Brauchst du wirklich eine wahre Leidenschaft, um glücklich zu sein?

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Leben und Lieben

Brauchst du wirklich eine wahre Leidenschaft, um glücklich zu sein?

Die einen widmen ihr Leben einer einzigen Passion. Die anderen begeistern sich für viele Dinge gleichzeitig. KR-Leser Lars möchte wissen, ob es normal ist, ewig nach seiner Leidenschaft zu suchen.

Profilbild von Kolumne von Susan Mücke

Herbert, der Vater meiner Schulfreundin, hütete im Keller des Einfamilienhauses einen großen Schatz: seine über Jahrzehnte zusammengetragenen Zuckertütchen und Gläser mit Sand aus aller Welt. Die Sammlungen nahmen weite Teile des Kellergewölbes ein und waren für den Rest der Familie tabu. Von jeder Reise brachte Herbert eine Trophäe mit. Fast hätte er es in die Sendung „Außenseiter – Spitzenreiter“ geschafft, die Menschen mit außergewöhnlichen Leidenschaften porträtiert und die ich als Kind manchmal bei meinen Großeltern schaute.

Ich saß dann jedes Mal mit einer Mischung aus Faszination und Abwehr vor dem Fernsehgerät und betrachtete all die Bierdeckelsammler, Modelleisenbahner und Hobby-Insektenforscher, die ihre ganze Freizeit ihrer Passion widmeten. Sie hatten ein Hobby gefunden, dem sie sich hundertprozentig widmeten, auch wenn ihre Ehepartner häufig kopfschüttelnd danebenstanden. Daran musste ich denken, als ich die Frage von KR-Leser Lars las: „Ich bin ewig auf der Suche nach meiner Passion, meiner Leidenschaft – ist das normal?“

Als ich meiner Freundin von der neuen „Bin ich normal?“-Kolumne erzählte, erwiderte sie sofort: „Das ist doch genau mein Thema. Ich suche auch noch nach meinem Platz im Leben.“ Ich stutzte, denn liegen nicht zwischen leidenschaftlichen Sammlern und Lebenssinnsuchern Welten? Womöglich nicht. Letztlich geht es beiden um ein erfülltes Leben.

Die Suche nach einer Passion kann auch zermürben

Ich habe zunächst euch, liebe Leser, gefragt, wie ihr es damit haltet. Eure Antworten erzählen großartige Geschichten und bilden die ganze Palette dessen ab, was man unter einer Passion verstehen kann: Sie hinterfragen, ob es überhaupt die eine, eigene Leidenschaft gibt, wenn ja, ob sie unter- oder überschätzt wird und wie sie eigentlich aussehen kann. Sie zeigen, wie ein einfaches Hobby eine Passion sein kann, aber auch ein Ehrenamt, ein Beruf oder die Familie.

Wie ein Leben ohne Leidenschaft aber als genauso erfüllend erlebt wird, schreibt etwa KR-Leserin Karina: „Ich suche nicht nach einer Passion. Es gibt Dinge, die ich gerne mache, aber das sind viele, und ich will mich nicht auf eine Sache festlegen.“

Und wie manchmal die Suche danach zermürbt, so wie Laura-Marie: „Ich bin jetzt 22 Jahre alt und suche schon seit dem Ende meiner Schulzeit nach meiner Passion. Erst sollte das Freiwillige Soziale Jahr mir Klarheit verschaffen. Nun das Medizinstudium, in dem ich jetzt im vierten Jahr stecke. Hat aber beides nicht funktioniert. Ich weiß, dass viel Können und Energie in mir steckt und ich will die eine Sache finden, die in mir die vollen Ressourcen weckt. Ich will mich nicht immer mehr oder minder zu Dingen treiben oder zwingen müssen.“

Für viele von euch aber ist genau das der richtige Weg: Dinge einfach zu tun, zufällig auszuprobieren, und dann manchmal ohne Absicht eine Leidenschaft dafür zu entdecken. Anna zum Beispiel hat ihr Leben lang Handarbeiten und Nähen gehasst, bis sie plötzlich anfing zu sticken. Sie schreibt: „Jetzt ist das Sticken eine Sucht. Jeden Abend, zum Runterkommen. Ich plane ständig neue Projekte: Wandbilder (die ich nie aufhänge), Deckchen, Küchenhandtücher. Alles völlig sinnfrei, denn das braucht keiner. Ich erzähle wenigen, dass ich Kreuzstich faszinierend finde. Sticken ist völlig uncool, ein bisschen schäme ich mich für diese Leidenschaft, die zu meinem Selbstbild so überhaupt nicht passt.“

Oder Matthias. Für ihn ist Brotbacken „mit Sauerteig beziehungsweise langer Teigführung mit ganz wenig Hefe“ eine „fantastische Art zum Runterkommen“ geworden. Oder Kristin. Für sie wurde aus ihrem Hobby Schwimmen mehr: „Ich habe meine Passion in der DLRG (Deutsche Lebensrettungsgesellschaft) gefunden. Ich hatte eine sehr schlechte Zeit in meinem Leben. Schwimmen allein hat nicht mehr die Wirkung gehabt, dass ich meine Probleme für eine kurze Zeit vergessen konnte. Durch Zufall habe ich an einer vereinsinternen Veranstaltung teilnehmen können. Ich habe mich dort sofort wohlgefühlt und wurde von allen behandelt, als wäre ich schon Jahre dabei. Damit ging es wieder bergauf, und ich habe mir das zum Vorbild genommen. Heute versuche ich alles, um Leben zu retten, sei es im und am Wasser oder im Verein, wenn ich merke, dass es jemandem schlecht geht.“

Allen drei ist gemeinsam, dass sie nicht nach der eigenen Passion gesucht, sondern sie nebenbei entdeckt haben. All das ist schwer in Zahlen auszudrücken. Ich habe mich dennoch auf die Suche nach Daten und Statistiken gemacht.

Hobbys sind uns lieb und teuer, Faulenzen und Nichtstun haben ausgedient

Die Deutschen lieben ihre Hobbys. Sie geben im Monat pro Haushalt durchschnittlich 248 Euro für Freizeit, Unterhaltung und Kultur aus (2006 waren es noch 233 Euro). Das sind zehn Prozent ihrer gesamten privaten Konsumausgaben.

Im Jahr 1981 hat die Stiftung für Zukunftsfragen erstmalig das Freizeitverhalten der Deutschen untersucht. Damals belegten Zeitung lesen, Handarbeiten und Gartenarbeit die ersten drei Plätze im Ranking der häufigsten Freizeitaktivitäten. Gut zwei Drittel gaben an, regelmäßig in die drei Programme der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten zu schauen, womit der Fernsehkonsum den vierten Platz belegte. Heute steht er zwar an erster Stelle, dicht gefolgt von Radiohören, Telefonieren und Internet. Aber andere Hobbys werden populärer, wie zum Beispiel die Gartenarbeit. Womöglich haben der Bio-Trend und Nachbarschaftsgärten dafür gesorgt, dass sich wieder mehr Menschen über selbst angebaute Tomaten, Kräuter und Blumen freuen.

Die bundesweit immerhin 90.240 Sportvereine verzeichnen fast 24 Millionen Mitglieder. Die beliebtesten sind die Fußballvereine, aber auch Triathlon (54.848 Mitglieder), Billard (28.419) und Sportakrobatik (13.968) erfreuen sich einiger Popularität.

Mit Freunden Kaffee zu trinken, sich zu Hause zu treffen oder einen Einkaufsbummel zu unternehmen, haben hingegen abgenommen. Interessant, was Ihr, liebe Krautreporter-Leser, für Leidenschaften habt. Thomas etwa macht seit 16 Jahren Karate, Annette Stepptanz. Claudia illustriert Nixen und Fische mit nekrophilem Touch und Sabine fliegt Motorsegler, was ihren Blick auf die Welt und ihr Selbstbewusstsein verändert hat.

Frauen haben täglich eine halbe Stunde weniger Freizeit als Männer

Rund 40 Prozent der Deutschen engagieren sich zudem ehrenamtlich, wenn man Chorsingen und Theatergruppen hinzuzählt. Einer von ihnen ist KR-Leser Nils, der schreibt: „Ich hätte mir das früher kaum vorstellen können, einmal so viel mit Musik zu machen, aber irgendwann bin ich als Anfänger in einem kleinen Chor gelandet und habe seitdem einfach nicht mehr aufgehört. Heute sitze ich mehrere Tage in der Woche abends mit anderen zusammen, und wir üben für Konzerte oder singen, einfach weil es uns Spaß macht und wir eine fantastische Gemeinschaft haben.“

Männer sind laut Statistischem Bundesamt eher im Sport aktiv, während Frauen öfter in Schulen und Kindergärten helfen oder sich im sozialen Bereich engagieren. Die Hälfte der Freiwilligen bringt dafür sechs und mehr Stunden im Monat auf. Wobei Männer täglich eine halbe Stunde mehr Freizeit haben als Frauen. Frauen arbeiten heute etwa 16 Stunden und damit fast drei Stunden mehr pro Woche als noch vor elf Jahren. Gleichzeitig haben ihre unbezahlten Tätigkeiten, wie Angehörige betreuen und den Haushalt führen, nicht in gleichem Maße abgenommen. Sie arbeiten insgesamt mehr als Männer und haben weniger Freizeit.

In jedem Menschen stecken vielfältige Interessen

Unser Interesse an bestimmten Themen ändert sich alle fünf bis zehn Jahre. Warum also sollte nur eine einzige Passion in uns schlummern, wenn es doch viele Möglichkeiten gibt, sich auszuprobieren und neue Facetten in und um sich zu entdecken. So wie KR-Leserin Elisa, die immer wieder neue Hobbys findet, die sie „zumindest eine Weile lang völlig begeistern“ und ihre Zeit „komplett ausfüllen“. Sie schreibt: „Es passiert mir auch, dass diese große Leidenschaft und Begeisterung wieder nachlassen und dann etwas Neues an diese Stelle tritt. Es ist ein bisschen wie die Suche nach der großen, einzig wahren Liebe, die man ja meist auch nicht wirklich findet. Aber die Suche danach ist ein ständiger Antrieb.“

Vielmehr kann die ausschließliche Konzentration auf die Suche sogar kontraproduktiv sein. Denn wenn man sich vornimmt, die eine Leidenschaft zu finden, schränkt man die eigenen Möglichkeiten erheblich ein, bremst sich aus bis hin zur Erstarrung. Es ist dann ungleich schwerer, seinen eigenen Weg zu finden. Besonders, wenn man letztlich doch immer wieder vor dem Problem steht: Was, wenn diese Sache doch nicht meine größte Leidenschaft ist? KR-Leserin Katharina hält es deshalb so mit der Passion: „Ich nehme es, wie es kommt und mache das Beste aus dem, was das Leben mir vor die Füße spült.“

Ich finde, das klingt ziemlich überzeugend. Lieber Lars, ich kann Deine Frage nur indirekt beantworten. Ich persönlich bin überzeugt davon, dass in jedem Menschen eine Vielzahl Talente und Interessen schlummern, die sich je nach Lebensphase und Situation ändern. Wenn man eines oder mehrere davon ergreifen kann, hat man doch schon ein großes Stück Lebensglück gefunden. Mir gefällt der Gedanke von Thomas, deshalb stelle ich ihn an den Schluss: „Viele Leute versäumen das kleine Glück, während sie auf das große Glück vergeblich warten.“


Den Text gegengelesen hat Vera Fröhlich; das Aufmacherbild hat Martin Gommel ausgesucht (istock/shevtsovy)