11. August 2015. Heute ist der Tag, der Taylor Lykins wieder eine Zukunft geben könnte. Sie trägt Sandalen. Eigentlich lässt die 19-Jährige keinen Anlass aus, um auf ihren Stöckelschuhen zu balancieren. Auf den hohen Absätzen fühlt sie sich trotz ihren 1,51 Meter fast auf Augenhöhe mit ihren Freundinnen. Aber daran ist an diesem Tag nicht zu denken, als sie sich den Flur eines Chicagoer Krankenhauses entlang tastet. Den linken Arm hat sie bei ihrer Mutter untergehakt, den rechten zur Wand ausgestreckt, um sich mit Zeige- und Mittelfinger sanft daran abzustützen.
Am Ende des Flurs biegen sie in ein fensterloses Wartezimmer ein, wo zwei andere Patienten sitzen. Eine Frau starrt auf ihre Hände, ein Mann flüstert ins Telefon. Taylor setzt sich. Sie blickt mit ihrem Elfengesicht zum Aquarium, in dem sich die Fische wie in Zeitlupe bewegen, dann zum Fernseher, wo Nachrichten laufen, die sie nicht interessieren. Für sie zählt nur diese eine Frage: Wird Doktor Burt sie annehmen?
Eine Krankenschwester führt sie ins Sprechzimmer. Taylor blickt auf die Wandtafeln mit Abbildungen des menschlichen Gehirns. Darunter steht: Was ist Multiple Sklerose und wie wirkt sie sich aus? Sie muss den Text nicht lesen, sie weiß das alles nur zu gut.
Auf einmal steht Doktor Burt vor ihr, der weiße Kittel umspannt seine kräftige Figur, seine graumelierten Haare trägt er im Pilzkopf-Schnitt. Für seine Fachkollegen ist dieser Mann ein Pionier, für seine Patienten ein Held. Manche nennen ihn einfach Gott. Richard Burt macht Lahme wieder gehen und Blinde wieder sehen. Selbst ein Mädchen, das im Koma lag, hat er ins Leben zurückgeholt. Eltern brechen in Tränen aus, dankbar, dass er ihr Kind gerettet hat. Andere verzweifeln und beschimpfen ihn, weil er sie nicht als Patienten aufnimmt.
Doktor Burt greift nach Taylors rechter Hand und legt sie in seine. Er schaut sie mit seinen blauen Augen an. Sie sei sehr tapfer, sagt er mit ruhiger, fester Stimme. Er rekapituliert ihre Krankengeschichte, den Befund der Kernspintomografie, die Blutwerte. Taylor muss aufstehen, den Zeigefinger zur Nase führen, die Hände wie zum Gebet zusammendrücken, die Augen schließen, stehen bleiben. Fünf Minuten. Sie ist kurz davor umzukippen. Sie weiß, dass Burt nur Patienten im Frühstadium in seine Studie aufnimmt. In ihrem Kopf formt sich ein Gedanke: Es ist zu spät. Ich komme als Kandidatin nicht mehr infrage.
Doktor Burt lässt sich in den Stuhl zurückfallen und seufzt.
Das Immunsystem ausknipsen wie bei Krebspatienten
Anderthalb Jahre später, März 2017. Ein eisiger Wind drückt vom Lake Michigan durch die Häuserschluchten Chicagos. Im zehnten Stock eines Betonhochhauses befindet sich das Büro von Richard Burt. Von hier aus organisiert der 60-jährige Immunologe seinen Kampf gegen Multiple Sklerose (MS). MS ist eine heimtückische Krankheit: Das körpereigene Abwehrsystem greift die Nervenhüllen in Gehirn und Rückenmark an und bewirkt chronische Entzündungen. Fehlgeleitete Immunzellen produzieren Antikörper, die das eigene Gewebe fälschlicherweise als Feind erkennen. Diese Autoantikörper bringen den Körper dazu, sich selbst zu bekämpfen. In Schüben treten Krämpfe oder Lähmungen auf, Schwindel setzt ein, Seh-, Geschmacks- oder Geruchssinn fallen zeitweise aus. Nach Jahren wechselt die Krankheit meist in eine zweite Phase: Statt in Schüben zu kommen, schreitet sie nun stetig voran. Über zwei Millionen Menschen weltweit leiden an Multipler Sklerose. Jeder zweite kann zehn Jahre nach der Diagnose nicht mehr arbeiten, braucht nach 15 Jahren eine Gehhilfe und kann nach 25 Jahren nicht mehr laufen.
Vor 35 Jahren hatte Richard Burt als angehender Arzt in einem Krankenhaus in Baltimore eine Idee, wie er die Krankheit besiegen könnte. Er sprach seinen damaligen Oberarzt an: „Die Chemotherapie legt das Immunsystem von Blutkrebs-Patienten lahm. Deshalb impfen wir sie nach der Behandlung gegen Mumps oder Röteln.“
Der Oberarzt beachtete ihn kaum.
„Wir könnten die Chemotherapie auch für Autoimmunerkrankte anwenden“, schob Burt nach. Sein Kalkül: Damit ließe sich das Immunsystem außer Gefecht setzen, das gegen den eigenen Körper arbeitet.
Nun bemerkte er, wie sein Gegenüber aufsah. „Wir sollten das für Multiple Sklerose versuchen!”, sagte sein Chef.
Zehn Jahre erprobte Burt daraufhin die Methode an Labormäusen – sie funktionierte. Dann wagte er sich um die Jahrtausendwende erstmals an Menschen. Aber gleich sein erster Patient sprach auf die Behandlung nicht an. Burt fand heraus, dass sie nur bei Patienten im ersten Stadium wirkt. Im 16. Stock eines Chicagoer Krankenhauses hat er mittlerweile eine ganze Station mit 40 Betten eingerichtet, nur für Patienten mit Autoimmunkrankheiten. Tausende hat er als Chef der Abteilung Immuntherapie für Autoimmunkrankheiten der Northwestern University bis heute mit der Methode behandelt, so viele Menschen wie kein anderer. Am häufigsten Patienten mit Multipler Sklerose. Über drei Viertel bleiben in den ersten vier Jahren nach der Behandlung ohne Rückfall, viele können wieder besser gehen und flüssiger sprechen. Kein MS-Medikament der Welt ist so durchschlagend. Und so billig: Bei MS-Patienten in den USA kostet die Behandlung jedes einzelnen Rückfalls 80.000 Dollar. Burts gesamte Therapie kostet 125.000 Dollar.
Auf dem Flur huscht Burts Sekretärin vorbei, mit Kalender in der Hand und Telefonclip am Ohr. Jeden Tag taktet sie für ihn durch. An der Wand hängt eine Collage, die die Tochter einer Patientin in der Schule gebastelt hat. Unter der Überschrift „Meine Helden“ hängt da ein Foto von Nelson Mandela, Stephen Hawkins – und von Doktor Burt. Er selbst vergleicht sich lieber mit den Wright-Brüdern, die Anfang des 20. Jahrhunderts mit den ersten Flugzeugen abhoben. Nicht nur, weil er selbst einmal Cessnas geflogen ist, als er noch so etwas wie ein Privatleben hatte. „Wir sind an der Spitze von etwas ganz Neuem“, sagt er. Die Ära der Stammzelltherapie für Immunkranke, sie breche gerade erst an.
Burts Therapie, falsch angewendet, kann Kranke töten
Stammzellen sind ein wahres Wunderwerk im Körper. Wie ein Ersatzteillager können sich aus diesen Ursprungszellen alle Zelltypen des Körpers bilden. Die Stammzellen im Knochenmark etwa, die neue Blutzellen produzieren, lassen sich dem Körper entnehmen, einfrieren, und nach einer Chemotherapie wieder zurück in den Körper geben. Mit ihrer Hilfe baut sich das Immunsystem dann schneller wieder auf. Burts Vision: Wer nicht auf Erstmedikamente anspricht, der bekommt in Zukunft umgehend seine Behandlung in Spezialzentren weltweit. „Sie hat das Potenzial, den meisten Menschen mit Multipler Sklerose zu helfen.“
Im Weg steht diesem Plan der Widerstand der Neurologen im ganzen Land. Sie entscheiden als erste Anlaufstelle über die Therapie. Und die Therapie von Burt ist zwar machtvoll, aber auch riskant. In den richtigen Händen kann sie Wunder bewirken, in den falschen kann sie Menschen töten.
Überzeugen will Burt seine Kritiker mit etwas, das Mediziner den „Goldstandard“ nennen: eine kontrollierte Studie an Patienten, die nach dem Zufallsprinzip auf zwei Gruppen verteilt werden. Die eine Hälfte bekommt die echte Therapie, die andere muss weiter MS-Medikamente schlucken oder spritzen. Erst dadurch zeigt sich, wie wirksam eine Therapie wirklich ist.
Solch eine Kontrollgruppe kann Ärzte aber in eine moralische Zwickmühle bringen: Denn wer in welcher Gruppe landet, entscheiden nicht sie – sondern ein Computerprogramm. Zwar hat Burt dafür gesorgt, dass Patienten nach einem Jahr die Gruppe wechseln können. Für schwere Fälle wie Taylor Lykins kann es dann aber zu spät sein. Sie könnte dann schon im Rollstuhl sitzen. Patienten wie Taylor kommen darum für die Studie nicht infrage.
In kurzer Zeit ist Taylor auf dem linken Auge blind
Rückblende. Am 9. Mai 2013 sitzt Taylor auf dem Beifahrersitz im weißen Toyota Prius ihres Vaters. Sie fahren zur Kostümprobe nach Chicago – sie hat eine Statistenrolle für einen Kinofilm ergattert. Taylor ist angespannt. Seit ihrer Kindheit liebt sie es, auf der Theaterbühne zu stehen, in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Auch wenn sie auf der Leinwand nur ein paar Sekunden zu sehen sein wird, will sie nun alles richtigmachen. Von ihrer Heimatstadt Champaign im Süden Chicagos fahren sie die Interstate 57 entlang, vorbei an Getreidefeldern, immer gegen die Sonne. Taylor versucht, sich auf ihr Buch zu konzentrieren, Sweet Evil von Wendy Higgins, eine Teenager-Romanze. Da passiert es.
Als habe sich eine Glasur übers linke Auge gezogen, sieht Taylor nur noch verschwommen. Hat sie zu lange in die Sonne geschaut? Ihre Sonnenbrille liegt zu Hause. Sie liest weiter, es wird schon wieder, sagt sie sich. Aber der Fleck auf ihren Augen wird immer größer.
Sie plaudert mit ihrem Dad, singt zur Musik im Radio. Sie will sich nichts anmerken lassen – am Ende würde er noch umdrehen.
Im Lagerhaus in Chicago wirbeln Filmangestellte herum. An Nähmaschinen und Kleiderständern vorbei weist man Taylor in eine Umkleidekabine. Als sie dort in Sandalen und Rock schlüpft, sieht sie auf dem linken Auge nur noch schwarz. Ihr wird klar, dass hier gerade etwas grundlegend falsch läuft. Sie versucht, es zu ignorieren. Erst als sie nach drei Stunden Rückfahrt mit ihren Eltern im Wohnzimmer sitzt, um die Sechs-Uhr-Nachrichten zu sehen, rückt sie mit der Sprache raus.
„Mom, ich glaube, ich werde gerade blind auf einem Auge.“
Ihre Mutter blickt sie ungläubig an. „Was meinst du damit, du wirst blind?“
„Ich kann nichts mehr sehen auf meinem linken Auge.“
Sie fahren in die Klinik.
48 Stunden später, Taylor und ihre Eltern sind wieder zu Hause, klingelt das Telefon. Das Krankenhaus ruft an. Taylor sitzt auf der Treppe und versucht, an den Stimmen ihrer Eltern zu hören, wie schlimm die Diagnose ist. Sie hat Angst vor einem Gehirntumor. In letzter Zeit sind seltsame Dinge passiert: Ständig war sie müde, fiel beim Turnen vom Schwebebalken, und ihre Zehen waren oft ganz taub, was ihre Mutter auf die Stöckelschuhe schob, mit denen Taylor trotz 18-Kilo-Rucksack sogar zur Schule trippelt.
Von unten aus dem Esszimmer hört sie ihren Vater. Seine Stimme bebt.
Taylor läuft die Treppe runter.
„Habe ich Krebs?“, fragt sie, als ihr Vater auflegt.
„Nein.“
Sie bricht in Freudentränen aus.
„Willst du nicht hören, was du hast?“
„Ist mir egal, es ist nicht Krebs!“
Ihre Eltern blicken sich ratlos an.
Die Kollegen setzen auf Wunderpillen, die es noch gar nicht gibt
März 2017, ein Vorort im Norden von Chicago. Die Kühlanlage surrt im Konferenzraum des Krankenhauses Evanston. Um einen Tisch herum sitzen zehn Männer und Frauen – nur wer genau hinschaut, kann erahnen, welches Schicksal sie vereint: Ein alter Mann am Stock wird von seiner Frau hereingeführt. Eine junge Frau mit kurzen, bereits graumelierten Haaren muss sich aus ihrer Funktionsjacke heraushelfen lassen. Eine ältere Frau haut mit der Faust auf ihren Oberschenkel, einmal, zweimal, dreimal.
Die MS-Selbsthilfegruppe hat einen Gast eingeladen: Daniel Wynn, einen Neurologen aus Nordchicago mit schütterem Haar und einem Anzug, der eine Nummer zu groß wirkt. Er greift sich einen Marker und unterteilt auf einer Tafel in krakliger Schrift die MS-Medikamente in Spritzen, Infusionen, Tabletten. Darunter listet er die 16 in den USA zugelassenen Medikamente auf, Namen wie Aubagio, Copaxone oder Lemtrada. „Entschuldigen Sie meine Sauklaue, ich kann sie nicht mal auf einen MS-Rückfall schieben“, versucht er, das Eis zu brechen. Dafür bekommt er nur vereinzelt ein müdes Lächeln. Aber als er die Namen der neuen Medikamente an die Tafel schreibt, die demnächst auf den Markt kommen werden, beugen sich die Teilnehmer nach vorne. „Wir sind nah dran an einer Heilung!“, sagt Wynn. Und in den Applaus hinein: „Lasst uns aus MS das nächste Polio machen!“
Auf Richard Burt angesprochen, zieht er sich rückwärtsgehend in den Winkel hinter der Tür zurück, er flüstert nun fast. Es sei nicht klar, wie lange die Therapie wirke, sagt Wynn, denn es werde ja nicht das ganze Immunsystem eliminiert. Außerdem sei das Sterberisiko zu hoch. Wynn sagt, er setze auf eine neue Generation von Medikamenten, die nicht einfach die Immunreaktion unterdrückten und so die Schutzfunktion des Körpers außer Kraft setzten, sondern zielgenau nur die fehlgeleiteten Immunzellen beseitigten. Was er nicht sagt: Noch gibt es solche Wunderpillen nicht, die die Krankheit aufhalten oder gar die angerichteten Schäden wieder rückgängig machen.
Cortison lässt Taylors Gesicht zu einem Mondgesicht anschwellen
Mai 2013, Taylor blickt auf den Schlauch mit der Kanüle in ihrem Arm. Kaum beginnt das Kortison in ihre Venen zu laufen, breitet sich ein metallischer Geschmack auf ihrer Zunge aus. Ihr Gesicht wird in den nächsten Tagen zum Mondgesicht anschwellen. Aber Hauptsache, sie kann wieder sehen. Sie weiß jetzt, dass sie MS hat. Nach einigen Tagen Kortison-Behandlung werden die Dinge um sie herum erst grau, dann erkennt sie langsam das weißgelbe Fell ihres Golden Retriever wieder.
Um Rückfälle zu verhindern, verschreibt ihr die Ärztin Copaxone, einen Immunblocker. Vor Spritzen hatte Taylor bisher eine regelrechte Phobie, jetzt muss sie sich selbst jeden Tag eine setzen. Die Überwindung ist ein kleiner Sieg. Aber Kopfschmerzen und Müdigkeit bleiben. Sie schläft 16 Stunden pro Nacht, hält tagsüber Nickerchen. Dazu sieht sie immer wieder doppelt, hat taube Arme und Beine; und diese Vergesslichkeit. Manchmal streckt Taylor die Hand aus und bittet ihre Mutter: „Kannst du bitte die … aufmachen?“ Nach Stunden fällt es ihr wieder ein: „die Tür!“
Am Frühstückstisch reicht ihr der Vater den Ausdruck einer Studie. Der Autor: ein gewisser Richard Burt. „Es gibt da etwas, was dich heilen kann“, sagt Todd Lykins, der als Tierarzt mit den medizinischen Begriffen vertraut ist. Taylors Mutter Gina, eine Krankenschwester, bezweifelt, dass die Therapie schon gut genug erforscht ist. Auch Taylors Neurologin rät ab.
Eines Tages beginnt die Welt zu schwanken, als stünde Taylor auf einem Lachskutter auf dem Lake Michigan. Sobald sie aufsteht, spürt sie, wie sich ihre innere Welt in die eine Richtung dreht, ihr Körper in die andere. Will sie in der Küche ein Glas Milch holen, muss sie sich an den Wänden entlang tasten.
Taylor bekommt Privatunterricht zu Hause. Ihre Freunde besuchen sie immer seltener – sie verstehen nicht, was ihr fehlt, denn sie schaut doch ganz normal aus! Taylor beantwortet ihre Textnachrichten nicht mehr, ihr wird schwindelig vom Tippen. Ihre Stöckelschuhe, an die 40 Paar, verstauen die Eltern in einer Plastikbox im Schuppen.
Ihr bleiben die Bücher. Es macht sie fröhlich, für ein paar Stunden in ihre Teenager-Fantasy-Romane abzutauchen. Aber irgendwann springen auch die Buchstaben herum wie auf einer holprigen Fahrt. Selbst singen will Taylor nicht mehr, weil eines der Medikamente die Töne in ihrem Kopf so auseinanderzieht, dass sie sich selbst lallen hört. Sie hat Angst, ist frustriert, weint.
MS hat ihr Leben ruiniert. Ich kann mich nicht mehr wie ein Mensch verhalten, denkt sie sich.
Ein Rollstuhl – er würde ihr Leben erleichtern. Aber sitzt sie erst mal drin, kommt sie vielleicht nie wieder raus. Sie will kämpfen. Aber sie weiß auch, dass sie sich an den Gedanken gewöhnen muss: Wahrscheinlich noch vor dem 25. Lebensjahr, so sagen es ihr die Ärzte, werde sie nicht mehr laufen können.
Eines Tages fragt sie ihren Vater: „Daddy, wenn ich einen Rollstuhl brauche … kann es ein pinkfarbener sein?“ Da fängt er an zu weinen.
Eine Behandlung für todkranke Patienten, an der sie sterben können
März 2017, Chicago. Über Nacht sind die Pfützen auf den Straßen gefroren, es ist klirrend kalt. Richard Burt hastet den Gehweg entlang, bis er an einer Kreuzung stehen bleibt. Er macht einen Satz über die Schneehaufen, knackt durch die Eisschicht und taucht mit seinen Turnschuhen ins Wasser. Er ist auf dem Weg zur Arbeit. Wie jeden Tag geht er zu Fuß. Sein Kosmos erstreckt sich im Umkreis von 300 Meter, eingerahmt vom Lake Michigan im Osten, dem Chicago River im Süden und der bekannten Einkaufsstraße Magnificent Mile im Westen. Seine Wohnung liegt nur einen Block entfernt vom Krankenhaus, das wiederum nur drei Blocks entfernt liegt vom Büro. So kann er jeden Tag und zu jeder Uhrzeit in die Klinik, wenn Blutwerte hochschnellen, Infekte ausbrechen oder Organe versagen.
Als Blut- und Krebsspezialisten aus aller Welt Mitte der neunziger Jahre mit der Kombination aus Chemotherapie und Stammzellen-Transplantation für Immunerkrankte begannen, starb im Schnitt noch jeder zehnte Patient, manche Studie musste abgebrochen werden. Heute können sie das Infektionsrisiko viel besser eindämmen – was bei vielen Neurologen aber noch nicht angekommen ist.
Selbst Burt hat Patienten verloren; nur eine Handvoll zwar, aber er ist nach solchen Tagen – was selten vorkommt – nicht zu sprechen. Von den Hunderten seiner MS-Patienten ist bisher keiner durch die Behandlung gestorben. Er wählt seine Patienten penibel aus, überwacht sie im Krankenhaus rund um die Uhr und dosiert die Chemotherapie niedrig. Das Risiko, sagt Burt, lässt sich aber nur eingrenzen, nicht ausschalten.
Darum der Widerstand der Neurologen. Sie seien nicht bereit, glaubt Burt, Patienten, die nicht unmittelbar vom Tod bedroht seien, einer Therapie zu unterziehen, durch die sie sterben könnten. Im Grunde ist das kein Streit um die beste Behandlungsform, sondern ein Streit um die Frage: Was ist Leben? Für Neurologen zählten in erster Linie Lebensjahre, sagt Burt. Für die Patienten aber Lebensqualität. Für viele MS-Kranke ist deshalb die Frage nicht, wie weit sie ihren Tod hinauszögern können, sondern wie sie ihr altes Leben zurückbekommen.
Mit einem MS-Medikament kann Taylor wieder am Leben teilnehmen
Winter 2013, Champaign. Nach sechs Monaten fährt Taylor wieder in die bollernde MRT-Röhre ein, die ihre Entzündungsherde im Gehirn misst. Sie werden als weiße Flecken abgebildet. Das Bild ist besprenkelt davon.
Eine Spezialistin für Multiple Sklerose verschreibt Taylor Tysabri, eines der wirksamsten MS-Medikamente, das schädliche Immunzellen daran hindern soll, ins Gehirn oder Rückenmark einzudringen. Auf die Therapie von Doktor Burt angesprochen, sagt die Neurologin: „Mach das nicht!“
Doch mit der monatlichen Infusion und einem Dutzend weiterer Medikamente gewinnt Taylor ein wenig die Kontrolle zurück. Aber das Schlingern bleibt, die Kopfschmerzen, die Vergesslichkeit. Manchmal erkennt Todd Lykins seine Tochter nicht wieder – sie scheint wie auf Drogen. Dieses Bild wird sich ihm einbrennen: Wie Taylor am Esstisch sitzt, den Mund aufreißt und auf die Tischplatte starrt.
Das neue Medikament ermöglicht es Taylor aber, wieder am Leben teilzunehmen. Sie geht jetzt aufs College. Die Uni schreibt vor, dass alle Studenten ins Wohnheim ziehen müssen. Taylor verschläft morgens ihre drei Wecker, die Mitbewohnerin rüttelt sie wach, auch in den Vorlesungen schläft sie ein. Setzen sich ihre Kommilitonen in der Pause draußen auf die Wiese, bleibt sie im Hörsaal. Denn ist ihr Körper nur wenige Minuten der Hitze ausgesetzt, passiert etwas Seltsames: Sie erblindet für eine Viertelstunde.
Aber es gibt auch kleine Erfolge: Sie geht wieder wie früher turnen, bewahrt die Haltung, wenn sie nach dem Radschlagen oder Überschlägen hinfällt. Ohne Tysabri, weiß sie, könnte sie überhaupt nicht hier sein. Allerdings kann das Medikament eine lebensgefährliche Virusinfektion im Gehirn begünstigen. Mit dem Risiko will sie nicht auf Dauer leben.
Eines Tages hört sie von einem Mädchen in ihrer Stadt, das sich der Therapie von Richard Burt unterzogen hat. Sie heißt Kelsey Kaiser. Taylor lädt sie zu sich ein, um mit ihr zu reden.
Endlich hat Taylor jemanden, der sie versteht. Als beide sich gegenseitig aufzählen, wie viele Smartphones ihnen zu Bruch gegangen sind, welche Wörter sie vergessen haben, da lacht Taylor ihr Glockenlachen. Es ist ein gutes Gefühl, dass sie nicht mehr allein ist. Sie sind wie Schwestern.
Symptome und Verlauf ihrer Krankheiten ähneln sich. Aber Kelsey macht einen völlig normalen Eindruck. Sie jobbt als Bedienung in einem Café und balanciert Tabletts mit Gläsern und Tellern darauf, ohne dass sie ihr runterfallen. Ihr geht es gut, denkt sich Taylor. So gut! Dann trifft Taylor eine Entscheidung.
Taylors Krankheit ist zu weit fortgeschritten
Am 11. August 2015, dem Tag, der Taylor wieder eine Zukunft geben könnte, betritt Richard Burt sein Sprechzimmer. Vor ihm sitzt die junge Frau in Sandalen. Er hat ihre Akte gelesen: Es geht ihr schlecht. Nach den Tests sieht er die fragenden Blicke von Taylor, Gina und Todd Lykins.
Er lässt sich in den Stuhl fallen und seufzt.
Es gibt dieses Bild, das ihm all die Jahre nicht mehr aus dem Kopf gegangen ist. Als angehender Arzt stand Burt eines Morgens am Bett einer jungen Patientin, 17 Jahre alt. Auch ihr ging es schlecht. Sie hatte eine autoimmune Bindegewebskrankheit: Ihr Immunsystem richtete sich gegen sie selbst und versteinerte ihre Haut und Organe. Neben ihr standen die Eltern, die abwechselnd zu Burt und zum Chefarzt blickten. Beide Ärzte hatten keine Lösung. Burt hat bis heute genau dieses Bild vor sich, das Bild von ihr in diesem Bett. Sie war hübsch, sie war jung, sie hatte das ganze Leben vor sich. Er hat sie dann nicht mehr gesehen; wahrscheinlich hat sie die nächsten Monate nicht überlebt.
Damals konnten sie nichts tun. Heute könnten sie es.
Burt beschließt, Taylor als Härtefall aufzunehmen. Außerhalb der Studie. Zu weit ist ihre Krankheit schon fortgeschritten.
Als Taylor das Wort Härtefall hört, weiß sie zuerst nicht, was er meint. Aber dann sieht sie, wie sich die Gesichtszüge ihrer Eltern aufhellen. Als sie den Raum verlassen, bricht es aus ihr heraus: „Hat er mich aufgenommen?“
„Ja“, sagt ihre Mutter. „Du kriegst die Therapie. Es wird schneller gehen als gewöhnlich.“
März 2016, 16. Stock des Womenʼs Prentice Hospital, Chicago. Um drei Uhr nachts kriecht Taylor auf allen vieren auf dem Laminat-Fußboden ihres Zimmers zum Bad. Vor 20 Minuten ist ihre Mutter gegangen, jetzt aber muss Taylor zur Toilette. Ihr Kopf schmerzt, und sie ist müde vom Chemo-Cocktail, der in ihren Körper gepumpt wurde, um ihre Stammzellen aus dem Knochenmark herauszulocken, so haben es ihr die Ärzte erklärt. Danach hat sie ein Mittel bekommen, das die Chemotherapeutika aus ihrem Körper schwemmt. Sie ist zu schwach zum Laufen. Sie darf jetzt nicht hinfallen und sich am Kopf verletzen – das hat ihr Doktor Burt eingetrichtert. Also kriecht sie in Richtung Badezimmer und zieht den Infusionsständer hinter sich her.
Am nächsten Morgen schneiden die Ärzte eine kleine Öffnung in ihren Hals und schieben Schläuche hinein. Sie spürt nur einen leichten Druck. Acht Stunden lang fließt ihr Blut in eine Maschine, die zwölf Millionen Stammzellen herausfiltert. In einem Beutel sammelt sich die rote Flüssigkeit, wie Tomatensaft, denkt sich Taylor. Den Beutel mit den Stammzellen deponieren die Ärzte in einer Tiefkühltruhe. Taylor soll die Zellen später zurückbekommen. Das übrig gebliebene Blut aber wird direkt in ihren Körper zurückgepumpt. In ihm tummeln sich die krankmachenden Immunzellen. Allerdings nicht mehr lange.
Die Zellteilungshemmer kommen aus Kaninchenblut
Für zwei Monate darf sie nach Hause, dann kommt Taylor wieder ins Krankenhaus, für die zweite Phase, die eigentliche Chemotherapie. Zellteilungshemmer und Antikörper aus dem Blut von Kaninchen, die gegen menschliche Immunzellen geimpft worden sind, beseitigen Taylors Immunsystem. Die Kopfschmerzen verschwinden, sie fühlt sich wacher. Nur ihren langen braunen Haaren trauert sie nach. Sie trägt ein Sweatshirt mit dem Aufdruck „MS hat sich mit dem falschen Mädchen angelegt!“.
Die Station, auf der Taylor liegt, ist mit einer zweifachen Tür verschlossen. In den nächsten zehn Tagen darf Taylor sie nicht verlassen. Von ihrem Fenster aus sieht sie zwischen den Hochhäusern den Lake Michigan schimmern, ein kleines Versprechen.
Immer morgens zwischen 6.30 Uhr und 7.30 Uhr betritt Doktor Burt mit seiner Mannschaft Taylors Zimmer, er kontrolliert die Werte, ordnet Blutplättchen-Infusionen an. Am Wochenende nimmt er sich auch mal 20 Minuten Zeit für jeden Patienten, steht am Fußende von Taylors Bett und spricht mit ihr. Taylor lässt sich mit Burt fotografieren, schmiegt ihren Glatzkopf, um den sie eine Schleife gebunden hat, an den Arzt. Burt strahlt wie ein stolzer Vater.
Am 16. Mai 2016 werden Taylors Stammzellen aufgetaut und über einen Schlauch zurück in ihren Körper gepumpt. Jeden Tag spaziert sie mit Kittel, Maske, Handschuhen und Infusionsständer durch die Krankenhausflure. Sollte die Geschichte gut ausgehen, beschließt Taylor, wird sie sich für eine Krankenschwestern-Schule anmelden. Sie hält Abstand zu den anderen Patienten und auch von deren Zimmern. Sie hat momentan kein Immunsystem.
Am 19. Mai 2016, drei Jahre und zehn Tage nachdem Taylor die Diagnose bekommen hat, erklärt ihr eine Krankenschwester: „Du kannst heute gehen.“
„Wie meinen Sie das, ich kann heute gehen?“, fragt Taylor.
„Du kannst heute gehen!“
Ihre Mutter hilft ihr aus dem Zimmer und die Treppen hinunter, aber als Taylor ganz allein aus der Drehtür des Krankenhauses tritt, merkt sie, dass ihre Füße sie geradeaus tragen.
28. März 2017, Marseille. Es ist der dritte Tag einer internationalen Konferenz in Frankreich zum Thema Blut- und Knochenmarks-Transplantationen. Die meisten der 5.000 Mediziner hier beschäftigen sich mit Blutkrebs. Wie Zaungäste müssen sich die Spezialisten für Autoimmunkrankheiten fühlen, die sich zu etwa hundert Mann in einem dunklen Saal einfinden. In der ersten Reihe sitzt Richard Burt. Er ist der eigentliche Star der Gruppe. Seine MS-Vergleichsstudie ist das Gesprächsthema auf den Fluren.
Der Moderator kündigt ihn als „den produktivsten Pionier“ in dem Feld an. Burt klopft sich auf seine Oberschenkel, die in einer Jeans stecken, und hastet mit seinen Nike-Turnschuhen zum Mikrofon. Er hat 20 Minuten für 20 Jahre seiner Arbeit. Er wolle nicht das Alte bekämpfen, sondern das Neue aufbauen, zitiert er Sokrates und beginnt seine Abrechnung mit den Neurologen, die an der Standardtherapie für MS festhalten. Die Wirkung sei limitiert, die Kosten seien hoch.
Ein systematischer Vergleich zwischen beiden Ansätzen hat bisher gefehlt. Nach sieben Jahren habe er seine randomisiert-kontrollierte MS-Studie fertiggestellt, verkündet Burt. Bis Ende des Jahres will er die Ergebnisse aufschreiben. Nach dem Vortrag sitzt Burt in der Frühlingssonne auf einem Betonquader vor dem Konferenzgebäude. Seine Frau wartet im Hotel, am nächsten Tag fliegt er weiter für einen Vortrag nach Delhi. Er ruht ein paar Minuten aus. Wann ist er zufrieden? Wenn die Studie geschrieben ist? Wenn der Therapie der Durchbruch gelingt? „Wenn ich sterbe“, sagt Burt. „Das Ganze endet erst, wenn ich sterbe.“
„Was, wenn die Krankheit zurückkehrt?”
An einem Frühlingstag 2017 steuert Taylor ihren Toyota durch Champaign, die Kleinstadt wirkt so sauber und leer wie eine Filmkulisse. Langsam realisiert sie, was für ein Gewicht von ihren Schultern gefallen ist. Sie braucht keines ihrer zwölf Medikamente mehr, die ihr den Tag diktierten. Sie ist eine normale 21-Jährige.
In den ersten Wochen musste sie noch vorsichtig sein, ihr Immunsystem baute sich erst langsam auf. Hätten sich Viren oder Pilze in ihrem Körper ausgebreitet, wäre er machtlos gewesen. Also wischte ihre Großmutter täglich den Esstisch mit Desinfektions-Tüchern ab, die Stuhllehnen, den Griff des Kühlschranks, selbst die Milchkartons. Taylors Kraft kam zurück, nach vier Monaten auch ihr Haar, sie ließ sich eine kurze Strubbelfrisur wachsen, die ihre Freunde süß finden.
Taylor fährt am Campus vorbei und sieht die Turnhalle. Als sie nach Monaten zu ihrem ersten Handstand ausholte, war sie unsicher, aber als sie ihn schaffte, war sie stolz. Viermal die Woche geht sie mittlerweile wieder zum Training, jedes zweite Wochenende ist Wettkampf. Sie hat drei Jobs. Und sie trifft sich mit einem Jungen. Fast unwirklich erscheint es ihr im Rückblick, MS gehabt zu haben. Wie ein Alptraum.
Manchmal aber kommt ihr doch dieser Gedanke: Was, wenn die Krankheit zurückkehrt?
Abwehrzellen verhalten sich so ähnlich wie Menschen
Die Frage beschäftigt auch Mediziner. Manche sagen, es sei nur eine Frage der Zeit, bis die Multiple Sklerose wieder auftauche. Für Richard Burt ist das Spekulation. Nach seiner Theorie reicht es aus, das Immunsystem in ein neues Gleichgewicht zu bringen. Abwehrzellen, so sieht Burt das, verhalten sich gar nicht so anders als wir Menschen: Sie sind ungern allein und formen sich zu Gruppen. Manchmal aber stimmt die Kommunikation nicht mehr, und sie nimmt krankhafte Züge an, obwohl jeder Einzelne in der Gruppe ganz normal ist. Dann braucht es eine neue Umgebung – im Falle der Zellen den Neustart des Immunsystems. Auf einmal hören die fehlgeleiteten Abwehrzellen auf, den eigenen Körper anzugreifen. Sie haben schlicht vergessen, warum sie das tun sollten. Sie versuchen, Unbekannte erst einmal zu tolerieren. Ein paar Ausreißer gibt es nach wie vor, aber nun können die regulierenden Abwehrzellen sie wieder in Schach halten.
Burt glaubt, dass die meisten seiner Patienten von Rückfällen verschont bleiben, und wenn nicht, dass in diesen Fällen zumindest wieder die Medikamente anschlagen. So sei das zumindest mit seinen ältesten Patienten gewesen, die er vor 15 Jahren behandelt habe. Was aber nach 20, 30 oder 40 Jahren passiert, weiß auch Burt nicht. Mit der Ungewissheit müssen seine Patienten leben. Sie sind Pioniere.
Zum Anfang des Semesters gab Taylors Turnklub eine kleine Fete. Als sie sich an diesem warmen Sommerabend zurechtmachte, kam ihr eine Idee. Sie öffnete den Schrank in ihrem Zimmer und griff das erste Mal wieder nach ihren Stöckelschuhen.
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