, damit Musik und Gespräche an den Nachbartischen alle Kaugeräusche übertönen. Aber nicht zu laut und zu voll, um Lindsey zu stören, die Ruhe braucht. Sie müssen eine Gaststätte finden, in der es das richtige Essen gibt. Lindsey mag gern exotische Gewürze und gesundes Essen, möglichst kalorienarm und ohne Kohlenhydrate. Dave liebt Fast Food und isst nicht gerne Dinge, die er nicht kennt. Manche Gerüche kann er nicht ertragen.

Wenn die Lautstärke und die Speisekarte stimmen, müssen sie sich um die Temperatur kümmern und einen Tisch suchen, der nicht zu weit entfernt von der Klimaanlage steht, damit Dave nicht zu warm ist – und nicht zu nah, damit Lindsey nicht friert. Ein gemeinsames Dinner geht sowieso nur an den Tagen, an denen es Lindsey nicht zu viel ist, abends noch unter Menschen zu gehen, und Dave geprüft hat, ob es angesichts
der Wetterprognose und der Verkehrsbedingungen eine gute Idee ist, noch das Haus zu verlassen. „Wir haben beide spezielle Herausforderungen, besondere Interessen und Bedürfnisse”, sagt Lindsey. „Wir sind sehr verständnisvoll, weil wir ja wissen, was die Gründe dafür sind.” Dave nickt heftig. „Ja, das hilft uns”, sagt er. „Wir sind verständnisvoll und verurteilen einander nicht.”

Liebe lässt sich nicht planen

Lindsey und Dave sind Autisten. Sie beide haben eine milde Form der neurologischen Entwicklungsstörung, sie können anders als manch andere Autisten selbständig leben, arbeiten, Auto fahren und sich gut ausdrücken. Sie stottern manchmal oder brauchen etwas länger für eine Antwort auf eine Frage, aber der Kellner im Restaurant oder Fremde am Nachbartisch merken wahrscheinlich nichts von ihrem Autismus. Aber die Liebe?

Menschen mit autistischen Störungen können mit ihren Mitmenschen nur schwer soziale Kontakte knüpfen. Alles ist schwer für sie: neue Leute kennenlernen, flirten und Flirtversuche erkennen, verstehen, was andere Menschen denken und fühlen, eigene Gedanken und Gefühle äußern, einem anderen zuliebe eigene Bedürfnisse zurückstellen, Kompromisse eingehen. Eigentlich klingt die Definition der Entwicklungsstörung so, als stünde sie der Liebe entgegen. Die Liebe ist ein abstraktes Konzept, das man schwer mit Argumenten und Analyse, Wissenschaft und Formeln durchdringen kann – so etwas ist für Autisten oft schwer zu verstehen. Sie ist nicht logisch und sie lässt sich nicht planen – so etwas mögen Autisten eigentlich nicht.

Aber Lindsey und Dave sind seit 2005 ein Paar, sie haben ein Haus gekauft nahe der amerikanischen Hauptstadt Washington, 2015 haben sie geheiratet. „Wir haben ein Recht auf Liebe”, sagt Lindsey. „Ich habe mich schon immer nach einer Partnerin gesehnt”, sagt Dave. Autismus, der andere Menschen voneinander trennt, hat Lindsey und Dave zusammengebracht.

Dave flippt aus, wenn man Kaugummi kaut

Er war noch ein Kleinkind, als seine Eltern die Diagnose bekamen: Dave ist Autist. Er drehte sich manchmal wie ein Derwisch im Kreis und war kaum zu bremsen, schwindelig wurde ihm nie. Er sprach kein Wort bis zu seinem vierten Geburtstag, danach plapperte er immer und immer wieder nach, was andere sagten. Er entwickelte sonderbare Hobbys, zum Beispiel wollte er bei jedem Lastwagen auf den Highways die Seriennummer notieren und wurde sehr wütend, wenn seine Eltern nicht nah genug heranfuhren, um sie zu erkennen.

Schon sehr früh wollte er alles über das Wetter wissen, maß Temperaturen und Luftdruck, liebte den Wetterbericht. Er hasste es, wenn seine Eltern ihn davon abhielten, Haare und Schulterblätter anderer Leute anzufassen. Er liebte Haare, vor allem lange Haare, und Schulterblätter. Laute Geräusche wie die Klingel in der Schule konnte er kaum ertragen. Wenn jemand Kaugummi kaute, flippte er aus.

Seine Eltern schickten ihn zu den besten Therapeuten und Sprachtrainern. Je älter er wurde, desto besser lernte er, seine Bedürfnisse zu kontrollieren. Die Zuckungen im Gesicht, eine Auswirkung seines leichten Tourette-Syndroms, wurde er nie los, aber er besuchte eine normale Schule, studierte später Meteorologie und machte einen Abschluss mit Auszeichnung.

p + l + 2t = Liebe lautet Daves Gleichung

Dave versuchte, sich die Welt mit Wissenschaft zu erklären – auch die Liebe. Er las Sachbücher über Kommunikation, er fragte seine Familie und Bekannte, wie man sich bei einem Date verhält, in der Highschool druckte er sogar einmal einen Fragebogen aus und verteilte ihn an seine Mitschüler, in dem er um Tipps bat, wie er beliebter werden könnte. Er sammelte Informationen in Hollywoodfilmen und Dating-Ratgebern. Was gilt als romantisch und was als aufdringlich? Welches Gesicht macht man, wenn man zeigen will, dass man aufmerksam zuhört? Ein paar Jahre lang hatte er eine Freundin, die nicht Autistin war.

Während des Studiums fing er an, für andere Autisten Vorträge zu halten, in denen er ihnen beibrachte, was er selbst so mühsam herausgefunden hatte: Wenn eine Frau dich anlächelt, heißt das nicht zwangsläufig, dass sie deine Freundin werden will. Vielleicht ist sie einfach nur nett. Wenn sie ihre Füße in deine Richtung aufstellt, mit ihrem Haar spielt, den Kopf schief legt und die Augen niederschlägt, sind das gute Zeichen. „Solche Zeichen kann man auswendig lernen”, sagt er.

Er hat eine lange Liste mit Körpersprache-Erklärungen und Verhaltenstipps. Und für seine eigene Suche nach der Liebe hat er eine Gleichung entwickelt: p + l + 2t = Liebe. Der Buchstabe p steht für Persönlichkeit, l für looks, also für das Aussehen, und t für treatment, also die Art und Weise, wie eine Frau ihn behandelt. Das sind die drei Faktoren, die er sich für eine Partnerin wünscht: Sie soll einen guten Charakter haben, hübsch sein, und vor allem soll sie nett zu ihm sein, darum zählt t doppelt in seiner Formel für die Liebe. Als er Lindsey traf, hat er sofort gesehen: l stimmt. Von Treffen zu Treffen merkte er mehr: Auch p gefällt ihm sehr. Aber was ist mit t bei einer Frau, die Autistin ist wie er selbst?

Als Kind versank Lindsey in die Musik

Lindseys Eltern haben herausgefunden, dass ihre Tochter sich nicht normal entwickelt, als sie noch nicht einmal zwei Jahre alt war. Sie fing nicht an zu sprechen, sie reagierte kaum, wenn jemand ihren Namen sagte, sie war wie eingesperrt in ihrer eigenen Welt. Manchmal starrte sie stundenlang die Fasern des Teppichbodens an. Sie bekam gute Therapien, mit vier Jahren lernte sie sprechen, wurde zwar ein Jahr später eingeschult als andere Kinder, konnte aber die siebte Klasse überspringen und eine normale Schule besuchen.

Lindsey lernte Klavier spielen, konnte stundenlang üben, in der Musik versinken, improvisieren, komponieren, manchmal gab sie Konzerte. Aber ihre Kindheit war schwierig, die anderen Kinder hänselten das Mädchen, das irgendwie anders war als sie, aber unbedingt dazugehören wollte. „Ich hatte sehr wenige Freunde”, erzählt sie. „Und je älter ich wurde, desto schlimmer wurde es. Die Kinder wurden immer gemeiner. Ich wusste immer, dass ich anders bin.” Es hat ihr Selbstvertrauen erschüttert – und ihr Vertrauen in andere Menschen.

Für Jungen hat sie sich genauso interessiert wie die anderen Teenager, in der fünften Klasse war sie zum ersten Mal verknallt. Sie hat sich wie die anderen jungen Mädchen gewünscht herauszufinden, wie sich küssen anfühlt, sie wünschte sich einen Freund und ging in der Highschool sogar hin und wieder mit einem Jungen auf ein Date. Später studierte sie Musiktechnik an einer kleinen Universität in Texas.

Unter den Musikern und Künstlern ging es ihr besser, sie fand ein paar Freunde und wuchs heran zu einer schönen Frau mit langem, dunklen Haar und großen, braunen Augen, einer Frau, die die Blicke der Männer anzog. „Aber irgendetwas habe ich immer falsch gemacht. Irgendetwas Falsches gesagt oder falsch reagiert oder an der falschen Stelle gelacht”, sagt sie. „Soll ich ihn zuerst küssen? Wann ziehe ich ihm das T-Shirt aus? Das sind alles fortgeschrittene Fähigkeiten, die ich so nicht beherrsche.”

Es war furchtbar anstrengend für sie, sich immer zu verstellen. Und kein Mann schien sich je richtig für sie zu interessieren. Manchmal meldeten sie sich nach dem ersten Treffen nicht mehr bei ihr, manchmal machten sie nach ein paar Wochen Schluss. „Eigentlich hatte ich vor Dave nie
eine richtige Beziehung”, sagt Lindsey.

Als sie Anfang zwanzig war, gab sie auf, nach der Liebe zu suchen. „Ich hatte ein paar sehr schwere Erlebnisse”, sagt sie. „Ich hatte kein Interesse mehr an einer Beziehung, ich wollte mich auf meine Karriere, meine Freunde und meine Familie konzentrieren.” Doch dann kam Dave.

Plötzlich neugierig auf anderen Autisten

Lindsey war gerade von Texas nach Nashville in Tennessee gezogen, die Hauptstadt der Musik, und war auf der Suche nach Arbeit. Mit ihrem Traumjob bei einem Plattenlabel klappte es nicht, sie schlief morgens lange in den Tag hinein und blieb nachts lange wach. Sie jobbte bei einer Kaffeekette, kannte kaum jemanden in der neuen Stadt. „Es war eine schwere, einsame Erfahrung.”

Als sie hörte, dass die Selbsthilfegruppe Autism Society of America im Juli eine große Konferenz in Nashville plante, meldete sie sich an. Es war das erste Mal, dass sie sich mit anderen Autisten treffen würde, sie hatte weder ihren Mitschülern, noch ihren Kommilitonen, noch ihren Freunden je erzählt, dass sie Autistin ist, und wollte mit der Selbsthilfe-Gemeinschaft wenig zu tun haben. Aber vielleicht ist es an der Zeit, das zu ändern, dachte sie, sie war neugierig, wie sich andere Autisten als Erwachsene in der Welt zurechtfinden.

Einer der Redner auf der Konferenz war Dave. Er hielt seinen Vortrag über Autismus und Liebe, samt seiner Checkliste, was man bei Dates sagen darf und tun darf und was auf gar keinen Fall. Lindsey fand das sehr interessant. Sie begegnete ihm in einer Pause auf der Konferenz, als sie zufällig mit einem seiner Bekannten zusammenstand, er kam dazu und stellte sich vor. Dave fand sie gleich sehr hübsch. „Und ich glaube, sie fand mich auch von Anfang an attraktiv”, sagt er.

„Weil er einen Anzug anhatte”, sagt Lindsey und lacht. Sie unterhielten sich, wanderten zusammen durch die Ausstellung, er stellte ihr seine Freunde vor, nach der Konferenz brachte sie ihn zum Flughafen. Er umarmte sie zum Abschied. „Lass uns Freunde bleiben”, sagte er. Sie tauschten Telefonnummern und E-Mail-Adressen aus.

Lindsey konnte ihr Gefühl nicht einordnen

Nach der Konferenz telefonierten die beiden oft miteinander, schrieben sich E-Mails und Briefe. An eine Postkarte kann sich Lindsey noch besonders gut erinnern. Dave schrieb, wie froh er sei, dass er sie kennengelernt habe, und wie lieb ihm ihre Freundschaft sei. Sie hat die Postkarte aufgehoben. Lindsey hatte ein Gefühl für ihn, das sie nicht einordnen konnte. Irgendetwas Besonderes hat er an sich, dachte sie. Sie erzählte ihrem Vater von Dave, wie er aussah und was sie alles mit ihm besprochen hatte.

Sie hatte immer ein gutes Verhältnis zu ihrem Vater gehabt und konnte ihm alles erzählen. „Ich habe den Eindruck, Dave will mehr von dir als nur Freundschaft”, sagte ihr Vater. Auf die Idee war sie noch nicht gekommen. „Ich habe in meinem Leben oft nicht gemerkt, wenn jemand etwas von mir wollte, und es erst verstanden, wenn Freunde es mir direkt gesagt haben”, erzählt sie.

Eigentlich hatte sie sich ja vorgenommen, mit der Liebe nichts mehr zu tun zu haben. „Man hat eine Geisteshaltung, aber wenn man jemanden trifft, können sich die Dinge ändern”, sagt Lindsey. „Ich habe erst gedacht, wir würden nur Freunde, aber da war von Anfang an eine Tür offen. Aus irgendeinem Grund hatte ich Interesse an ihm, ich wollte sehen, was sich entwickelt.”

Ein paar Monate später trafen die beiden sich wieder, auf einer anderen Konferenz über Autismus. Beide waren ein bisschen nervös bei dem Gedanken, wie es wäre, sich wiederzusehen. „Ich hatte mir schon vor der Konferenz vorgenommen, etwas zu unternehmen, damit unsere Beziehung einen nächsten Schritt macht”, erzählt Dave, der einen Plan geschmiedet hatte. Wie das so seine Art ist.

Dave vermisst die eindeutigen Signale

Eigentlich wollte er versuchen, seinen Arm um Lindsey zu legen, als sie zusammen einen Ausflug in eine Berghütte machten. „Das wäre romantischer gewesen”, sagt er. Lindsey zuckt mit den Schultern, wenn Dave heute davon erzählt. „Was soll’s”, sagt sie. „Jetzt sind wir doch verheiratet.” Lindsey hatte in den Bergen noch nicht die richtigen Signale abgegeben, vielleicht nicht mit ihrem Haar gespielt, den Kopf nicht schief gelegt und die Augen nicht genug niedergeschlagen, darum traute Dave sich nicht.

Aber als die beiden am letzten Abend der Konferenz in einem Café in einem Buchladen saßen, legte er seine Hand auf ihre, die auf dem Tisch lag. „Wenn sie kein Interesse gehabt hätte, hätte sie ihre Hand weggezogen. Und zum Beispiel gesagt: Was tust du da?”, erklärt er. „Aber das hat sie nicht getan.”

„Möchtest du meine Freundin sein?”, fragte Dave. Und Lindsey sagte ja. „Ich bin durcheinander, aber ich glaube, dass es funktionieren kann.” Als sie aus dem Buchladen gingen, legte er seinen Arm um sie. Auf dem Weg zurück zur Konferenz hielt er an einem Laden an und ließ sie kurz im Auto warten. Sie wunderte sich, aber er kam bald zurück mit einem Blumenstrauß für sie.

„Ich war noch nie mit einem Mann zusammen, der mir Blumen geschenkt hat”, sagt sie. „Er ist definitiv romantischer als alle anderen Männer, die ich kenne. Daran musste ich mich erst gewöhnen. Und jetzt bin ich verwöhnt.” Lindsey war damals dreiundzwanzig Jahre alt, Dave war fünfundzwanzig.

Zehn Autostunden voneinander entfernt

Dave lebte in einer Kleinstadt in Virginia, eine zehnstündige Autofahrt entfernt von Lindseys Wohnung in Nashville. Was ein Albtraum für viele frisch Verliebte gewesen wäre, tat ihr gut damals, sagt sie. „So konnten wir die Dinge langsamer angehen, es war nicht so bedrohlich.” Sie besuchte ihn in Virginia, dann zog er nach Mississippi für seinen Job beim
Nationalen Wetterdienst, und sie besuchte ihn dort. Er kam zu ihr nach Nashville, manchmal trafen sie sich in der Mitte. Sie lernten sich langsam kennen, erfuhren, wie der andere lebt, was ihm wichtig ist, was er nicht ertragen kann.

Lindsey lernte, dass Dave einen besonders guten Geruchssinn hat, dass er Parfum liebt und manche Gerüche hasst, dass er Kaugeräusche nicht aushalten kann, dass er es immer schön kühl haben muss und vor dem Zubettgehen immer seine Füße gründlich waschen muss. Dave lernte, dass Lindsey es lieber warm mag, dass sie gern über Gefühle spricht, dass sie Musik liebt, viele Sachen nicht isst, dass sie Ruhe braucht und oft verletzt wurde. „Wir sind so fixiert auf unsere Besonderheiten und speziellen Routinen, dass es manchmal schwer ist, miteinander zu kommunizieren”, sagt Lindsey. „Wir müssen immer sehr viel daran arbeiten.”

Je besser sie sich kennenlernten, desto mehr merkte Dave: Auch t stimmte in seiner Gleichung für die Liebe. Lindsey behandelte ihn gut. „Sie gibt mir das Gefühl, dass ich wichtig für sie bin.” Sie war warmherzig und verständnisvoll. Sie verurteilte ihn nie für seine Besonderheiten, sie respektierte ihn. „Mir geht das genauso, vor allem mit t, es ist das Wichtigste für mich, dass ich gut behandelt werde”, sagt Lindsey. Früher
hatte sie sich immer für ausgefallenere Typen interessiert, für Künstler, nicht für Wissenschaftler wie Dave, dessen Haar ordentlich gescheitelt ist und der am liebsten Polohemden trägt. „Aber ich mag es so sehr, wie er mich behandelt. Und wie er andere Leute behandelt, seine Familie zum Beispiel. Er ist sehr sensibel, das finde ich attraktiv.”

Berührungen sind ihnen wichtig

Dave ist kein Macho, auch das gefällt Lindsey. Dave liebt den Duft von Blumen. Lavendel ist eine seiner Lieblingsblumen. „Du bist einfach ein lieber Mensch”, sagt sie zu ihm. Und wie aus der Pistole geschossen antwortet Dave: „Und du bist ein wunderbarer Mensch.” Beide lachen. „Ich bin froh, dass du das immer noch denkst”, sagt sie und nimmt seine Hand. Die beiden berühren einander viel, Berührungen und Zärtlichkeit sind ihnen wichtig – anders als manch andere Autisten, die Körperkontakt schwer ertragen können.

Lindsey hat über ihre Jahre mit Therapeuten gelernt, ihre eigenen Gefühle zu lesen und besser auszudrücken. Aber auf eine Frage hatte sie nie eine Antwort: Was es bedeutet, sich zu verlieben, und ob sie das überhaupt kann. Wie funktioniert verlieben? „Mit Dave weiß ich, dass ich Schmetterlinge hatte, dass dann meine Zuneigung zu ihm gewachsen ist, dass ich mehr Vertrauen zu ihm entwickelt habe und eine Bewunderung und Liebe”, sagt sie. „Ich hatte auch Schmetterlinge im Bauch”, sagt er. „Man könnte es Limerenz nennen.” Lindsey zieht die Augenbrauen hoch. „Wie bitte? Das Wort habe ich ja noch nie gehört.”

Limerenz, erklärt Dave, ist ein Begriff aus der Verhaltenspsychologie und Neurobiologie, der Verliebtheit beschreibt. Es ist typisch für ihn, dass er solche Worte kennt. Nach der Limerenz kam die unbewusste Phase, sagt er. „Ich vergleiche Beziehungen immer mit elektromagnetischen Wellen. Wenn man ins Licht schaut und die Sonnenstrahlen sieht, dann ist das, wie wenn man in jemanden verliebt ist und ständig an ihn denken muss. Man sieht das Licht tatsächlich. Und dann entwickelt sich daraus eine ernsthaftere Beziehung mit tieferer Liebe, das kann man mit ultraviolettem Licht vergleichen. Man sieht es nicht, aber es hat einen viel stärkeren Einfluss auf unser Leben, es hat mehr Energie. Du denkst vielleicht nicht mehr jeden Moment an die andere Person, aber unterbewusst ist sie immer da. Die Liebe wandelt sich von sichtbarem zu
unsichtbarem Licht.”

Die gemeinsame Wohnung ist ein Risiko

Dave liebte Lindseys Wohnung in Nashville. Sie war ganz anders als seine eigene Wohnung, aber er war gern bei ihr zu Gast. Sie hatte überall Duftkerzen, er erinnert sich noch genau. Er merkt sich Dinge, Gespräche und Erlebnisse oft über ihren Geruch. Neulich hat Lindsey beim Aufräumen einen ihrer alten Schuhe gefunden, den Dave behalten hat, weil er nach ihrer Wohnung in Nashville roch und nach den Anfangszeiten ihrer Liebe. „Es sind sehr besondere Erinnerungen”, sagt er. Je besser sie sich kennenlernten, desto mehr fehlte ihnen der andere im Alltag. „Die Fernbeziehung wurde hart”, sagt Dave. „Nach jedem Besuch wurde es härter, sich zu verabschieden”, sagt Lindsey.

Nach zwei Jahren entschlossen sie sich zusammenzuziehen. Der staatliche Wetterdienst, bei dem Dave arbeitete, wollte ihn nicht versetzen, also würde Lindsey zu Dave nach Mississippi kommen. „Es war ein großer Schritt”, sagt sie. Denn in den gemeinsamen Jahren auf Distanz haben sie auch gemerkt, wie unterschiedlich sie sind.

Wenn man nur ein paar Tage lang zu Besuch ist, ist es leichter zu akzeptieren, dass der eine den Wetterbericht schauen will und der andere die Comicserie Die Simpsons, dass der eine es kühler mag als der andere. Zusammenziehen ist für jedes Paar eine Herausforderung – und für ein Paar mit Autismus noch viel, viel schwieriger. „Lindsey hat sich Sorgen gemacht”, sagt Dave. „Es war ein großes Risiko”, sagt sie.

Sogar über Glühbirnen uneins

Also machten sie einen genauen Plan für den Umzug. Welche Möbel gefallen ihnen beiden? Dave mag alte Möbel, am liebsten aus den Siebzigern und Achtzigern, Lindsey gefallen modernes Design und Dekoration aus Asien. „Man kann sicherlich sagen, dass unsere Wohnungen sehr unterschiedlich aussehen würden, wenn wir nicht zusammenleben würden”, sagt Lindsey. Sie haben lange über die Raumtemperatur diskutiert und sich dann auf einen Kompromiss von einundzwanzig Grad geeinigt. Sie würden mehrere Ventilatoren über die Räume verteilen, und für kalte Tage sollte Lindsey einen Heizlüfter bekommen.

Sogar über die Glühbirnen sprachen sie vor dem Umzug. Lindsey mag das warme Licht traditioneller Birnen, Dave zieht Energiesparlampen vor. Vor allem im Sommer ärgert er sich über Glühbirnen, die Wärme abgeben. Sie heizen dann gegen die Klimaanlage an, die man in Mississippi und auch in ihrer Wohnung in Washington oft braucht. „Dave, man kann sagen, dass du sehr viel Wert auf Energiesparen legst, oder?”, sagt Lindsey. „Ja, das ist korrekt”, sagt er. „Es geht mir nicht darum, geizig zu sein, es geht mir um Effizienz”, sagt er. „Ich respektiere, dass er da eine Leidenschaft hat”, sagt sie und zeigt in ihrem Wohnzimmer auf die verschiedenen Lampen. „Die da drüben”, sagt sie, „hat meine Art Glühbirne, die da hinten seine.”

Wenn Dave von der Arbeit nach Hause kommt und zu Lindsey ins Wohnzimmer tritt, schaltet er die eine Lampe aus und die andere ein und zieht die Rollos hoch, manchmal noch bevor er sie begrüßt. „Es ist so schönes natürliches Licht, das hereinfällt”, sagt er. „Über natürliches Licht sind wir uns einig.”

„Manchmal brauchen wir die Einsamkeit”

Eine Entscheidung war zentral für ihre Liebe: getrennte Schlafzimmer. So kann Dave in einem kühlen, ordentlichen Zimmer schlafen, auf der härteren Matratze, die er liebt. Und Lindsey hat es kuschelig und warm, sie kann ihren Schmuck und ihre Klamotten ausbreiten, wie sie will, und auf einer weicheren Matratze schlafen. „Wir können so dekorieren, wie wir wollen”, sagt sie. „Und unsere eigenen Glühbirnen haben”, sagt er. Ihre getrennten Schlafzimmer werden zu einer Rückzugsmöglichkeit, einem Raum, der ganz allein ihnen gehört.

„Manchmal brauchen wir Einsamkeit. Wenn wir in der Welt da draußen unterwegs sind, gibt es so viel Stimulation für unsere Sinne. Und der Druck, sich mit anderen auszutauschen, kann einen erschöpfen”, sagt Lindsey. „Aber oft kann ich mich auch mit Dave zusammen entspannen. Manchmal ist es sogar gut, ihn um mich herum zu haben, er kann mich unterstützen und trösten, wenn ich einen schlechten Tag habe.”

Manchmal kommt Dave sie früh morgens in ihrem Zimmer besuchen, wenn sie noch schläft und er von der Nachtschicht nach Hause kommt. „Wenn man so ein Arrangement hat, muss man darauf achten, dass es nicht in den Weg der Intimität gerät”, sagt Lindsey.

Jeder kauft seine Lebensmittel ein

„Als wir zusammengezogen sind, wurden die Konflikte komplexer”, sagt sie. „Vor allem, weil wir mit ihnen umgehen mussten”, sagt er. Wenn sie kochte, störten ihn die Gerüche, all die vielen verschiedenen Gewürze, das Curry-Pulver. Sie aß eine Weile lang nur sehr wenig, sie hatte eine Essstörung, das kommt bei Autisten häufig vor. Sie wollte damals gar nicht mehr in Restaurants mit ihm gehen. Heute hat sie das wieder besser im Griff. Sie kaufen zwar noch immer getrennt Lebensmittel ein und essen selten das Gleiche, aber oft zumindest zur gleichen Zeit und im gleichen Raum. Manchmal sitzt der eine am Tisch, der andere auf dem Sofa, dazu läuft das Radio, damit Dave sie nicht kauen hört.

Lindsey wird manchmal traurig und ärgerlich und versteht die Gründe dafür oft erst viel später. Es kann Tage dauern, bis sie Dave sagen kann, was er falsch gemacht hat. „Das kann frustrierend sein”, sagt sie. „Für uns beide”, sagt er. Manchmal will sie einfach ihre Ruhe, dann weist sie ihn ab, aber kann ihm nicht erklären warum.

Inzwischen kann er die Zeichen dafür lesen. Sie wird dann ganz steif, wenn er sie umarmen will. „Mein ganzes Leben lang habe ich es immer als Herausforderung empfunden, mich so auszudrücken, wie ich gern möchte. Ich bin immer noch befangen, wenn ich mit Menschen kommuniziere, verbal und nonverbal”, sagt Lindsey. „Mein Verhalten kommt bei Leuten oft nicht richtig rüber, ich wirke nicht natürlich. Und das macht mich befangen.” Aber mit Dave muss sie davor keine Angst haben. „Er verurteilt mich nicht.”

„Wir müssen Gesichtsausdrücke üben”

Bei beiden von ihnen passt ihr Gesichtsausdruck manchmal nicht zu dem, was sie tatsächlich fühlen. Manchmal lächelt Dave, obwohl er unglücklich ist. Und neulich hat ein Fremder Lindsey gefragt, warum sie so angewidert aussehe, dabei war sie in dem Moment ganz zufrieden. „Gesichtsausdrücke sind nichts Natürliches, sie sind gelerntes Verhalten”, sagt Lindsey. „Wir müssen das richtig üben, und manchmal gelingt es nicht.”

Regeln, an die sich andere Menschen automatisch halten, fallen ihnen schwer. Lindsey erschrickt sich manchmal fürchterlich, wenn Dave in den Raum tritt und sie ihn nicht kommen hört. Meist sagt er leise „Pssst”, damit sie nicht zusammenfährt. Und Dave steht manchmal einfach auf und geht, ohne etwas zu sagen, oder dreht sich um zum Wetterbericht, wenn Lindsey ihm gerade von ihren Gefühlen erzählt. „Ich glaube nicht, dass ich Dave vollständig verstehe oder er mich vollständig versteht”, sagt Lindsey. „Aber ich glaube auch nicht, dass das eine Voraussetzung ist, um einen Menschen zu lieben.”

Trotz all der Schwierigkeiten haben sie nie bereut, zusammengezogen zu sein. „Das Zusammengehörigkeitsgefühl durch das Zusammenleben ist wunderbar”, sagt Dave. „Besonders, wenn man eine harte Zeit außerhalb von Zuhause hat, bei der Arbeit zum Beispiel, dann ist es schön, nach Hause zu kommen und dort einen Partner zu haben, der da ist und einen unterstützt, emotional und körperlich”, sagt Lindsey. „Wir brauchen das beide von dem anderen.”

Lindsey denkt gern an die Anfangszeiten ihrer Liebe zurück und schaut alte Fotos an. Als sie sich noch kaum kannten, haben sie einmal einen Ausflug gemacht in ein Freilichtmuseum, Colonial Williamsburg in Virginia. Lindsey hat die Bilder selbst gemacht, schwarzweiß und mit Selbstauslöser, die beiden küssen sich leidenschaftlich vor einem uralten, riesigen Baum mit tiefer, rissiger Rinde, beide haben die Augen geschlossen. Sie sehen jung und glücklich aus. „Ach, das ist so lange her”, sagt Lindsey leise und schließt kurz die Augen. „Was wir danach alles erlebt haben, wie wir uns verändert haben.”

Acht Jahre später hat Dave ihr genau dort einen Heiratsantrag gemacht. Lindsey hatte sich schon Sorgen gemacht, warum er sie so lange nicht fragte, ob sie ihn heiraten will. Er weiß es heute selbst nicht mehr so genau. „Autisten haben oft Angst vor großen Veränderungen in ihrem Leben”, sagt Lindsey. „Ich wusste einfach nie, wann ein guter Zeitpunkt gewesen wäre”, sagt Dave. Doch dann hat er sich getraut, sie zu fragen, neben dem gleichen uralten Baum.

„Es ist unglaublich, wenn man an die alten Zeiten zurückdenkt, wie sehr unsere Beziehung gewachsen ist und was wir alles erlebt haben”, sagte er bei seinem Antrag zu ihr. „Es ist doch ein gutes Zeichen, wenn eine Beziehung so lange hält. Ein Zeichen, dass wir füreinander bestimmt sind.” Dann kniete er nieder. „Es wäre mir eine große Ehre, dich als meine Frau zu haben. Wirst du mich heiraten?” Lindsey schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen, lachte und zitterte und brauchte sehr lange für eine Antwort. „Ja, ich werde dich heiraten”, sagte sie dann ruhig und gefasst. „Unsere Wellenlänge ist Liebe”, sagte Dave und küsste sie.

Die Hochzeit haben sie dann bewusst eher klein gefeiert, mit dreißig Gästen. Lindsey zuliebe hat Dave viele Leute nicht eingeladen, die er eigentlich gern dabeigehabt hätte. Dave zuliebe hat Lindsey sich bereiterklärt, ein paar Wochen nach der Hochzeit zu einer zweiten, größeren Feier mit seiner Verwandtschaft zu kommen. „Wir haben auch während der Planung noch viel voneinander darüber gelernt, welche Dinge uns wichtig sind”, sagt Lindsey. „Es war eine schöne, aber kleine Hochzeit”, sagt Dave. Sie haben nebeneinander gesessen beim Essen. Lindsey durfte kauen, wie sie wollte. „Und sie hat sogar Schokokuchen gegessen”, sagt Dave. „Das war großartig.”

https://m.youtube.com/watch?v=e37JBxmwHCo&feature=youtu.be


Kathrin Werner, geboren 1983, ist Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung in New York. Sie hat in Hamburg Jura studiert, sich dann aber entschlossen, Journalistin zu werden. Für die Zeitung schreibt sie über die Welt der Wirtschaft, vor allem über die Menschen hinter den Zahlen. Privat geht sie dem schönsten Gefühl der Welt auf den Grund: „Ich habe 20 wahre Liebesgeschichten gesammelt, die so groß und überraschend sind, dass man denkt, so etwas könnte im wahren Leben doch gar nicht passieren.” Ihr Buch ist Ende September 2017 im S. Fischer Verlag erschienen.

S. Fischer Verlag

Illustration: Peter Gericke für Krautreporter.