Jenny hat mehr Brüste gesehen als jeder durchschnittliche Mann. Hunderte, ach was, vielleicht sogar mehr. Große, kleine, schlaffe, pralle, flache, echte, künstliche. Im Gehen, im Laufen, beim Springen. Sogar auf einem künstlichen Pferd. Brüste sind vielleicht nicht Jennys Lebensinhalt, womöglich wäre diese Behauptung doch etwas übertrieben. Da ist ja auch noch ihr Mann Nick, ein Flugzeug-Ingenieur, den sie vor dreizehn Jahren beim Hochschulsport kennenlernte. Da sind ihre Eltern. Ihre drei Nichten. Jennys Freundinnen. Aber selbst deren Busen kennt sie. Wenn eine der Freundinnen eine Frage hat zu ihren Brüsten oder sich einen neuen BH kaufen will, meldet sie sich bei wem? Bei Jenny natürlich.
Die denkt an Brüste, wenn sie sich mit Nick beim Abendessen über neuste Methoden der Sensorik austauscht, oder wenn sie nach getaner Arbeit in ihr Auto steigt, oder wenn sie in ihrem Büro sitzt, Raum 2.01, Spinnaker Building, Universität Portsmouth. Vor allem denkt Jenny dann über Fragen der Mechanik nach. Über physikalische Kräfte, die wirken. Über Daten, die es zu sammeln gilt. Und über die Frage, wie es sich anstellen lässt, dass Brüste, diese zwei wabernden weiblichen Versprechen, die Männer seit jeher verrückt machen, die die Werbung beherrschen, Babys ernähren und Chirurgen reich machen, ja wie es sich anstellen lässt, dass diese zwei Körperteile ihre Trägerin nicht einschränken. Egal ob eine Frau gerade joggt, walkt oder sich beim Yoga verrenkt. Egal wie groß ihre Brüste sind. Deshalb erforscht Jenny Burbage, promovierte Sportwissenschaftlerin, Schwerpunkt Biomechanik, 33 Jahre alt, 1,58 Meter groß, Spaghetti-glatte Haare und blau-grüne Augen so hell wie das Wasser im Hafen von Portsmouth, seit zehn Jahren: Brüste.
„Schön, dass ihr alle gekommen seid zum breast educational workshop, zur Wissenschaft hinter Brüsten und BH!”, sagt sie jetzt mit einem charmanten Lächeln in die Runde der Teilnehmer, die sich an diesem Freitagmorgen in Seminarraum SB0.05 des Spinnaker Building versammelt haben. Zwei Männer und elf Frauen sitzen Jenny erwartungsvoll gegenüber, unter ihnen Produktdesigner, Sportwissenschaftler, der Managing Director einer englischen Unterwäschefirma für große Größen, eine Doktorandin, die ihren betreuenden Professor für Sporttechnologie gleich mitgebracht hat. Zwei Teilnehmerinnen sind extra aus Kalifornien eingeflogen.
In der Nacht zuvor hat Jenny schlecht geschlafen, träumte, sie hätte die Namensschilder für alle vergessen. Die Souveränität einer Dozentin hat sie sich erst antrainieren müssen in den vergangenen Jahren. Trotzdem ist sie jetzt nervös. Wie immer in solchen Situationen. Jenny ist kein Mensch der lauten Sorte; wenn sie einem zur Begrüßung die Hand gibt, legt sie ihre in die des Gegenübers sanft hinein, statt beherzt zuzudrücken. Wüsste man nicht, dass mit ihr eine führende Wissenschaftlerin der sportwissenschaftlichen Brustforschung vor einem steht, man könnte diese Frau glatt für eine ihrer Studentinnen halten. Dabei gibt es neben ihrer Arbeitsgruppe in Portsmouth, einer Küstenstadt im Süden Englands, nur noch eine weitere Gruppe in Australien, die ähnlich intensiv an Brüsten forscht, wie Jenny und ihre Kollegen es tun.
Wenn du dich in deinem Sport-BH fühlst wie eine Presswurst mit Atemnot
Sie jagen der Antwort auf eine Frage nach, die banal klingt, aber hochkompliziert ist: Wie muss er beschaffen sein, der optimale Sport-BH?
Die meisten Frauen tragen einen falschen. Nämlich einen, der nicht passt. Weil es unglaublich schwer ist, einen guten Sport-BH herzustellen. Und mindestens genauso schwer, einen passenden zu finden.
Entweder die Körbchengröße ist die falsche. Oder sie passt für die eine Brust, aber nicht für die andere. Oder die Unterbrustweite, also der Körperumfang unterhalb der Brust, der durch die Zahl vor dem Körbchen angegeben wird, stimmt nicht. Oder die Träger sind nicht richtig eingestellt, rutschen, schneiden ein. Oder du fühlst dich in deinem Sport-BH wie eine Presswurst mit Atemnot. Oder dein Sport-BH sieht nett aus, bietet aber null Komma null Stütze. Oder umgekehrt. Rollschuhläuferin Kim kann alle möglichen Varianten aufzählen, wieso ein Sport-BH nicht passt, obwohl er es sollte.
Sie brauchte Jahre, um einen passenden zu finden. Weil sie es nicht besser wusste. Fast genauso lange, schon seit ihr Busen in der Grundschule anfing zu wachsen, lief sie obenrum mit Unterwäsche durchs Leben, die immer irgendwo zwickte. Es ist eine lange Zeit für eine Frau, die erst 27 Jahre alt ist und mit Körbchengröße 75G zurechtkommen muss – Standard-BH-Größen reichen international von A bis D. Alles, was darüber hinausgeht, gilt als large-breasted, also als Übergröße. Doch dann, vor drei Jahren, fand Kim in einem Fachgeschäft endlich das richtige Oberteil für untendrunter. Von diesem Büstenhalter arbeitete sie sich an den passenden Sport-BH heran. Es war wie eine Erleuchtung! Davor war Kim gekrümmt durch die Straßen gegangen, sie hatte sich unwohl gefühlt mit ihrem großen Busen. Jetzt aber konnte sie sich endlich aufrichten. Stolz, selbstbewusst. Ohne dass das Gewicht ihrer Brust an ihrer Haut zerrte. Ohne dass sie dem Blick ihres Gegenübers ausweichen musste, wenn der ihr wieder einmal auf die Brüste starrte. Und sie konnte endlich: Sport treiben! Sogar ohne Schmerzen.
Toughie Summers muss Busengrapscher und Ellbogen-Kicks aushalten
In einer Turnhalle in Berlin-Kreuzberg zieht sie sich gerade ihr hellgrünes Baumwollkleid über den Kopf und streift sich ihr schwarzes Sport-Shirt über. Danach den Rest ihrer Ausrüstung, die sie für die nächsten drei Stunden Training braucht, um sich in ihr Alter Ego “Toughie Summers” zu verwandeln. So heißt sie, sobald sie sich ihre Rollschuhe an die Füße schnallt. Im normalen Leben arbeitet Kim als Architektin, sitzt still und schüchtern über Skizzen und Projektplänen. Aber beim Roller-Derby wird sie dreimal die Woche für ein paar Stunden zur starken Blockerin Toughie Summers, die reingeht in jede Konfrontation und die Gegnerin mit der ganzen Kraft ihrer weiblichen Rundungen verteilt auf 1,66 Meter aus der Bahn rammt. Bähm! Sie setzt ihren Helm auf, einer der drei Trainerinnen drängelt schon und klatscht in die Hände. „Come on, Girls! Beeilt euch ein bisschen!” Kim drückt sich schnell den Mundschutz auf die Zähne, schnürt die Rollschuhe fest und streift sich eine schwarze Stoffbandage über den linken Oberarm, darauf ihre Nummer, 730. Noch die Leggings, dann Schoner für Knie, Handgelenke, Ellbogen. Den Sport-BH, wichtigster Teil ihrer Ausrüstung, hat sie passenderweise schon an. Ohne ihn wäre Kim heute nicht hier – wie auch, bei ihrer Körbchengröße.
Toughie Summers und die anderen aus ihrer Mannschaft rollen aufs Spielfeld; kleine Frauen, große, füllige, schlanke, mit pinkfarbenem Kurzhaarschnitt und schwarzen Locken, mit wenig Oberweite oder viel, manche tätowiert, andere gepierct, so wie Kim selbst, deren Lippe und Nase jeweils ein feiner silberfarbener Ring ziert. 21 Frauen unterschiedlichster Couleur, die ganze Palette weiblicher Schönheit verteilt auf 42 kleinen Rollen. “Jane van Pain”, “Lizzy Slaughter” oder “Maniacal Maiden”, so lauten die Spielernamen von Kims Kameradinnen. Beim Roller-Derby treten zwei Teams gegeneinander an, jeweils fünf Spielerinnen sind auf der Bahn, sie rasen durch die Halle, indem sie Runden fahren. Eine aus jedem Team ist die Punktemacherin, die die gegnerische Mannschaft innerhalb von zwei Halbzeiten à 30 Minuten so oft wie möglich überrunden muss. Für jede überholte Gegnerin gibt es einen Punkt. Es gewinnt das Team, dessen Punktemacherin sich mithilfe ihrer Kameradinnen gegen die Abwehr der gegnerischen Mannschaft am schnellsten durchsetzen kann und somit die meisten Punkte sammelt.
Roller-Derby geht nicht ohne Körperkontakt: blaue Flecke im Dekolleté, eingequetschte Brustwarzen, versehentliche Busengrapscher, feindliche Schultern im eigenen Busen genauso wie Ellbogenstöße gegen die Brust, alles normal. Eine aus der Mannschaft spielt deswegen nicht ohne ihren Hartschalen-BH, wie ihn normalerweise Kickboxerinnen tragen.
Das neue Schönheitsideal: sportlich, stark und alles unter Kontrolle
Lange Zeit interessierte sich niemand für die Frage, wie ein Busen sich verändert, wenn er sich bewegt. Dabei kennt jede Frau mit einem größeren Busen dieses Gefühl: Du joggst durch den Park oder rennst zur nächsten Tram, machst einen Schritt – und die Brust wackelt mit. Du macht einen weiteren – und sie wabert zurück. Es tut weh. „Shit”, denkst du, „gleich fällt alles raus. Hoffentlich guckt keiner.” Und dennoch: Brüste wurden neben dem sexuellen im mütterlichen Kontext betrachtet, im kulturellen oder im medizinischen. Nicht aber im biomechanischen. Ein verdruckstes Hihi, ein bewunderndes Ooooh, ein anzügliches Lächeln oder ein besorgter Blick vom Arzt: Das war alles, was man Brüsten zugestand.
Jahre lang sollte eine Frau dem westlichen Schönheitsideal nach vor allem eines sein: schlank. Je dünner, desto besser. Doch in Zeiten von Instagram und Körperkult, in denen sich der Mensch stets weiter optimiert, gibt es einen neuen Körpertrend: “Skuptural“ nennen ihn Soziologen. Als schön gilt die gesund aussehende Frau, die Brauchmuskeln, einen festen Hintern, trainierte Schenkel und straffe Oberarme vorzeigen kann. Weibliches Ideal: Zum Beispiel das deutsche Fitness-Model Pamela Reif, die ihre Sportlichkeit auf Instagram an drei Millionen Follower vermarktet.
Wo der “Heroin-Chic“ der Mager-Models immer auch etwas Verruchtes hatte, symbolisiert der skulpturale Körper der Jetzt-Zeit vor allem Kontrolle. Und so ist es vermehrt die weibliche Kundschaft, auf die Firmen ihre Produkte ausrichten. Der Sport-BH hat sich damit zu einem Millionenversprechen entwickelt, von dem alle etwas haben wollen: Die bekannten Namen wie Nike oder Adidas, Busenspezialisten wie die Firma Shock Absorber, Trendsetter wie Under Armour oder Lululemon, Unterwäscheklassiker wie Victoria’s Secret oder Triumph, Stars wie die Sängerin Beyoncé und selbst der Twin-Peaks-Regisseur David Lynch, der sich auf activewear für Yogafrauen eingeschossen hat. Sie alle verkaufen unter ihrem Namen Sportmode und damit auch: Sport-BHs. Der Markt ist riesig.
Und Wissenschaftlerin Jenny Burbage deswegen eine gefragte Frau. Sammelt sie doch jene Bewegungsdaten über Brüste, die Designer verwenden, um technisch ein möglichst gutes Produkt zu entwerfen.
Für den Workshop heute ist sie gewappnet. Zu oft hat sie erlebt, dass jemand – irgendein Mann – sich die Unverschämtheit leistete und einen Witz über ihre Arbeit machte. „Vielleicht kann ich dein Labor-Assistent sein, wenn du wieder einmal Brüste von Probandinnen vermisst?”, so geht einer dieser Witze. Haha.
Mit kleinerem Busen auf Platz 1 der Tennis-Weltrangliste
Jenny kennt sie alle. Sie kann sie weglächeln, hat genug Übung darin. Manchmal, wenn sie auf einer Party steht, umgeht sie die drohende Peinlichkeit trotzdem lieber direkt. Auf die Frage „Und, was machst du so?” verrät sie dann nicht, worum es bei ihrer Arbeit ganz genau geht. Sondern sagt nur: „Bin an der Uni, Sportwissenschaft.”
Jenny berichtet ihren Teilnehmern während des Workshops, wie schwierig es ist, Brüste in Bewegung überhaupt akkurat zu vermessen, davon, dass bei mehr als zwei Dritteln der Frauen die Brust asymmetrisch ist, und zwar die linke etwas grösser als die rechte, ohne dass jemand wüsste, warum. Sie erzählt, dass sich ein Großteil der Frauen, 70 bis 100 Prozent, ihr Leben lang mit einem falschen BH durch den Alltag bewegt. Jenny präsentiert Zahlen und Fakten, die jeglichen Verdacht, diese Veranstaltung könnte ein Witz sein, allein durch ihre Akribie widerlegen.
Und für die letzten Skeptiker berichtet sie auch noch von der Profi-Tennisspielerin Simona Halep, die sich mit 17 Jahren ihren Busen von Größe 75E auf 75C verkleinern ließ und anschließend 450 Plätze auf der Tennis-Weltrangliste nach oben kletterte - mittlerweile steht sie ganz vorn, auf Platz eins. „Mit einem falschen Sport-BH ist deine Performance einfach nicht so gut, wie sie sein könnte”, sagt Jenny.
Brüste sind aus bewegungstechnischer Sicht eine Katastrophe. Keine Muskeln, stattdessen nur Fett, Bindegewebe, Haut und Milchdrüsen, dem kleinen und großen Brustmuskel aufsitzend, der allerdings mehr schlechter Witz ist als echte Stütze. Anders gesagt: Brüste sind eine wabernde Masse, die macht, was sie will. Eine Frechheit. Beim Laufen, Springen, Reiten oder Turnen bewegen sie sich dreidimensional im Raum. Von oben nach unten, links nach rechts, vom Körper weg und wieder zurück, als folgten sie einer elliptischen Bahn. Brüste hüpfen nicht, sie schwingen; wie der Mond, der um die Erde eiert. Bloß behalten Mond und Erde im Unterschied zu einem Busen seine Form. Und als ob all das noch nicht genug wäre: Ein Busen verliert mit zunehmendem Alter auch noch an Festigkeit. Er verändert sich stetig. Nach der Geburt eines Kindes, nach dem Abstillen, sogar während des weiblichen Zyklus. Ein BH in Körbchengröße 75B, der für die eine Frau passt, kann deswegen für eine zweite schon wieder zu eng sein. Oder zu lose.
Schonmal versucht, mit zwei Tüten Wackelpudding Marathon zu laufen?
Je größer eine Brust, desto größer die Schwingungen, wenn sie sich bewegt. Und desto schwieriger, ihre Wucht aufzufangen. Eine einzelne Brust kann ein Volumen von 75 Milliliter bis 2,5 Liter fassen. Und in Bewegung bis zu 19 Zentimeter von einem Punkt zum anderen ausscheren. Joggt eine Frau in einem Tempo von 8 Kilometer pro Stunde, bedeutet das für sie bis zu 10 000 Erschütterungen in derselben Zeit. Für kleine Brüste mag das noch verkraftbar sein. Was aber tut eine Frau mit einem Busen, der beispielsweise links und rechts ein Volumen von 1,5 Litern oder noch größer umfasst? Schon einmal versucht, mit zwei 1,5-Liter-Tüten Wackelpudding an der Körpervorderseite einen Marathon zu laufen? Eben.
Brüste sind beim Sport immer im Weg. Tennisstar Simona Halep müssen sie irgendwann so sehr gestört haben, dass sie sich ihrer zwei wuchtigen Probleme per Messer entledigte. Im Internet aber gibt es sie noch, die alte Simona. Jeder, der will, findet Videos von ihr auf Youtube. Darin steht Halep konzentriert auf dem Platz, der ganze Körper gespannt wie ein Flitzebogen. Die Knie gebeugt, den Aufschlag der Gegnerin erwartend, den Blick fokussiert übers Netz gerichtet. Beide Hände halten den Schläger fest umschlungen. Der Ball kommt angesaust, Haleps Körper richtet sich auf, streckt sich durch, mit einem Satz sprintet Halep nach vorn. Sie holt weit aus und trifft den Ball mit der rechten Vorhand. Ihr Busen wirkt während dieses bis ins kleinste Detail trainierten Bewegungsablaufs wie ein groteskwabbeliger Fremdkörper, der wild durch die Gegend wippt. Wie ein körperliches Echo, das sich Haleps Kontrolle entzieht.
Vor ein paar Jahren, Jenny erinnert sich noch, kam eine junge Profi-Ruderin in ihr Büro. Den Namen darf sie nicht verraten, jedenfalls weiß Jenny noch, wie sie sich wunderte. Weil die junge Frau ihr berichtete, zum Rudern trage sie lediglich ein billiges Sport-Bustier. Wie ihr Busen ihre sportliche Leistung beeinflussen könnte, darüber hatte sie sich nie besonders viele Gedanken gemacht. Doch neuerdings spürte sie ein Ziehen im Rücken, wann immer sie in die Riemen ging und die Ruderblätter ins Wasser drückte. Schließlich hatte der Trainer sie in Jennys Büro geschickt. Also schob Jenny die junge Frau in ihr Labor, erstellte ein persönliches Brustprofil und verpasste der jungen Frau das richtige Sportoberteil. Die ruderte von nun an ein paar Millisekunden schneller, was im Profisport oft schon reicht, um Sieger und Verlierer zu bestimmen. Die junge Sportlerin ruderte auf einmal schneller, weil ihr Busen nicht mehr störte und ihre Arme demnach mit mehr Bewegungsfreiheit agierten.
Beim Roller-Derby in Berlin-Kreuzberg beißt Kim alias Toughie Summers gerade fest auf ihren Mundschutz und verzieht das Gesicht. Während einer Übung zum richtigen Blocken hat ihr eine Mitspielerin versehentlich ihren Ellbogen in den Busen gerammt. Toughie Summers stöhnt kurz, beugt sich nach vorn, schweißüberströmt, lässt den Kopf hängen, stützt die Hände auf die Schenkel oberhalb der Knie und atmet tief ein und aus. Schrill saust ein Trillerpfeifenton der Trainerin durch die Luft. „Keine Hände, keine Ellbogen!”, ruft sie streng, „ihr wisst, dass das nicht erlaubt ist – wenn ihr das so im Spiel macht, sitzt die Hälfte von euch auf der Strafbank!” Wer beim Roller-Derby nur seine Aggressionen loswerden will, ist falsch. Es geht vielmehr um Schnelligkeit, Kraft, Taktik. Und um Technik.
Der Sport-BH ist das vielleicht tragischste von allen Kleidungsstücken
Um Letzteres geht es auch beim Sport-BH: Der kann, je nach Niveau und Preisklasse, bis zu 52 Einzelteile beinhalten: Cups, Träger, Größenversteller, Verschlusshäkchen, Stützelemente, Fähnchen, Steg, atmungsaktive Innenlage, kaschierende Außenlage. Und, und, und. Diese Technik aber steht im Gegensatz zum Tragekomfort. Und zu einem wichtigen Wunsch der Kundin: Der Büstenhalter muss hübsch sein. Selbst wenn er nur zum Joggen getragen wird und ihn nie jemand anderes sieht als die Trägerin selbst. „Für eine Frau ist es sehr wichtig, wie sie in einem Sport-BH aussieht”, sagt Deirdre McGhee, die an der Universität Wollongong in Australien seit mehr als 15 Jahren ebenfalls an Brüsten forscht. “Ich habe viele Frauen getestet, die mir sagten, sie würden lieber einen kaufen, der gut aussieht, als einen, der gut sitzt.”
Es ist, als würde ein Ingenieur ein Auto auf dem technischen Niveau eines Formel-1-Wagens entwerfen, das aber bitte schön wie ein 911-Porsche aussehen soll und höchstens soviel kosten darf wie ein Kleinwagen. Egal ob die Nutzerin darin bequem sitzt oder nicht.
Man kann den Sport-BH deswegen ein tragisches Kleidungsstück nennen. Einst dafür geschaffen, Frauen nach Jahrhunderten im Korsett endlich möglichst viel Freiheit bei egal welcher Bewegung zu verschaffen, zeigt er doch, wie unfrei Frauen heute noch immer sind. Beziehungsweise: In welches Gedankenkorsett sie sich noch immer zwängen. Das ist der Grund, warum ein Sport-BH neben den technischen vor allem die optischen Kriterien erfüllen muss: Eine Frau darf in den seltensten Momenten einfach nur Frau sein und irgendwie aussehen. In den meisten soll sie schön sein.
“Ich trage drei BH übereinander, wenn ich trainiere!”
Als Simona Halep sich ihre Brüste verkleinern ließ, sagte sie: „Ich mag sie auch im normalen Leben nicht. Selbst wenn ich keine Sportlerin wäre, hätte ich sie mir verkleinern lassen.” Die Medien zerrissen sich das Maul über Haleps Eingriff: „Ein Verbrechen gegen die Menschheit”, kommentierten irgendwelche User im Internet. Oder: „Vorher hatte sie ein Paar nette Melonen, jetzt ist sie nur Durchschnitt.” Nur einige äußerten Verständnis. „Ich trage drei BH übereinander, wenn ich trainiere. Ich kann ihren Schmerz fühlen!”
Ein D-Cup wiegt etwa fünfhundert Gramm, macht ein Gesamtgewicht von einem Kilo pro Busen oder so viel wie vier Standardpakete Butter. Die Durchschnittsgröße in England liegt bei einem 75/80D-Cup, Tendenz steigend. Firmen in England und den USA produzieren bereits vermehrt große Größen. Weil die Menschen immer dicker werden. Und damit Brüste immer größer.
Für alle, die auf große Busen stehen, mag das eine schöne Nachricht sein. Für Jenny aber wird die ganze Sache dadurch komplizierter. Und für Frauen wie Kim auch.
Die rollt in der Turnhalle in Berlin-Kreuzberg mittlerweile auf Hochtouren, genauso wie das Trainingsspiel: Zöpfe fliegen, Ellbogen schubsen, Schultern schieben, Körper knallen auf den Turnhallenboden, nur um in Sekundenschnelle wieder aufzustehen. Schweißgeruch durchströmt die Luft, Rollen quietschen. „Defense, defense!”, brüllt Toughie Summers ihren Kameradinnen zu. Sie streckt die Arme seitlich aus, formt mit drei ihrer Teamkolleginnen eine bewegliche Abwehrkette, die gegnerische Punktemacherin kommt angerast, knallt hinein. Körper verhaken, um die Gejagte bildet sich ein Mob, gemeinsam mit Toughie Summers versinkt sie in einem Knäuel aus Armen, Beinen und rollenden Körpern. Aber die Gegnerin ist schnell, behände, weicht nach links aus, dann nach rechts. Die Abwehrkette schwingt mit, kann die gegnerische Punktemacherin aber nicht halten. Die stoppt blitzschnell auf ihren Vorderrollen, schlägt einen Haken – und rast weiter. Toughie Summers keucht, ihr Zopf klebt ihr nass im Nacken. Drei Stunden Training verlangen ihrem Körper einiges ab; ihrem Sport-BH allerdings auch. Dass sie aber überhaupt einen tragen kann, verdankt Toughie Summers zwei albernden Schwestern. Und einem Witz.
In den USA der siebziger Jahre wird Jogging gerade zur neuen Sportart für alle, auch die beiden Schwestern Lisa Lindahl und Victoria Woodrow probieren den Trend.
„Was trägst du denn als BH, wenn du läufst?”, fragt die eine Schwester die andere, „dieses ganze Rumgeplumpse ist ja nicht gerade bequem.”
„Naja, ich ziehe einen an, der eigentlich eine Nummer zu klein ist”, antwortet Lisa.
„Oh, es müsste einen jockstrap für Frauen geben!”, sagt ihre Schwester am Telefon. Die beiden kichern. Jockstrap ist das englische Wort für jene verstärkten Stoffgehäuse, die Männer tragen, um ihre Genitalien bei Sportarten wie Boxen oder Eishockey zu schützen. Wieso eigentlich nicht?, fragt sich Lisa Lindahl, nachdem sie aufgehängt hat. Mit der Hilfe einer befreundeten Kostümdesignerin näht sie zwei jockstraps zusammen. Fertig ist der Jogbra, der erste moderne Sport-BH. 1977 kommt er auf den Markt.
Es soll eine Erfolgsgeschichte werden – an der knapp 20 Jahre später ausgerechnet die männlichste aller Sportarten, der Fußball, seinen Anteil hat:
Fußball und der Sport-BH, den die ganze Welt gesehen hat
Es ist der 10. Juli 1999, ein sonniger Tag in Kalifornien. Im Rose-Bowl-Stadion in Pasadena stehen sich im Finale der Frauenfußballweltmeisterschaft die USA und Erzrivale Chinagegenüber. Das Spiel läuft zäh, nach neunzig Minuten Regelspielzeit plus Verlängerung steht es noch immer 0:0. Also: Elfmeterschießen. Fünf Schüsse pro Team. Die chinesische Mannschaft legt vor, Treffer Nummer eins. Die USA ziehen nach, Treffer Nummer zwei. Doch den dritten Schuss für ihr Team setzt die Chinesin Liu Ying daneben. Es steh 4:4, der letzte Schuss gehört den USA. Brandi Chastain, Verteidigerin mit der Trikotnummer 6, soll es richten; wenn sie jetzt trifft, ist ihr Team Fußballweltmeisterin.
Chastain positioniert den Ball vor sich auf dem Rasen, hält einen letzten Moment inne. Sie nimmt einige Meter Anlauf, rennt los, trifft den Ball mit der Innenseite ihres linken Fußes, dabei schießt sie sonst immer mit rechts – Treffer! Die Zuschauer springen von ihren Sitzen, Jubel brandet auf, Chastain reißt sich das Trikot vom Oberkörper, fällt auf die Knie, ballt beide Fäuste zum Himmel, schließt die Augen und schreit sich ihren Jubel aus der Seele, als hätte sie jahrzehntelang auf diesen Moment gewartet. Und offenbart dabei ihr schwarzes Sportbustier. Die anwesenden Kameras klicken und filmen, das Bild wird zur Ikone. Die New York Times betitelt es später mit den Worten: „Der Sport-BH, den die ganze Welt gesehen hat.” Nach dem Finale gehen die Verkaufszahlen von Sport-BH nach oben, bei einigen Marken um bis zu 25 Prozent. Manche Kommentatoren feiern Chastains Bild als feministischen Akt.
Jenny würde sich nicht als Feministin bezeichnen. Sie zögert, wenn sie danach gefragt wird. „Weil das Wort für viele Menschen etwas anderes bedeutet”, sagt sie. “Und ich will nicht ständig darauf herumreiten, wie Frauen ungerecht behandelt werden. Das ist positive Diskriminierung.”
Doch im Sport, da wird der Unterschied zwischen den Geschlechtern eben besonders deutlich: Nicht wenige Frauen verzichten ganz auf Joggen, Kicken, Basketball und andere Sportarten – wegen ihrer Brüste. Jenny weiß das aus Umfragen bei Teenagerinnen. Sie selbst hat sich in ihrer Liebe zum Sport durch den eigenen Busen, der grösser ist als der Durchschnitt, nie zurückhalten lassen. Fußball, Hockey, Frisbee, Basketball, Badminton: Jenny macht Sport, seit sie denken kann. „Aber ich habe mir manchmal schon gewünscht, dass meine Brüste kleiner wären. Weil ich mir das einfacher vorstelle”, sagt sie.
Doch einfach ist im Sport-BH-Universum sowieso nichts. Für Jenny nicht, die auf der wissenschaftlichen Seite steht und in einer Männerdomäne arbeitet. Für die Kundinnen wie Kim alias Toughie Summers nicht, die sich in einem unübersichtlichen System an Größen beim Kauf eines BH meist am Körbchen orientieren, obwohl die Weite des Unterbrustbandes entscheidender dafür ist, ob ein BH gut sitzt oder nicht. Und für Katrin Prillwitz genauso wenig, die als Designerin die Ansprüche aller in ein Produkt packen muss.
Drei Jahre Arbeit für einen einzigen Sport-BH
Ein paar Monate bevor Jenny Burbage ihren Workshop hält, steht Prillwitz leicht aufgekratzt auf dem Messegelände in München, Halle B3, Stand 513. „Sport-BHs zu designen, ist die Königsklasse unter den Königsklassen”, sagt sie. Und sie ist heute die Königin. Während sich um sie herum auf der größten Sportmesse der Welt Fachpublikum in Funktionsjacken und neonfarbenen Turnschuhen durch die Gänge schiebt, lächelt Prillwitz selig vor sich hin. Ihre jüngste Arbeit hat sich gerade in Gold ausgezahlt: Der neuste Sport-BH aus ihrer Hand, der Sports Bra Air Control Delta Pad, den Prillwitz als Diplom-Ingenieurin entwickelt hat, ist zum Gewinner der diesjährigen Messe gekürt worden, im Segment Health and Fitness, Kategorie Base Layer.
Prillwitz kommt gerade von der Preisverleihung und hält die Siegestrophäe noch in der Hand. „Ich hab mich lange gewunden”, sagt sie, 47 Jahre alt, eine Frau mit mädchenhafter Ausstrahlung, das Gesicht ohne Make-up, die langen braunen Haare von ersten grauen Strähnen durchsetzt. „Ich wollte keinen Sport-BH mit ’ner Schale machen und aus einem kaschierenden Material. Deswegen hat unser Gewinner so einen Triangel-Cup, wie ein kleiner Eifelturm, und die Schale ist auch noch gelöchert.” Prillwitz ist eine unprätentiöse Person, eine Tüftlerin, wie sie selbst sagt, die sich mehr für technische Details interessiert als für den großen Auftritt. Aber jetzt kommt die Freude über ihren Sieg doch durch.
Und sie hat ja auch allen Grund, stolz zu sein: Ausgerechnet Prillwitz’ Firma hat gewonnen, ein Underdog im Vergleich zu den großen Sportmarken; auf der Website wirbt man mit dem biederen und typisch deutschen Slogan “Kompetenz seit 1886”. Drei Jahre Arbeit stecken in Prillwitz’ Gewinnermodell, monatelang wurde der Prototyp an Probadinnen getestet. Prillwitz weiß, wie schwer es ist, ein gutes Produkt zu entwickeln. So viel kann dabei schiefgehen: Die Bügel können zu weit sein oder zu sehr einschneiden, das Material muss leicht und angenehm auf der Haut liegen, Schweiß schnell nach außen leiten, die Brustwarze darf sich nicht abzeichnen, schon gar nicht darf sich das Material an ihr reiben, gleichzeitig soll das Design eine gewisse Eleganz haben. Einen Sport-BH für große Größen zu designen, hat für Prillwitz etwas von der Arbeit eines Architekten. „Ihr baut keine Brücken und auch keine Raumschiffe!”, sagt ihre Schwester zu ihr, wenn sie wieder einmal zu lange von ihrer Arbeit erzählt. Aber für Prillwitz ist es eine Kunst für sich. Vor allem, wenn man wie sie bis Körbchengröße H entwirft.
Der 3D-Drucker soll Brüsten in Zukunft helfen
In ihrer Bewertung des Gewinner-BH hat die Jury besonders Prillwitz’ Cup-Design gelobt. Das sieht aus, als hätte man einen durchsichtigen Schalen-BH über einen Triangel-Bikini gelegt. Als weiteren Trick sind die Körbchen gemoldet, also durch Hitze verformt, wie bei einem Hut. So werden Nähte überflüssig. All das entspricht einem großen technischen Know-how, aber die Zukunft des Sport-BH sieht noch mehr Technik vor – und sie hat längst begonnen: Die Australier haben den Prototyp eines Bionic Bra entwickelt, der teilweise aus dem 3-D-Drucker kommt. Der spezielle Sport-BH verspricht, Bewegungen der Brust nicht nur aufzufangen, sondern durch Anpassung intelligent abzufedern. In die Faser eingearbeitete Nanopartikel sollen Muskeln imitieren, sich je nach Notwendigkeit ausdehnen oder zusammenziehen. Eine App, mit der jede Frau ihre richtige BH-Größe angeblich fehlerfrei ermitteln kann, haben die Forscher aus Australien auch schon entwickelt.
Und weil das korrekte Vermessen der Brüste die wichtigste Voraussetzung dafür ist, ob ein BH später gut sitzt oder nicht, schiebt Jenny, die Busenforscherin, ihre Kursteilnehmer gerade in die heiligen Hallen ihrer Forschungsarbeit, normalerweise geschlossen für Blicke von außen. Im “Labor”, einem stinknormalen weißen Raum, wartet der Höhepunkt des Kurstages: das 3-D-Brust-Scanning. In einer Ecke reihen sich auf einer Kleiderstange rund 40 verschiedene BH aneinander, pinke, beige, weiße und schwarze, lila Spitze. Mitten im Raum steht ein Laufband, umkreist von sieben Infrarot-Bewegungskameras. Studentin Anna wartet schon, sie trägt Turnschuhe, graue Dreiviertel-Leggings und einen Sport-BH. Anna wird heute die Testperson spielen.
Damit Frau auch wirklich immer gut aussieht
Auf ihrem Oberteil und auf der Haut oberhalb von Annas Brust kleben vier kugelförmige, kabellose Sensoren, zwei davon genau dort, wo die Brustwarzen sitzen. Die Sensoren reflektieren Annas Bewegungen mit den umgebenden Kameras. Drei weitere Messkügelchen sitzen auf Annas Rücken, sie sind mit einer kleinen schwarzen Box verbunden. Anna schaltet das Laufband ein, setzt einen Fuß vor den nächsten, erst langsam, dann schneller, ihre Atmung wird schwerer, ihre Brüste heben und senken sich. Was genau sie tun, das messen jene Sensoren auf Annas Körper: Jede Bewegung ihres Busens wird in Sekundenschnelle aufgezeichnet, verrechnet, an einen angeschlossenen Computer geschickt und als Annas dreidimensionaler Torso im Laufen auf dem Computerbildschirm sichtbar. Daneben generiert das Programm drei Graphen: Der oberste zeigt an, wie Annas Brüste sich vom Körper weg bewegen und wieder zurück, der mittlere, wie sie von einer Seite zur andern schwingen, der unterste, wie ihre Brüste von unten nach oben wippen. Auf diese Weise können Jenny und ihre Kolleginnen nachvollziehen, wie ein Busen sich in Bewegung verhält. Wie er sich unabhängig vom Rest ihres Oberkörpers bewegt. Oder wie die Brüste voneinander abweichend vor sich hin wackeln.
In Zukunft, so hofft Jenny, wird ein solches 3-D-Brust-Scanning für jede Kundin normal sein, die ein Sportgeschäft betritt oder einen Unterwäscheladen. So wie es heute schon Jogger tun, die ein Bewegungsprofil ihrer Füße erstellen lassen, bevor sie einen neuen Laufschuh kaufen. Es wäre Jennys Ideal in einer busenfreundlicheren Welt.
Bislang aber regiert Ästhetik über Funktionalität: Mittlerweile gibt auch Sport-BHs mit Push-up-Einlagen für kleine Brüste – damit Frau auch wirklich immer gut aussieht.
Dieser Text stammt aus unserem Archiv. Da er ein zeitloses Problem beschreibt, haben wir ihn jetzt zu den Olympischen Spielen noch einmal angepasst und neu ausgespielt.
Bildredaktion: Till Rimmele; Produktion und Schlussredaktion: Esther Göbel