Für Mareice ist es eine schwere Geburt, mit der Greta zur Welt kommt. Als sie dann endlich da ist, bleibt der Mutter keine Sekunde, um sich zu entspannen. „Sie muss weg”, schreit die Ärztin sofort und nimmt das Baby aus dem Zimmer. Die Mutter hat nur eine Frage: „Ist sie tot”? Niemand hat eine Antwort.
Eine Stunde später erfahren die Eltern, Mareice und Thorben, dass ihr Kind lebt. Die Ärztin sagt ihnen, dass die Kleine beatmet wird und fehlgebildete Ohren hat. Man gehe von weiteren Fehlbildungen aus, mehr könne man im Moment nicht sagen. Die Eltern weinen. Noch zwei Stunden später dürfen sie zu ihrem Baby auf die Intensivstation. Mareice schreibt über den Moment:
Ich sitze am Bett meiner Tochter. Wobei „Bett“ eigentlich übertrieben ist. Es ist eher ein Brutkasten. Das Bett steht zu Hause und ist leer. Das „Bett“, in dem sie nun liegt, nennen die Krankenhausmenschen Inkubator. Meine Tochter darf ich nicht anfassen, überall an ihr sind Kabel. Ihr Gesicht ist aufgequollen von der Beatmung, es piept. Meine Tochter piept, und die zwei Babys, die mit ihr das Zimmer auf der Intensivstation teilen, piepen auch. Ich kann das Piepen nicht einsortieren und zucke jedes Mal zusammen, wenn ein Monitor Alarm schlägt. Meine Tochter ist vier Stunden alt und fühlt sich nicht an wie meine Tochter.
Ich habe ein gesundes kleines Mädchen erwartet, das auf meiner Brust liegt und sich selbst den Weg zur Brustwarze sucht. Bullerbü im Kreißsaal. Stattdessen: Emergency Room. Ich versuche, das kleine menschliche Wesen vorsichtig durch die Kabel hindurch mit dem Zeigefinger zu berühren. Ich traue mich nicht richtig, habe Angst, ihr weh zu tun oder sie zu verletzen. Sie liegt unter einem Berg von Kabeln. Ich weiß nicht, was genau sie bedeuten. Sie atmet schwer. An ihrem Mund sammelt sich immer wieder Speichel. „Süß“, hat Pfleger Björn gesagt. Ich finde sie vor allem: klein und zerknautscht. Und verkabelt.
Ich berühre ihre Finger. Ihre Haut ist ganz weich. Es ist die Haut meiner Tochter, die bis eben gerade noch in meinem Bauch war. Ist das wirklich meine Tochter? Vielleicht haben sie sie vertauscht auf dem Weg vom Kreißsaal zur Intensivstation?
Der Arzt irrt sich bei der Diagnose
Als Mareice Kaiser mit Greta schwanger war, hatte alles unauffällig ausgesehen. Sie hatte alle gängigen Tests machen lassen, aber nichts darüber hinaus, weil Mareice und ihrem Partner klar war, dass sie das Kind behalten würden. Während der Schwangerschaft dachten die werdenden Eltern mal an das Downsyndrom, natürlich, weil das eine bekannte Behinderung ist, aber an nichts darüber hinaus. Warum auch? 96 Prozent aller Kinder kommen gesund zur Welt. Greta gehört zu den anderen vier Prozent. Aber was hat sie? Es gibt keine Sofortdiagnose nach der Geburt. Die Eltern googlen alle denkbaren Chromosomenfehler und sind danach noch mehr verunsichert. Von den Ärzten und Pflegern erfahren sie, dass ihre Tochter gehörlos ist.
Es ist eine schwere Zeit, aber die Eltern freuen sich trotzdem über ihr Kind. Trotzig schicken sie Freunden und Familien Fotos und eine Mail in Gretas Namen: „Geplant war alles ganz anders, aber wenn ich schon eines jetzt weiß, dann ist es, dass man Mensch werden nicht planen kann.”
Drei Wochen nach der Geburt, die Eltern leben immer noch im Krankenhaus, haben sie einen Termin mit einem Arzt, der ihnen sagen soll, was Greta hat. Aber der Arzt liegt falsch. So beschreibt Mareice die Szene:
„Also“, beginnt Dr. Becker. „Wir haben nun einen Namen für das gefunden, was Ihre Tochter Greta mit auf die Welt gebracht hat: Trisomie 8 im Mosaik. Das bedeutet: eine leichte geistige Behinderung. Greta wird höchstwahrscheinlich gehen können. Gehörlos wird sie nicht bleiben, die meisten Kinder mit Trisomie 8 können irgendwann – meist unterstützt von Hörgeräten – hören und sprechen. Sicher nicht normal, aber so, dass man sie versteht.“ Ich atme auf. Eine Zukunft mit einem laufenden, hörenden Kind? Ein Klacks. Ich fange an zu weinen, vor Erleichterung.
Auch Thorben hat Tränen in den Augen, er hält Gretas Hand, schon seit Beginn des Gesprächs. Allerdings sieht er nicht so erleichtert aus, wie ich mich fühle. „Und Sie sind ganz sicher?“, fragt er leise. „Ja“, antwortet Dr. Becker. „Ich habe Ihnen hier alle Infos zusammengestellt. Trisomie 8 ist nicht so selten, es gibt einen gut arbeitenden Elternverein, dort werden Sie auch sicher hilfreiche Kontakte knüpfen können“, sagt er und gibt Thorben zwei der Broschüren in die Hand. Darauf zu sehen sind Kinder, die fröhlich in die Kamera lächeln.
Aber Thorben ist noch nicht beruhigt, ich sehe es ihm an. „Darf ich mal die Unterlagen sehen?“, fragt er, und Herr Becker gibt ihm den restlichen Stapel. Es handelt sich dabei um Gretas bisherige Krankenhausunterlagen. Schon nach diesen paar Wochen sind es viele Seiten. Ganz oben auf liegt das Untersuchungsergebnis des Gentests. Stille im Raum, ich weiß nicht, was ich sagen soll, und kann die Gefühlsachterbahn nicht artikulieren. Thorben liest sich aufmerksam die Untersuchungsergebnisse durch. Vor ein paar Tagen hätten wir mit all den Begriffen, Zahlen und Formeln nichts anfangen können. Heute können wir die Begrifflichkeiten zumindest einordnen. Dann stutzt Thorben und zeigt auf eine Zeile. „Hier steht Duplikation“, sagt er. „Soweit wir mittlerweile recherchiert haben, bedeutet eine Duplikation zwei. Eine Trisomie drei. Sind Sie sich wirklich sicher, dass Greta eine Trisomie hat?“ Dr. Becker weiß keine Antwort. Thorben gibt ihm das Blatt und schaut mich augenrollend an. Mir wird plötzlich schlecht. Der Arzt, der noch vor einigen Minuten lächelnd und voller Kompetenz den Raum betrat, schweigt. Ich sehe ihm seine Anspannung an. Sein Gesicht errötet. „Ich …“, stottert er nun. Dann steht er auf und verspricht, das zu klären. Dann ist er weg.
Es gab keinen Grund für weitere Vorsorgeuntersuchungen
Dr. Beckers Diagnose ist falsch. Weiterhin weiß niemand, was Greta hat. Immerhin dürfen Thorben und Mareice ihre Tochter mit nach Hause in ihre Zweizimmerwohnung nach Hamburg nehmen. Dort lernen sie den Alltag mit Greta, die manchmal ganz pflegeleicht ist, dann aber wieder sehr viel Aufmerksamkeit und Fürsorge braucht. Das Baby hat eine Darmentleerungsstörung. Die Eltern müssen den After des Babys mehrmals am Tag weiten und ihr mit einer Spülflüssigkeit beim Stuhlgang helfen. Trinken kann Greta vorerst nicht alleine, Mareice pumpt Milch ab, die sie auf Spritzen ziehen und in Gretas Magensonde drückt. Ein Sauerstofftank hilft Greta beim Atmen.
An Weihnachten wagen die drei einen Überraschungsbesuch bei Mareices Familie. Gretas drei Cousinen sind begeistert. Sie haben kein Problem damit, dass Greta nicht alles schafft, was andere Babys können.
Eigentlich hatte Mareice nach einem halben Jahr wieder in ihren Beruf als freie Redakteurin zurückkehren wollen, das ist jetzt unmöglich. Auch Thorben muss sich von seiner Arbeit als Texter freistellen lassen, weil Mareice die Pflege allein nicht schafft. Das Elterngeld reicht gerade eben.
Drei Monate nach der Geburt bekommen Thorben und Mareice endlich die richtige Diagnose. Sie werden jetzt von Frau Ahmko in deren humangenetischer Praxis betreut. Mareice hat eine Duplikation am achten Chromosom. Bei ihr selbst habe das keine Auswirkungen, bei Greta, erklärt die Ärztin, „hat sich die Duplikation aber verdreht und noch mal an das Chromosom drangesetzt”.
Bevor Greta in unser Leben kam, habe ich mich nicht für meine Chromosomen interessiert. Warum auch? Wird schon alles in Ordnung sein. Oder? Ja, ich wiege mehr, als der BMI mir vorschreibt, und ich bin kurzsichtig. Ohne Brille sollte ich lieber nicht Auto fahren. Mir geht es gut, ich bin gesund. Es gab bisher keinen Grund zur gesundheitlichen Sorge, keinen Grund zu Untersuchungen, die über die übliche Schwangerenvorsorge hinausgehen. „Hätten wir uns untersuchen lassen müssen?“, frage ich Frau Wolf, die Kollegin von Frau Ahmko, beim nächsten Besuch in der humangenetischen Praxis. „Nein, warum auch? Es gab keinen Grund dafür.“
„Welche Gründe gäbe es denn dafür?“ Ich will immer alles ganz genau wissen. Erst recht, seitdem Greta da ist. Wer weiß, wann ich mein Wissen mal brauchen kann. „Eine Chromosomenanalyse macht zum Beispiel Sinn, wenn Sie einen unerfüllten Kinderwunsch haben“, erklärt Frau Wolf. Paare, die jahrelang ungewollt kinderlos bleiben, kommen in diese Praxis. Die Humangenetikerin geht auf all meine Fragen ein, sie nimmt sich Zeit für mich und Thorben, der neben mir sitzt.
Die Grundlagen kenne ich bereits: Menschen haben 46 Chromosomen. Diese tragen das genetische Erbmaterial mit sich herum. Ich weiß, dass es Ausnahmen gibt von diesen 46 Chromosomen, zum Beispiel bei der Trisomie 21, bei der das 21. Chromosom dreimal vorhanden ist. Durch unsere Recherchen im Netz wissen Thorben und ich mittlerweile noch viel mehr. Zum Beispiel, dass die drei häufigsten Trisomien, mit denen Kinder geboren werden, Trisomie 21, Trisomie 8 und Trisomie 9 sind. Zusätzlich gibt es unterschiedliche Formen, wie das Mosaik; außerdem Duplikationen, bei denen ein Chromosom verdoppelt vorkommt. Heute lerne ich noch viel mehr dazu.
„Sie, Frau Kaiser, haben eine balancierte Inversion am achten Chromosom. Diese ist für die invertierte Duplikation bei Greta verantwortlich.“ Es handelt sich also nicht um eine Duplikation eines ganzen Chromosoms, sondern nur von einem Teil. Doch dieser Teil enthält anscheinend genügend Gene, um viele Dinge zu beeinflussen: Gretas Sehvermögen, ihre Gehörlosigkeit, ihre schwachen Muskeln, ihre besonderen Ohren, die aussehen, als käme sie eher von der Enterprise als von Thorben und mir.
Für den Bruder ist die Familienplanung abrupt abgeschlossen
„Puh, das ist alles so kompliziert“, seufze ich. „Ich habe von so was noch nie etwas gehört“, gestehe ich. Das Downsyndrom, ja, das kenne ich, und mir war auch klar, dass es Chromosomenfehler gibt. Aber dass es welche gibt, die keine direkten Auswirkungen bei ihrer Trägerin haben, dafür aber unter Umständen bei ihren Kindern? „Das, was Greta und Sie haben, ist wirklich extrem besonders“, sagt Frau Wolf. „Das gibt es nur einmal.“ Auf der ganzen Welt gibt es acht Milliarden Menschen, und das, was Greta hat, hat nur sie? Das ist ja ein Hauptgewinn. Greta ist also ein Jackpot, denke ich. Ein äußerst komplizierter Jackpot.
Komplizierte Chromosomenanalysen gibt es in dieser Praxis immer mal wieder. Im Fall von Greta hilft uns die Analyse auch nicht wirklich weiter. Für uns sind diese Untersuchungen vor allem wichtig im Hinblick auf weitere Kinder. „Was wäre denn, wenn wir uns noch ein Geschwisterkind für Greta wünschten?“, frage ich die Ärztin und komme mir seltsam dabei vor. Ich möchte meinen Kinderwunsch eigentlich gar nicht mit Ärzt_innen besprechen, sondern mit dem potentiellen Vater meiner Kinder. Allerdings bleibt uns wohl nichts anderes übrig. Ich denke an die Paare aus dem Wartezimmer der humangenetischen Praxis. Sie alle müssen ihren Kinderwunsch mit Ärzt_innen besprechen, und ich bin dankbar, dass ich überhaupt mit Greta schwanger geworden bin, einfach so.
Da der „Fall Greta“ so kompliziert und komplex ist, müssen weitere Untersuchungen stattfinden. Gretas Blut wird noch mal auf die Reise zu einem Speziallabor geschickt, gleichzeitig wird auch das Blut meiner Eltern und meiner Brüder untersucht. Erst aus all diesen Ergebnissen können die Ärzt_innen Schlüsse über die Vererbung unserer extrem besonderen Chromosomen ziehen.
Einige Wochen später wissen wir, dass ich neben einer impulsiven Persönlichkeit auch die balancierte Chromosomen-Inversion von meinem Vater geerbt habe. „Es liegt nahe, dass das erste Kind Ihrer Eltern mit einem ähnlichen Chromosomenfehler wie Greta zur Welt kam“, mutmaßt Frau Wolf am Telefon. Damals gab es allerdings noch nicht so differenzierte Untersuchungen wie heute. Vermutlich starben viel mehr Kinder als heute mit nicht untersuchten Chromosomenfehlern. Fehlen nur noch die Ergebnisse meiner Brüder.
Später klingelt mein Telefon. Mein Bruder ist dran, er will mir das Ergebnis seiner Untersuchung mitteilen. Auch er trägt das umgedrehte achte Chromosom in sich, wie mein anderer Bruder und mein Vater.
„Und wie geht es dir damit?“, frage ich ihn.
„Unsere Familienplanung ist damit abgeschlossen“, antwortet er.
Empathieloses Arschloch, denke ich. „Aha“, sage ich.
Die freundliche Oma sagt: “Sowas gibt’s noch!?
Greta ist nun knapp ein Jahr alt und die Familie hat sich in einer Art Normalität eingerichtet. Greta, bei der nicht klar war, ob sie älter als drei Monate wird, entwickelt sich langsam, aber stetig. Sie hebt ihr Köpfchen und kann trinken, braucht immer weniger Milch durch die Sonde. Die Familie kann sogar Ausflüge machen, wenn auch mit viel Vorbereitung. „Unsere Wickeltasche ist eigentlich eher ein Wickelkoffer, so viele Hilfsmittel benötigen wir, wenn wir mit Greta unterwegs sind”, schreibt Mareice. Als ein Freund Geburtstag feiert, fahren sie hin. Mareice erinnert sich:
Es ist eine Gartenparty, die Sonne scheint, ein strahlender Sommertag. Es gibt selbstgemachte Limonade, Kuchen, Salate, die Wespen lassen uns in Ruhe. Greta liegt neben Thorben auf einer Decke, viele Kinder hüpfen durch den Garten. Ich hole für Thorben und mich Salat, den ich auf zwei Tellern zu unserer Decke trage. Dort ziehe ich eine Spritze mit Milch für Greta auf. Während ich ihr die Milch durch die Sonde gebe, kommt ein kleines Mädchen dazu und fragt mich, was ich da mache. Ich erkläre ihr, dass Greta noch nicht selbst trinken kann und auf diesem Weg die Milch in ihren Bauch gelangt. Das Mädchen scheint zufrieden mit der Erklärung. Nach einem kurzen Stirnrunzeln fragt sie: „Warum?“ Nun muss ich ihr auf etwas antworten, was ich ja eigentlich selbst nicht so richtig verstehe. Ich gebe mein Bestes. „Nicht alle Kinder kommen gesund zur Welt. Bei Greta sind einige Dinge anders als bei dir.“ „Warum?“, lässt das Mädchen nicht locker. „Weiß ich ehrlich gesagt auch nicht so wirklich“, gestehe ich ihr. „Ist halt einfach so.“
„Darf ich Greta streicheln?“, fragt das gleiche Mädchen ein paar Minuten später. Zwischendurch hatte sie von weitem immer wieder zu uns geschaut. „Klar!“, sage ich. Thorben ergänzt: „Aber du musst vorsichtig sein mit der Sonde.“ Ich rolle die Augen. Er ist mir oft zu vorsichtig. Ich vertraue dem Mädchen. Es wird schon nicht an der Sonde ziehen, davon bin ich überzeugt. Thorben hat immer Angst, dass Greta etwas passiert. Das ist natürlich kein Wunder nach der Zeit im Krankenhaus. Tatsächlich ist Greta anfälliger als andere Kinder, ihr Immunsystem ist schwächer als das von den meisten nicht behinderten Kindern. Gerade deshalb versuche ich, ihren Sonderstatus nicht extra zu betonen. Ich will keine zusätzlichen Barrieren zwischen den anderen Kindern und ihr errichten.
Ich genieße die Leichtigkeit zwischen den Kindern. Wie schön es ist, dass wir mit Greta hier sein können. Auch die Oma unseres Freundes ist da, eine freundliche Dame um die siebzig, die gerade auf ihrer Begrüßungsrunde durch die Geburtstagsgesellschaft unterwegs ist. Vor unserer Decke bleibt sie stehen, sieht Greta und sagt erschrocken: „So was gibt’s noch!?“
Ständig sind fremde Menschen in der Wohnung der Familie, ein Therapeut gibt dem anderen die Klinke in die Hand. Greta bekommt Atemtherapie und Sehfrühförderung, auch eine Logopädin arbeitet mit ihr. „Eltern behinderter Kinder scheint es besonders wichtig zu sein – oder es als besonders wichtig suggeriert zu bekommen –, alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Alle Möglichkeiten, das Kind weniger behindert und mehr ‘normal’ zu machen”, schreibt Mareice. Sie wiederum fragt sich: „Wie viel hat sie von einem Wochenplan, in dem sie keine Minute Zeit dafür hat, einfach mal ein Kind zu sein?” Mareice ist überzeugt, dass Greta viel von den Dingen um sie herum mitbekommt: „Ganz sicher wird sie auch erfühlen, wenn wir sie zu einem nicht behinderten Menschen therapieren wollen.”
Bei der zweiten Schwangerschaft zittern Mareice und Thorben
Als Greta eineinhalb ist, wird Mareice wieder schwanger. Thorben und sie haben sich noch ein Kind gewünscht, ein nicht behindertes Geschwisterkind für Greta. Diesmal lassen sie in der 11. Woche testen, ob das ungeborene Kind gesund ist. Für diese Entscheidung brauchen sie sechs Wochen und viele Gespräche miteinander und mit der Humangenetikerin. Immer wieder fragen sie sich, was sie tun werden, falls sie noch ein mehrfach behindertes Kind erwarten: „Schaffen wir es, noch ein krankes Kind zu pflegen? Dürfen wir über Leben und Tod entscheiden? Welches Leben ist lebenswert – welches nicht? Fragen, die niemand in sechs Wochen beantworten kann“, schreibt Mareice.
Mareice macht eine Chorionzottenbiopsie, dabei wird der Mutter mit einer Hohlnadel durch die Bauchdecke gestochen und Gewebe aus der Plazenta entnommen. Weil die entnommenen Zellen das gleiche genetische Material haben wie das ungeborene Baby, können so genetische Auffälligkeiten festgestellt werden. Das Testergebnis: Mareice ist mit einem Mädchen ohne Chromosomenfehler schwanger. Die Eltern liegen sich in den Armen und weinen, als sie das Ergebnis erhalten. Bis heute wissen sie nicht, wie sie sich bei einem anderen Ergebnis entschieden hätten.
Als Mareice mit ihrer neugeborenen zweiten Tochter Momo aus dem Krankenhaus nach Hause kommt, lehnt Greta am Kinderzimmertisch und grinst übers ganze Gesicht. Zum ersten Mal steht sie ohne Hilfe.
Das Paar zieht nach Berlin um. Mittlerweile arbeitet Mareice schon mehr als ein Jahr nicht mehr, das Elterngeld reicht gerade so. Nach langer Suche finden sie einen Kitaplatz für Greta.
*Als eine Freundin von Mareice sie darauf aufmerksam macht, wie selten Eltern „normaler” Kinder behinderte Kinder treffen, fängt Mareice an, einen Blog über ihre das Leben mit ihrer Familie zu schreiben: „Kaiserinnenreich.“ Er bekommt viel Resonanz, leider auch Hasskommentare wie diesen: „Lebt Ihr behinderter Nachwuchs immer noch? Wie lange denn noch? Ist ja auch teuer für den Steuerzahler.“
Wer nicht kämpfen kann, zahlt selbst
Auch Krankenhausaufenthalte und empathielose Ärzte bringen die Eltern an ihre Grenzen. Einmal rastet Thorben im Krankenhaus aus, weil er eine schlaflose Nacht mit einer fiebernden Greta ohne Beistand von Ärzten und Pflegern verbracht hat. Mehr als zwei Jahre nach Gretas Geburt ist auch Mareice komplett überlastet und die Eltern überlegen schwere Herzens, Greta in ein Kinderhaus zu geben. Sie finden eine andere Lösung: Ein häuslicher Pflegedienst wird ihr helfen. Trotzdem muss Mareice sich immer wieder mit den sinnlosen bürokratischen Widerhaken der Krankenkasse herumschlagen. Mareice schreibt:
Als uns zwei Wochen Kurzzeitpflege für Greta nicht bewilligt werden, bitte ich die Sozialpädagogin der Pflegeeinrichtung um Rat. „Was tun Eltern denn sonst in solch einem Fall?“, will ich von ihr wissen. Sie zuckt mit den Schultern: „Wir haben leider keine Vergleichsfälle. Normalerweise fehlt den Eltern die Kraft zu kämpfen – und sie zahlen selbst.“ In diesem Moment habe ich beschlossen, weiterzukämpfen. Für Greta, für Momo, für uns als Familie und für alle Eltern, denen die Kraft ausgegangen ist.
Die Uhr meines Telefons zeigt mir an, dass ich bereits über acht Minuten in der Warteschleife hänge. Klar, ich habe natürlich nichts Besseres zu tun. Ich bin schließlich die Mutter eines behinderten Kindes. Mein Job ist es, mein Kind zu pflegen und mich um die Organisation der Pflege zu kümmern. Ich schreibe das nicht, weil ich es denke. Ich schreibe es, weil es mir immer und immer wieder suggeriert wird. „Müssen Sie denn unbedingt arbeiten? Sie haben doch ein schwerbehindertes Kind! Ist das nicht Stress genug?“
Widersprüche schreiben, Anträge stellen, Kommunikation mit Hilfsmittelfirmen, Organisation der Therapien. Ich soll nicht das Heimchen am Herd sein, sondern die Mutti am Pflegebett. Aber das bin ich nicht. Und nun? (…)
Nach über zehn Minuten in der Warteschleife habe ich die Sachbearbeiterin der Krankenkasse dran. Was war noch mal der Grund meines Anrufs? Das Gedudel hat so lange gedauert, dass ich es gar nicht mehr genau weiß. Gretas achtstellige Nummer bei der Kasse weiß ich mittlerweile auswendig, ich schaue auf die Notizen in meinem Kalender, der vor mir auf dem Schreibtisch liegt. „Ambubeutel“ steht da und die Daten meiner letzten Telefonate mit der Krankenkasse. Greta benötigt eine neue Maske für den Ambubeutel. Das ist ein Gerät – sieht ähnlich aus wie ein Luftballon –, das für den Notfall gedacht ist. Sollte Gretas Atmung mal aussetzen oder sie andere schwerwiegende Probleme mit der Atmung bekommen, was bei ihrem besonderen Mund-Zungen-Zähne-Dings nicht unwahrscheinlich ist, müssten wir sie mit Hilfe des Ambubeutels beatmen (…) Wert: nicht mehr als 50 Euro.
Ich habe mir also beim letzten Kinderarztbesuch eine Verordnung des Arztes geben lassen und diese bei der Apotheke eingereicht. Die Apotheke reicht die Verordnung bei der Krankenkasse ein, die Krankenkasse lehnt ab. So weit der normale Ablauf der strukturellen Diskriminierung, die ich mittlerweile schon gewohnt bin. Dann geht die Verordnung an die Clearingstelle (Anm. der Redaktion: eine Clearingstelle ist eine Einrichtung zur Koordination und Schlichtung zwischen verschiedenen Institutionen, Trägern und Angeboten) und von dort aus wieder zurück zur Krankenkasse, die den Kostenvoranschlag wieder an unseren Apotheker schickte mit dem Hinweis: „Keine Genehmigung, da bereits im September 2015 neues Gerät bewilligt wurde. Da das Kind älter als drei Jahre ist, gibt es keine weiteren Kosten für eine Maske!“ Interessant auf so einem Schriftstück ist ja auch das Ausrufezeichen. Aber ich will nicht zynisch werden; das ist das Letzte, was ich will – und es ist verdammt schwer, es nicht zu werden. Eigentlich will ich ja nur, dass meine Tochter im Notfall nicht sterben muss. Ist das zu viel verlangt? (…)
Nach einigen Minuten in der Warteschleife kann ich endlich mit Frau Hofmann sprechen.
Ich: „Sie haben uns eine Ablehnung geschickt für die Gesichtsmaske zur Beatmung unserer Tochter.“
Sachbearbeiterin: „Ja, das stimmt. Ihrer Tochter wurde bereits in diesem Jahr ein Inhalationsgerät bewilligt. Da gibt es nicht noch zusätzlich eine Gesichtsmaske.“
Ich: „Die Gesichtsmaske, die neu beantragt wurde, ist für den Ambubeutel, nicht für das Inhalationsgerät meiner Tochter.“
Sachbearbeiterin: „Dann muss das aber auch so auf der Verordnung stehen.“
Ich: „Das steht so auf der Verordnung.“
Sachbearbeiterin: „Dann muss es aber so auf der Verordnung stehen, dass man es versteht.“
Ich: „Das erste Wort auf der Verordnung ist Ambubeutel. Für mich sieht das sehr verständlich aus.“
Sachbearbeiterin: „Oh.“
Ich: „Warum rufen Sie bei Rückfragen nicht einfach kurz an und klären mit mir, worum es sich handelt, wenn Sie nicht sicher sind? Statt den Antrag sofort abzulehnen.“
Sachbearbeiterin: schweigt.
Ich: „Was wäre, wenn meine Tochter einen Atemstillstand hätte und sie nicht beatmet werden könnte in der Zeit, in der wir hier miteinander telefonieren oder in den Wochen, die die Ablehnung und Neubeantragung nun schon dauert?“
Sachbearbeiterin: schweigt.
Fünf Minuten später, am Telefon mit unserem Apotheker.
Ich: „Die Krankenkasse hat die Gesichtsmaske abgelehnt, weil nicht ersichtlich war, dass es sich um ein Teil für den Ambubeutel handelt. Sie gingen vom Inhalationsgerät aus.“
Apotheker: „Aber wir haben doch die konkrete Hilfsmittelbezeichnung angegeben, und auf der Verordnung steht doch auch Ambubeutel!?“
Ich: schweige.
Eltern behinderter Kinder müssen sich immer wieder rechtfertigen
„Wusstet ihr das eigentlich vorher?“, werden Thorben und Mareice häufig gefragt. „Das“ ist Gretas Chromosomenfehler und dessen Auswirkungen, ein mehrfach behindertes Kind. Eltern, glaubt Mareice, müssen sich immer mehr dafür rechtfertigen, wenn sie ein behindertes Kind haben, weil diese Kinder sich durch Pränataldiagnostik ja heute „verhindern” ließen. Schwangere Frauen, glaubt Mareice, entscheiden sich auch deswegen für Pränataldiagnostik und Schwangerschaftsabbrüche, weil sie Angst davor haben, mit einem behinderten Kind die eigenen und gesellschaftlichen Ansprüche nicht erfüllen zu können und nicht mehr zu den „Normalen“, sondern zu den „Anderen“ zu gehören. Mareice erklärt:
Die Möglichkeiten der Selektion werden immer einfacher. Beim Praena-Test zum Beispiel handelt es sich nicht mehr um ein invasives Verfahren, bei dem die Schwangere physische Schmerzen oder eine Fehlgeburt befürchten muss. Ein paar Tropfen Blut genügen, um die Gene des Fötus zu bestimmen. Warum also nicht?
Vielleicht, weil diese Tests eine Sicherheit suggerieren, die es nicht gibt. Nur knapp fünf Prozent der Behinderungen von Menschen in Deutschland sind angeboren, rund 95 Prozent werden im Lauf des Lebens erworben. Zudem gibt es nach wie vor die Möglichkeit von falschen Testergebnissen und Fehldiagnosen. Und bei sehr vielen Behinderungen gibt es eine große Bandbreite an Entwicklungsmöglichkeiten. Oft werde ich mit der Meinung konfrontiert, ich sei gegen Schwangerschaftsabbrüche, weil ich ja ein behindertes Kind habe. Das ist natürlich Quatsch – es wurde lange dafür gekämpft, dass Frauen selbst über ihren Körper und ihr Leben entscheiden können. Ich bin dafür, dass Frauen selbst entscheiden können. Allerdings weiß ich, dass sich viele Schwangere gegen das Leben mit einem behinderten Kind entscheiden, weil sie nicht wissen, wie dieses Leben aussehen kann, und sie Angst davor haben. Neun von zehn Frauen, die ein Kind mit Downsyndrom erwarten, entscheiden sich für einen Schwangerschaftsabbruch. Die psychische Belastung nach einem Abbruch wird öffentlich jedoch kaum diskutiert – erst recht nicht die Folgen für die Frauen bei Spätabtreibungen.
Statt behinderte Kinder „abzuschaffen“, würde ich gern unsere behindertenfeindliche Gesellschaft abschaffen. Würden wir in einer barrierefreieren Welt leben, ohne strukturelle Diskriminierungen, müssten sich werdende Eltern gar nicht mehr gegen ihre möglicherweise behinderten Kinder entscheiden. Denn begründet werden solche Schwangerschaftsabbrüche in der Regel mit der möglichen Gefahr für die psychische Gesundheit der Frau. Diese Gefahr resultiert aber hauptsächlich aus dem Gedanken der Leistungsgesellschaft, in der Menschen nach Fähigkeiten, Leistung und Kapitalwert beurteilt werden.
Das Schlimmste wäre ein Leben ohne Greta
Für Mareice ist das Leben mit Greta trotz aller Herausforderungen eine Bereicherung. „Dass es mir manchmal schwerfällt, Greta anzunehmen, liegt nicht an Greta. Es liegt an allen anderen, die immer wieder Gretas Defizite aufzählen, statt auf ihre Talente zu sehen. Die nur schauen, was sie ist – oder noch eher, was sie nicht ist – und nicht, wer sie ist. Und was wir alle von ihr lernen könnten“, schreibt sie. Mareice träumt von der Zukunft einer wirklich inklusiven Gesellschaft, in der ihre Töchter auf die gleiche Schule gehen können und in der das Lernziel „Essen mit dem Löffel” den gleichen Wert hat wie „Kurvendiskussion”.
Greta wird eine solche Gesellschaft leider nicht mehr erleben. Denn eine Woche, nachdem Mareice das letzte Kapitel ihres Buchs beendet hat, stirbt Greta im Alter von vier Jahren. Mareice schreibt:
„Es ist schlimm, dass Greta nicht mehr bei uns ist. Es tut weh, jeden Tag. Sie fehlt, für immer. Aber das Schlimmste? Sie hätte uns auch nicht passieren können. Jeder einzelne Tag mit Greta war ein Geschenk. Sie hat meinen Horizont erweitert, einfach weil sie da war. Sie hat meinen Blick geschärft, mir neue Perspektiven eröffnet. Vielleicht war das ihr größtes Talent: Sie konnte Menschen einfach sein lassen. So, wie sie sind. Niemand musste für sie etwas darstellen, etwas leisten, um gut zu sein. Einfach sein, das reichte mit ihr.
Ich definiere Wörter heute anders. Liebe ist nicht mehr mit Bedingungen verknüpft, Schönheit nicht mit äußerlichen Merkmalen. Glück ist nicht gleichbedeutend mit Gesundheit. Leben ist nicht das Gegenteil von Tod. Es ist kein Gegensatzpaar, es gehört alles untrennbar zusammen.”
Mareice Kaisers Buch ist 2016 im S. Fischer Verlag erschienen. Wir veröffentlichen die Passagen daraus mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Der Artikel wurde zusammen mit Esther Göbel erarbeitet, gegengelesen hat Vera Fröhlich, Martin Gommel hat das Aufmacher-Foto ausgewählt.