Nächstes Level: Reales Leben
Leben und Lieben

Nächstes Level: Reales Leben

Ihr kennt Alkoholsucht, ihr kennt Drogensucht – aber es gibt auch Menschen, für die Computerspiele ein Rauschmittel sind. Wie kann man ihnen helfen? Ich bin nach Dortmund gefahren, um es herauszufinden.

Profilbild von Reportage von Steve Przybilla, Dortmund

Irgendwann ging es einfach nicht mehr. Der Schlafmangel. Die Müdigkeit. Die soziale Isolation. Joe* merkte damals selbst, dass er eine unsichtbare Grenze überschritten hatte. Während seine Klassenkameraden längst im Bett lagen, zog der 16-Jährige in den Kampf. Nacht für Nacht tauchte er ein in seine eigene Welt, das Online-Spiel „League of Legends“, und auch tagsüber zockte er fünf, sechs, sieben Stunden am Stück. Schule, Freunde, andere Hobbys – alles egal. Hauptsache, das Internet funktionierte.

Seine Eltern, beide berufstätig, merkten lange Zeit nichts. Joe brachte keine dubiosen Freunde mit nach Hause, er kiffte nicht oder torkelte betrunken durch die Gassen seiner Heimatstadt. Nein, er war ruhig, organisiert und pünktlich zu Hause. Genauer gesagt: fast immer zu Hause. Zur Schule ging er nur noch selten. „Wie auch?“, sagt Joe. „Mein Schlaf-Rhythmus war ja total gestört.“

Joe spielte meist „League of Legends“, ein Online-Game, mit Millionen von Mitspielern in aller Welt. Es geht darum, andere Spieler und Monster zu bekämpfen. Doch je mehr Monster Joe am Bildschirm besiegte, desto stärker wurden seine persönlichen Dämonen: Das Spiel hörte einfach nicht auf. Kaum war ein Gegner besiegt, ging irgendwo in der Welt der nächste online. Noch ein Sieg, noch ein Erfolgserlebnis, noch eine virtuelle Belohnung – wann macht man da Schluss? „Wenn ich nicht gespielt habe, habe ich mich Scheiße gefühlt“, sagt Joe. „Um mich gut zu fühlen, bin ich wieder an den PC.“

Wenn Joe heute an diese Zeit zurückdenkt, wirkt sie für ihn weit weg. Er hat sich seit Monaten nicht mehr bei „League of Legends“ eingeloggt. Denn als er und seine Eltern nicht mehr weiterwussten, suchten sie professionelle Hilfe.

Wer ein Zimmer will, muss auf die Warteliste

Seit Anfang des Jahres lebt Joe nun in einer anderen Stadt, in Deutschlands erstem betreutem Wohnheim für junge Menschen, die schwerwiegende Probleme mit ihrem Medienkonsum haben: die von den Malteser Werken in Dortmund betriebene Therapieeinrichtung „Auxilium Reloaded“. Die 14 Zimmer, in denen die 14- bis 25-jährigen Patienten wohnen, sind so begehrt, dass es eine Warteliste gibt. Die Anfragen kommen aus ganz Deutschland, von Jugendämtern, Therapeuten, Eltern – und auch von Betroffenen selbst, die ihr Problem erkennen, es aber alleine nicht in den Griff bekommen.

Das sollen sie hier in Aplerbeck, einem Stadtbezirk in Dortmunds Südosten, in dem nichts wirklich auffällig ist. Einfamilienhäuser und kleine Siedlungen dominieren, dahinter Felder und der Flughafen, ein Supermarkt ist um die Ecke, die nächste U-Bahn-Station zu Fuß zehn Minuten entfernt. Die große Party steigt hier nicht, nur alle paar Minuten donnert ein Flugzeug über das Viertel hinweg. Das in einem weiß-grau-orange gestrichenen Neubau beheimatete Auxilium (Lateinisch: „Hilfe“) versucht den Spagat: nicht zu weit weg vom Rest der Stadt und gleichzeitig abgelegen genug, damit die jungen Bewohner zur Ruhe kommen.

Der Leiter des Wohnheims kommt aus der Drogentherapie

Patrick Portmann leitet das Wohnheim, seit es 2015 offiziell eröffnet wurde. Mit seinem Dreitagebart, dem karierten Hemd und der Brille sieht der 44 Jahre alte Sozialarbeiter ein bisschen aus wie Jürgen Klopp – was ja ganz gut zu Dortmund passt. Bevor Portmann hierherkam, kümmerte er sich zehn Jahre lang um junge Drogenkonsumenten, die zusätzlich unter psychischen Erkrankungen litten. Der Vergleich liegt für ihn nahe: „Egal ob man Drogen nimmt oder nur noch vorm Computer hängt, irgendwann findet keine Teilhabe am normalen Leben mehr statt“, sagt er, sieht aber auch einen deutlichen Unterschied. „Wer sich in der virtuellen Welt verliert, lebt tendenziell eher zurückgezogen. Wer Drogen konsumiert, kann sich das nicht leisten – man muss ja schließlich zum Dealer gehen.“

Im Auxilium steht der „Stoff“ im Keller. In einem Übungsraum mit Computern können die Bewohner zu therapeutischen Zwecken über ihre Lieblingsspiele sprechen und diese ihren Mitbewohnern auch gleich vorführen. Schließlich sollen sich die jungen Patienten ganz direkt mit ihren Problemen auseinandersetzen, mit den Versuchungen, Anreizen und Mechanismen von PC-Spielen. Und das in einer kontrollierten Umgebung. „Wir predigen keine totale Abstinenz“, erklärt Portmann, denn die sei in der digitalen Gesellschaft einfach unrealistisch. „Das ist nicht wie beim Alkohol, den man weglassen kann. In der Arbeitswelt gehört das Internet nun mal dazu, genau wie ein Smartphone.“ Also kein Totalverzicht, sondern ein gesundes Maß.

Patrick Portmann

Patrick Portmann Foto: Steve Przybilla

Und das klappt – paradoxerweise – zunächst mit der vollen Dröhnung. „Wenn unsere Bewohner hier ankommen, dürfen sie die ersten zwei Wochen von 14.30 bis 22.30 Uhr ihre Handys benutzen“, sagt Portmann. In dieser Monitoring-Zeit schauen sich die Betreuer ihre Neuzugänge genau an: Welche Spiele spielen sie am liebsten? Mit welchen Helden identifizieren sie sich? Gucken sie stundenlang Youtube-Videos oder suchen sie auch mal den Kontakt zu anderen Leuten?

Der radikale Schnitt passiert nach zwei Wochen

Nach der Monitoring-Phase kommt der radikale Schnitt: nur noch eine Stunde Mediennutzung pro Tag. Statt nächtelang zu zocken, sollen die Jugendlichen ein Gegengewicht zur virtuellen Welt finden, wie Portmann das nennt. Ausflüge ins Kino. Krafttraining im Keller. Basteln in der Fahrrad-Werkstatt. Zwischendurch gemeinsam kochen. Ein ganz normaler Alltag also, den die Bewohner des „Auxilium Reloaded“ schlichtweg verlernt haben.

Der 21-Jährige zum Beispiel, der seinen Ausbildungsplatz verlor, weil er nach dem nächtelangen Zocken immer zu spät kam. Der 17-Jährige, der kaum noch zur Schule ging, weil seine Hände am Playstation-Controller festklebten. Die Mutter – alleinerziehend und berufstätig – merkte lange nichts. Denn immer, wenn es wirklich brenzlig wurde, ließ sich der junge Mann im Klassenraum blicken. Oder eben Joe, der als 14-Jähriger schon mehr Zeit vor dem Bildschirm als sonst irgendwo verbrachte und schließlich die Schule für sein Spiel weitestgehend aufgab.

„Wir sind immer wieder überrascht, wie jemand so lange fehlen kann, ohne dass etwas passiert“, sagt Portmann. Die Betroffenen seien erfinderisch, um die Situation zu verschleiern. Da werden Elternbriefe abgefangen, ausgefallene Schulstunden vorgetäuscht oder kranke Lehrer vorgeschoben. „Die Eltern vertrauen ihren Kindern“, sagt er. „Sie haben ja auch erst mal keinen Grund, an ihnen zu zweifeln.“

Es ist noch längst nicht geklärt, ob es so etwas wie Online-Sucht, Smartphone-Sucht oder Computerspiele-Sucht überhaupt gibt. Als eigenständige Krankheit sind sie bisher jedenfalls nicht anerkannt, es fehlen Definitionen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO und die American Psychological Association ringen um Formulierungen – von der „Internet Gaming Disorder“ bis zu „gaming disorder, predominantly online“. Und ab wann ist digitaler Medienkonsum eigentlich nicht mehr im Rahmen? Wenn man nach der Schule sofort die Playstation hochfährt? Wenn man alle zwei Minuten seinen Instagram-Account checkt? Oder erst dann, wenn es neben der Online-Welt kein reales Leben mehr gibt?

Auf der anderen Seite gibt es ganz offensichtlich Menschen, die entsprechende Probleme haben und Hilfe brauchen. Die Uniklinik Bochum etwa betreibt seit einigen Jahren eine „Medienambulanz“, die Uniklinik Mainz eine „Ambulanz für Spielsucht“. Auch viele Suchtkliniken betreuen Menschen, die mit ihrem Spielkonsum nicht mehr klarkommen. Doch wenige sind so spezialisiert wie das „Auxilium Reloaded“ in Dortmund, und nirgendwo sonst können Jugendliche bis zu 20 Monate dauerhaft wohnen. Doch weil die Definition des Krankheitsbildes so schwammig ist, diagnostizieren Therapeuten meist Leiden, die oft mit dem ungewöhnlichen Mediennutzungsverhalten einhergehen: Depressionen, Ängste, Impulskontrollstörungen. So werden Wohn- und Therapiekosten von Krankenkassen und Jugendämtern erstattet.

Wenn eine Anfrage an das Auxilium auf seinem Schreibtisch landet, sagt das Patrick Portmann zunächst nicht viel. Um wirklich zu erfahren, ob jemand in die Wohngemeinschaft passt, muss der Interessent vorbeikommen, meist in Begleitung der Eltern oder eines Jugendamtvertreters. Portmann führt die jungen Interessenten dann herum, zeigt ihnen die Gemeinschaftsküche, den Kraftraum und den künftigen Garten, der momentan noch aus einer Schutthalde besteht. Und die spartanisch eingerichteten Zimmer: Bett, Schrank, Tisch, Regal. Kein WLAN. Kein Fernseher. Das Wohnheim ist ein Zuhause auf Zeit, in dem nicht mehr der Computer, sondern das Zwischenmenschliche im Mittelpunkt steht.

Der neue Alltag: Putzen, Aufräumen, Therapie und Ausbildung

Für Joe war das anfangs alles nicht leicht. „Ich musste mich erst mal in die Pflichten hineinfinden“, sagt er. Bad putzen. Küche putzen. Zimmer aufräumen. Regelmäßig zur Gruppentherapie gehen. Neue Hobbys finden. Er hat viel ausprobiert in den vergangenen Wochen: Sportvereine, Schach spielen und jetzt die Politik – auf seinem gelben Kapuzenpulli steht „Freiheitskämpfer“, ein Slogan der FDP. „Schade, dass wir mit 16 noch kein Wahlrecht ausüben können“, meint Joe und klingt plötzlich sehr erwachsen.

Tagsüber ist in den Gemeinschaftsräumen eher wenig los, und das ist ein gutes Zeichen. Es bedeutet, dass die Bewohner zur Schule, zur Ausbildung oder zu ihrem Praktikum gehen. Erst am Nachmittag kommt Leben in die Bude. Dann versammeln sich die jungen Männer in der Küche, spielen Tischtennis oder waschen ihre Wäsche. Auch Joe hat an seiner neuen Schule schnell Anschluss gefunden. Nach dem Unterricht geht er regelmäßig zu Freunden nach Hause, wo dann die große Versuchung wartet. Denn die meisten seiner neuen Bekannten wissen nichts von seiner Vorgeschichte und zocken, wie in diesem Alter üblich, gerne in der Freizeit. Doch Joe hat gelernt, Nein zu sagen, besonders bei Spielen, die seinem „Suchtmuster“ entsprechen.

Nach fünf Monaten hat Joe noch Angst vor einem Rückfall

Aus Sicht seiner Betreuer befindet sich Joe nach fünf Monaten auf einem guten Weg. In diesem Stadium dürfte er 30 Minuten in der „Black Box“ zocken, einem sonst verschlossenen Medienraum im Dachgeschoss des Wohnheims. Doch Joe zögert. „Ich hab das Gefühl, dass ich noch warten kann. Ich will keinen Rückfall erleben.“ Er weiß, dass er schon weit gekommen ist, aber trotzdem noch aufpassen muss. Als er das letzte Mal seine Eltern besucht hat, kam es zu einem Streit. Worum es dabei ging, erzählt Joe nicht, nur dass er ziemlich frustriert war. „Danach bin ich deutlich zu lange ans Handy gegangen. Ich hab selbst gemerkt, dass das nicht gut war.“

Wie es langfristig weitergeht, weiß Joe noch nicht. Nur, dass er am Ende wieder draußen klarkommen will. „Ich bin mit einem klaren Ziel hierhergekommen, und das ziehe ich auch durch“, sagt er entschlossen. Wenn alles klappt, kann er in einigen Monaten das Wohnheim verlassen – als Jugendlicher, der vielleicht immer noch spielt, aber den Controller auch wieder zur Seite legen kann.

Mit seinen Mitbewohnern im „Auxilium Reloaded“ zockt er übrigens nach wie vor sehr gerne: „Die Siedler von Catan“ – ein Brettspiel, ganz ohne Bildschirm, Tastatur und Internetzugang.


Joe heißt eigentlich anders. Er wurde für diese Geschichte anonymisiert.

Alexander von Streit hat beim Erarbeiten des Textes geholfen; Vera Fröhlich hat ihn gegengelesen; das Aufmacherbild hat Martin Gommel ausgesucht (istock / Matjaz Slanic)