„Ich habe erst zu Hause geweint“
Leben und Lieben

„Ich habe erst zu Hause geweint“

Anna, 30, hat anderthalb Jahre lang in einer Notunterkunft für Geflüchtete in Berlin gearbeitet. So lange, bis sie nicht mehr konnte. In meiner Kolumne „Was ich wirklich denke“ erzählt sie mir, warum sie trotzdem gerne als Heimleiterin arbeiten würde.

Profilbild von Protokoll von Theresa Bäuerlein

Als mein Chef in der Notunterkunft sagte, dass er seinen Vertrag nicht mehr verlängern würde, wusste ich, was der Grund war: Er konnte die miserablen Bedingungen nicht mehr ertragen, die die Bewohner in der Unterkunft aushalten mussten. Die Toiletten, die ständig kaputt waren, das Geld, das hinten und vorne nicht gereicht hat, und eine Geschäftsführung, die ein Interesse daran hat, dass es sauber aussieht, aber nicht daran, dass die Leute sich zu Hause fühlen konnten. Mir ging es nach anderthalb Jahren ähnlich wie meinem Chef. Als er ging, wurde mir klar, dass ich auch wegmusste.

Sozialarbeit, bei der man sich direkt und persönlich um Menschen kümmert, wollte ich eigentlich nie machen. Weil mir das sehr nahegeht. Aber als immer mehr Flüchtlinge kamen und mich das Rote Kreuz im August 2015 gefragt hat, ob ich helfen könnte, eine Notunterkunft für Flüchtlinge aufzubauen, habe ich zugesagt. Es ging um ein Staats-Gelände, weit draußen. Dort bin ich also hingefahren. Es gab dort drei Gebäude, die wir benutzen konnten. Ich habe sofort Aufgaben übernommen, habe Zimmer und Menschen gezählt und Spenden sortiert.

Viele Helfer, aber keine Zahnbürsten und Windeln

Zum Glück gab es großartige Freiwillige aus der Umgebung. Das waren Menschen, die sich eigentlich nur ein, zwei Tage engagieren wollten – und die dann bei ihrem Arbeitgeber anriefen, um sich Urlaub zu nehmen, weil klar war, wie sehr sie in der entstehenden Flüchtlingsunterkunft gebraucht wurden. Von August bis Dezember 2015 haben viele Helfer und ich praktisch in der Notunterkunft gewohnt. Ein Privatleben hatten wir in dieser Zeit kaum.

Am Anfang war von allem viel zu wenig da. Es gab keine Zahnbürsten, keine Windeln und viel zu wenig Matratzen. Täglich kamen Busse mit hunderten Menschen an. Bis vier, fünf Uhr morgens waren wir damit beschäftigt, sie aufzunehmen. In den Zimmern gab es nur Matratzen, keine Tische, Stühle oder Kühlschränke, aber die Ankommenden waren froh, überhaupt irgendetwas zu haben. Ganze Familien kamen mit dehydrierten Kindern mit Bussen angefahren.

Die Kinder musste man in die Zimmer tragen und die Eltern fast auch schon. Es dauerte Tage, bis sie sich wieder vor die Tür wagten. Dann zeigten sich Männer, die zerrissene Kleidung trugen, als wären sie wochenlang im Dschungel gewesen. Geduckte Frauen, die mit Kopftüchern verhüllt waren. Das waren so krass kaputte, verschüchterte Menschen, die sonst als Lehrer und Ärzte gearbeitet hatten. Irgendwann haben sie angefangen, zu lächeln und mit uns zu reden.

Ich kann mir nicht vorstellen, dauerhaft so zu leben

Ich habe mich oft mit der Heimleitung gestritten, weil ich nicht in Ordnung fand, wie vieles lief. Manche haben grundsätzlich in einem barschen Lagerton mit den Flüchtlingen geredet: „Du kommst hier nicht rein!“, „Das kannst du vergessen! Geh weg!“ Ich habe mitgefühlt, weil ich mir nicht vorstellen konnte, so leben zu müssen wie die Menschen, um die ich mich gekümmert habe. Ja, ich kann mir vorstellen, mit vier Leuten auf Matratzen in einem Zimmer zu schlafen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dauerhaft an einem Ort mit 1.300 Menschen zu leben, an dem die Klos ständig überlaufen und die Flurteppiche fluten, an dem das Heißwasser ausfällt, so dass ich im Winter kalt duschen muss, und wo ich wochenlang nur Toastbrot, Cervelatwurst und Käse esse, weil die Kantine kein warmes Essen für mich hat, wenn ich in den Deutschkurs gehe.

Das kann man dem Betreiber nicht vorwerfen: Die Sanitäranlagen waren halt alt, und die Kantine kann nicht stundenlang das Mittagessen aufheben. Aber jemand, der im August ankommt und sich zum Beispiel in Syrien auf den Weg gemacht hat, ist oft schon ein halbes Jahr oder noch viel länger unterwegs gewesen, hing zwischendurch in der Türkei fest und ist vielleicht noch im Gefängnis gelandet. Der kommt sowieso schon mit seinen letzten Reserven zu uns und muss dann noch die Zustände in der Notunterkunft aushalten. Ein halbes Jahr kann man das vielleicht ertragen, vor allem, wenn man weiß, dass man danach in eine Gemeinschaftsunterkunft kommt, wo man kochen und auch mal eine Tür zumachen kann. Aber viele Flüchtlinge waren dreimal so lang in der Notunterkunft.

Eine Steuernummer für das Baby

Ich werfe diese Zustände der Politik vor, ganz konkret dem Lageso (Landesamt für Gesundheit und Soziales) in Berlin, das uns einfach die Menschen geschickt hat, aber nicht genug Geld für sie zur Verfügung gestellt hat. Das Lageso brauchte viel zu lange für den Vorgang, bessere Unterkünfte für die Geflüchteten bereitzustellen, und hat es nicht geschafft, ein funktionierendes Asylverfahren aufzubauen.

Wir Deutschen erwarten ja, dass die Flüchtlinge sich an unsere Strukturen gewöhnen und sich dementsprechend verhalten. Das heißt für uns: Wir sind nicht korrupt, wir sind pünktlich und wir umgehen keine Strukturen, wir zahlen ordentlich unsere Steuern und wir melden uns bei den Ämtern an. Und wir denken, die Flüchtlinge sind anders, weil die ja auf Kamelen reiten in Syrien und keine Bildung haben.

Die Flüchtlinge wiederum kommen nach Berlin und stehen tagelang vor dem Lageso, schlafen mit ihren neugeborenen Babys auf dem Boden. Wer nicht obdachlos sein will, kauft irgendwann aus Verzweiflung einen Termin auf dem Schwarzmarkt. Das BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge), wo man unbedingt zum Interview vorsprechen muss, weil der Asylantrag sonst abgelehnt wird, geht ein halbes Jahr lang einfach nicht ans Telefon. Aber zwei Tage nach der Ankunft bekommen die Flüchtlinge einen Brief mit ihrer Steuernummer. Sogar für ihr Baby. Nichts funktioniert, aber die Steuernummer kommt an. Und dann erwarten wir, dass die mit unseren Normen und Werten konformgehen.

Wer sich nicht zu Hause fühlt, putzt auch das Bad nicht

Es ist klar, dass das so nicht funktioniert. Die Menschen, die vor anderthalb Jahren in die Notunterkünfte gezogen sind und jetzt noch da leben, glauben nicht mehr an unser System. Wir hatten mit vielen Bewohnern ein sehr gutes Verhältnis, die waren uns gegenüber nie feindselig. Wenn sie aber dauernd benachteiligt und bevormundet werden, wenn man sie barsch behandelt und ihnen monatelang sagt, wann sie aufstehen und essen müssen, dann ist es klar, dass sie sich nicht zu Hause fühlen. Dann ist auch das Bad dreckig und es wird Müll in die Ecke und aus dem Fenster geschmissen. Dieses Problem war der Brenner in jeder Teamsitzung.

Dann hat die Geschäftsführung gesagt, die Bewohner müssen erzogen werden, das Lageso will es hier sauber haben. Wir Pädagogen und Sozialbetreuer haben gesagt, wir verstehen das, aber solange die Menschen nicht das Gefühl haben, dass sie verantwortlich für den Ort sind, an dem sie wohnen, und sie dort noch nicht mal ihre Zimmer abschließen können, werden sie sich auch so verhalten. Das hat nichts mit Kultur zu tun. Wenn man diese Menschen in ihren Wohnungen in ihrem Land besucht, ist es dort blitzsauber.

An den Flüchtlingen wird weiter Geld verdient

Die Bewohner, die das Geld irgendwie zusammenkriegen konnten, haben sich letztlich oft auf inoffiziellem Wege eine Wohnung besorgt. Die illegale Marktwirtschaft, die an den Flüchtlingen verdient, hat sich von der Türkei hierher verlagert: Statt der Schlepper gibt es hier jetzt Makler, die 5.000 Euro für die Vermittlung einer Wohnung verlangen.

Auch ich habe den Schluss gezogen, dass ich das System umgehen musste, wenn ich helfen wollte. Ich durfte zum Beispiel keine Rechtsberatung anbieten, aber ich habe es trotzdem gemacht, weil ich mich auskannte. Und weil mir klar war, dass die Bewohner sonst unvorbereitet in die entscheidenden Interviews mit den Behörden gehen würden. Es ist ganz wichtig, dass sie auf die Fragen dort nicht nur kurz antworten, sondern ihre Fluchtgründe ausreichend erzählen.

Ich habe gesagt: „Ihr braucht euch nichts ausdenken, erzählt einfach jedes Detail, eure Geschichte ist traurig genug.“ Das stimmt auch. Manchmal, wenn ich den Geflüchteten zuhörte, habe ich gedacht: „Was diese Frau oder dieser Mann erlebt hat, ist das Beschissenste, was ich je gehört habe.“ Aber ich bin professionell damit umgegangen und habe erst zu Hause geweint. Zum Glück habe ich auch gute Freunde zum Reden.

Auch deutsche Männer haben noch viel zu lernen

Ich hatte ein sehr gutes Verhältnis zu den Bewohnern. Auch mit den Männern hatte ich nie Probleme. Mir wurde von allen Respekt entgegengebracht. Ja, ich habe auch Männer kennengelernt, die meinten, dass Frauen zu Hause bleiben und sich um die Kinder kümmern sollen. Aber nicht, weil sie ihre Frauen verachten, sondern weil sie meinen, dass die Frauen das wollen und die Gesellschaft sonst nicht funktioniert. Aber das ist alles verhandelbar. Ich habe Flüchtlingsfamilien gesehen, bei denen die Frau besser mit der Sprache klarkam als ihr Mann, und deswegen eine Ausbildung gemacht hat. In Syrien wäre sie vielleicht Hausfrau geblieben.

Sicher sehe ich als Feministin auch Punkte, an denen wir noch arbeiten müssen. Aber es geht nicht darum, dass wir arabische Männer in unser perfektes deutsches Geschlechterverhältnis integrieren müssen. Es gibt Fragen, mit denen wir uns alle noch auseinandersetzen müssen, nicht nur die Geflüchteten: Was ist Sexismus? Wie stark muss ein Mann sein? Auch mit meinen deutschen Freunden führe ich immer wieder Feminismus-Debatten. Manche sind Ende zwanzig, leben in einer deutschen Großstadt und sind von ihren Eltern zu coolen Männern erzogen worden – aber sie lassen ihre Freundin den Haushalt machen. Nein, auch in Deutschland sind wir längst nicht fertig damit, Rollenbilder zu verhandeln.

Es ist mir nicht leichtgefallen, den Job in der Notunterkunft zu kündigen. Aber sie wird demnächst wahrscheinlich sowieso endlich geschlossen. Und ich weiß, dass ich dafür sorgen muss, dass es mir selbst gut geht, wenn ich anderen helfen soll. Dafür muss ich jetzt etwas anderes machen. Ich würde gern Heimleiterin in einer Gemeinschaftsunterkunft werden und selbst mehr gestalten und entscheiden können. Oder wieder in den Katastrophenschutz gehen und etwas Größeres machen.

Der Job hat mich erfüllt wie kein anderer zuvor

Für die letzten anderthalb Jahre bin ich trotz allem sehr dankbar. Es war der erfüllendste Job, den ich je hatte, weil ich jeden Tag so viel Aufmerksamkeit und Liebe bekommen habe. Und jeden Tag habe ich richtig viel gelacht. Ich habe Menschen wachsen sehen, die am Anfang kaum sprechen konnten und niemanden vertraut haben. Und die nach Monaten zu mir kamen und wissen wollten, wie ich ihre Bewerbung für einen Job finde. Oder Frauen, die nach einem Jahr ein Gespräch auf Deutsch mit mir geführt haben, und Mädchen, die mit 16 Jahren in Deutschland ankamen und jetzt in Sicherheit erwachsen werden können.

Ich habe sehr gute Freunde unter den Geflüchteten gewonnen. Ihnen geht es gut, auch wenn sie kämpfen. Sie sind zu Hause wie alle anderen zur Schule gegangen, haben studiert oder wollten arbeiten, und stattdessen kam der Krieg. Jetzt fangen sie wieder von vorne an. Aber sie lernen Deutsch, sie haben Freunde und sie lieben Berlin.

Ich glaube, die Flüchtlinge können unsere Gesellschaft enorm zum Positiven verändern. Das sind Menschen, die für immer dankbar sein werden, dass sie hierherkommen durften – wenn wir sie ankommen lassen.


In unserer Serie „Was ich wirklich denke“ lassen wir Menschen sprechen, die interessante Berufe haben, die in herausfordernden oder besonderen Lebenssituationen stecken oder die etwas Ungewöhnliches erlebt haben. Trifft das auf dich zu und willst du davon erzählen? Dann melde dich unter: theresa@krautreporter.de