Neulich in der Kita meines Sohnes erzählte mir eine Mutter, dass sie inzwischen akzeptiert hat, dass ihre Kinder nicht die große Liebe verbindet. Ich war erschüttert. Die jüngere Tochter hätte den älteren Bruder anfangs abgöttisch geliebt, stieß damit aber auf wenig Gegenliebe. Er hätte sich einfach nicht besonders für sie interessiert. Nun nach einigen Jahren habe die Tochter es aufgegeben. Und man lebe so nebeneinander her. Ich dachte sofort an meine eigenen Kinder. Könnte ich es hinnehmen, wenn sie sich nicht verstehen? Andererseits hat mich der nüchterne Blick der anderen Mutter auch beeindruckt. Womöglich folgt die Beziehung der Geschwister untereinander tatsächlich eigenen Regeln, auf die man als Eltern nur begrenzten Einfluss hat. Zum ersten Mal habe ich mich gefragt: Müssen sich Geschwister eigentlich immer verstehen?
Auch Krautreporter-Leserin Annette wollte das von mir wissen: „Ist es normal, sich mit seinen Geschwistern nicht zu verstehen?“, schrieb mir die 52-jährige. Sie selbst habe vier ältere Brüder (von denen einer bereits verstorben ist): „Ich bin frustriert darüber, dass zwischen uns Geschwistern eine große Sprachlosigkeit herrscht. Streit wäre eigentlich noch besser als dieses Nichts. Nachdem jetzt meine beiden Eltern gestorben sind (in durchaus hohem Alter), gibt es eigentlich keinen Grund mehr, meine Brüder zu treffen. Weil wir uns nichts zu sagen haben. Und ich frage mich, wann das eigentlich angefangen hat. Würde es mit einer Schwester besser laufen? Haben meine Eltern einfach versäumt, den Grundstein zu legen? Ich selbst habe keine Kinder, kann also nicht sagen, ob ich das besser gemacht hätte.“ Liebe Annette, ich habe mich unter den Krautreporter-Lesern ein bisschen umgehört und sie gefragt, wie sie es mit ihren Geschwistern halten.
Eines steht fest: Annette ist mit ihrem Gefühl nicht allein. Nils ist ebenfalls unzufrieden: „Wenn ich mit meinem jüngeren Bruder nicht verwandt wäre, könnte ich ihm vielleicht den Status eines Bekannten geben. Ich lebe seit fast einem Jahrzehnt weit weg von der Region, in der ich aufgewachsen bin. Während mein Bruder noch immer dort wohnt. Ich habe das Gefühl, dass ich mich über die Jahre stark verändert habe. Wenn ich zu Besuch in der alten Heimat bin, tauschen wir ein paar oberflächliche Infos über den Fortgang des Lebens aus. Und danach machen wir das, was wir schon früher gemacht haben: gemeinsam Videospiele spielen. Aber nie mehr als das.“
Entscheidend ist nicht die genetische Verwandtschaft, sondern wie viel Zeit Geschwister miteinander verbringen
Die meisten von uns haben Schwestern und Brüder. Schaut man sich die Zahlen an, so wächst die Mehrheit der Menschen noch immer in Familien mit Geschwisterkindern auf, auch wenn es heute häufiger als früher Stief-, Adoptiv- und andere Geschwister sind. Nach Ansicht von Familienpsychologen ist die genetische Verwandtschaft für eine Geschwisterbeziehung auch gar nicht so entscheidend. Stärker wirkt sich das Maß an gemeinsam verbrachter Zeit aus. So verwundert es auch nicht, dass manche Verhaltensmuster stärker von Brüdern und Schwestern geprägt werden als von Vater und Mutter.
Denn spätestens im Vorschulalter verbringen die Kinder mehr Zeit mit Bruder oder Schwester als mit den Eltern. Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren unternehmen häufig etwas mit ihren Eltern und Geschwistern, wobei das Interesse mit steigendem Alter abnimmt und sich vom häuslich-familiären Bereich hin zu Party und Konsum verschiebt.
Fast jedes zweite Kind lebt mit einem Geschwisterkind zusammen. Jedes fünfte hat sogar zwei Geschwisterkinder und immerhin gut sieben Prozent haben drei und mehr. Die Erhebung des Statistischen Bundesamtes zählt dabei nur die ledigen Kinder unter 18 Jahren, die bei ihren Eltern leben. Nicht berücksichtigt werden volljährige und ältere Kinder mit eigener Familie. So lebten laut Mikrozensus 2011 in 3,63 Millionen Familienhaushalten ausschließlich Kinder, die 18 Jahre oder älter waren. Auch sie haben womöglich Geschwister, sind hier aber nicht einberechnet. Eine realistische Zahl liefert wohl der Deutsche Jugendsurvey (PDF, 2015). Der Erhebung nach wachsen 85 Prozent der Jugendlichen mit und 15 Prozent ohne Geschwister auf.
Rund 80 Prozent aller Kinder verstehen sich gut mit ihren Geschwistern
Für die meisten Kinder sind laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums (PDF, 2007) Geschwister nach den Eltern die wichtigsten Personen in ihrem Leben. Rund 40 Prozent der Kinder im Vorschul- und Grundschulalter geben an, sich mit den Geschwistern sehr gut zu verstehen. Weitere 40 Prozent kommen gut miteinander klar. 20 Prozent eher nicht so gut. Dabei vertragen sich Schwestern und Brüder jeweils untereinander tendenziell besser. Für Mädchen ist die Schwester bedeutsam, für Jungen der altersnahe Bruder. Rein statistisch gesehen, liebe Annette, wäre es für dich mit einer Schwester womöglich einfacher gewesen.
Die Geschwisterbeziehung folgt im Laufe des Lebens meist einer U-Kurve, meint Franz Neyer, Persönlichkeitspsychologe an der Universität Jena. In der Kindheit sind Geschwister sich sehr nah, in der Pubertät lösen sie sich voneinander. Am größten ist die Distanz normalerweise beim Einstieg ins Berufsleben und wenn eigene Familien gegründet werden.
Ähnliche Erfahrungen hast Du gemacht, lieber Nico. Du hast mir geschrieben: „Meinen Bruder und mich verbindet (eigentlich) ein sehr starkes Band, wir waren auch in turbulenten Familienzeiten stets der wichtigste Ansprechpartner füreinander. Doch seit er seine eigene Familie gegründet hat und dort sehr beschäftigt ist, wird das Ganze auf die Probe gestellt. Unser Kontakt beschränkt sich auf sehr kurze Momente bei Familiengeburtstagen. Da stellt sich aber sehr schnell wieder die alte Vertrautheit ein.“ Im Alter, Nico, wird die Beziehung dann oft wieder enger. Im Idealfall lernt man sich dann neu kennen.
Vielleicht hilft es manchmal auch, sich vorzustellen, wie es ohne Geschwister wäre. Eine repräsentative Umfrage kommt zu dem Ergebnis, dass nur gut acht Prozent der Befragten mit Geschwistern lieber alleine groß geworden wären und ihre Geschwister schon immer als eher störend empfunden haben. Jedes zweite Einzelkind hingegen hätte gern Geschwister gehabt.
Drei Viertel der Geschwisterkinder geben an, dass sie sich in Notlagen oder persönlichen Krisen voll und ganz auf ihren Bruder oder ihre Schwester verlassen können. Sie haben ein sehr enges Verhältnis zu ihren Geschwistern, fühlen sich seit der Kindheit zusammengehörig. Jeder dritte Bruder oder Schwester berichtet, von seinen Geschwistern in vielen Dingen mehr gelernt zu haben als von den Eltern oder anderen Erwachsenen. Knapp jeder Fünfte (17,8 Prozent) hat sich allerdings als Erwachsener mit seinen Geschwistern völlig auseinandergelebt. Nur weniger als ein Viertel (23,1 Prozent) der Geschwisterkinder berichtet, dass der Zusammenhalt untereinander eher gering war und sich jeder selbst darum gekümmert hat, wie er zurechtkommt.
Dreieinhalb Mal pro Stunde streiten sich Geschwister im Durchschnitt
„In unserer Kindheit haben meine beiden Brüder und ich uns oft gebalgt und manchmal sogar geprügelt“, schreibt mir KR-Leser Chris über das Verhältnis zu seinen dreieinhalb Jahre jüngeren Zwillingsbrüdern: „Ich als älterer Bruder fand es oft nervig, dass die Jüngeren mir alles nachmachen und mit zu meinen Freunden gehen wollten. In der Pubertät nahm das Ganze langsam ab, und etwa seit ich 18 wurde, spielen diese Kabbeleien nur noch Nebenrollen. Wenn etwas Ernsthaftes passierte, waren wir ohnehin sofort füreinander da. Unsere Eltern waren manchmal schwer überrascht, wie schnell wir umschalten konnten von Bis-aufs-Blut-ärgern zu Gemeinsam-gegen-ein-Problem-angehen. Es stand ohnehin nie in Frage, wie lieb wir uns haben.“
Durchschnittlich dreieinhalb Mal pro Stunde haben Geschwister im Alter von drei bis sieben Jahren Streit, hat Laurie Kramer von der University of Illinois in Urbana ermittelt. Als ich die Zahl gelesen habe, dachte ich zuerst, ich hätte mich verlesen und es müsste heißen: pro Tag. Aber zählt man all die kleinen und längeren Auseinandersetzungen zusammen, kommt das wohl hin. Unterm Strich verbringen die Kleinen jede Stunde zehn Minuten damit. Streit an sich schadet auch nicht. Im Gegenteil, nach Ansicht von Experten erfordert es mehr Kompetenzen, mit Geschwistern klarzukommen als mit Erwachsenen. Die geben schneller nach. Geschwisterkinder lernen im Streit miteinander (möglichst), Konflikte zu verhandeln und zu beenden und Kompromisse zu finden. Schließlich muss man danach weiter miteinander klarkommen.
Und was können die Eltern dabei tun? Sie sollten sich nicht raushalten, wie Laurie Kramer meint. Die Psychologin hat eine Reihe Geschwisterstudien ausgewertet und kommt zu dem Schluss, dass Eltern ihre kleinen Kinder in Auseinandersetzungen unterstützen sollten. Sie überfordern ihre Kinder, wenn sie sie damit allein lassen. Die Kleinen sind selbst noch nicht in der Lage, die komplexen Beziehungen zu Bruder oder Schwester allein zu regeln. Eltern sollten deshalb in Streitigkeiten eingreifen, die Konflikte nicht eskalieren lassen und den Kindern soziale Fähigkeiten an die Hand geben, um positiv zu interagieren.
Interessant dabei ist: Wer schon im Kinderzimmer im Dauerclinch mit seinem Bruder oder seiner Schwester lag, wer andauernd Eifersucht erlebt hat, wird vermutlich auch später immer wieder streiten und dem anderen misstrauisch begegnen. Wer hingegen Zuwendung und Verbundenheit erlebt hat, wird sich auch im Alter näher fühlen. Das hat Laurie Kramer in ihren Studien festgestellt. Die Qualität der Geschwisterbeziehung und auch der Umgangston bleiben langfristig betrachtet erstaunlich konstant, bis der Älteste auszieht, aber auch darüber hinaus, wenn in der Familie nichts Einschneidendes, wie Tod oder Trennung, passierte.
Wenn bei allen Streitigkeiten am Ende die positiven Dinge überwiegen, ist das eine sichere Grundlage für ein gutes Verhältnis später. Mit zunehmendem Alter werden vergangene Streits laut einer Umfrage ohnehin weniger wichtig. Mehr Sorgen muss man sich machen, wenn Konkurrenz und Auseinandersetzungen ausbleiben. Geschwister, die sich ignorierten, stritten zwar weniger, hatten aber auch ein kühleres, distanziertes Verhältnis.
Du siehst, liebe Annette, auch wenn Geschwister eine einzigartige Nähe verbindet, heißt das nicht, dass sie sich auch immer verstehen. Häufig ist genau das Gegenteil der Fall. Das ist zumindest zeitweise durchaus normal. Mir gefällt der Gedanke, den Nico aufgeschrieben hat: „Man sucht sich seine Geschwister nicht aus, aber man kann sich aussuchen, wie eng die Bindung ist.“ Das ist zwar wiederum auch nicht so einfach, wie es klingt, aber ein guter Denkansatz, wie ich finde. Ich danke Dir, Annette, jedenfalls für Deine Frage, denn sie hat mir geholfen, ein bisschen mehr zu verstehen, warum Geschwisterbeziehungen oft so kompliziert sind.
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Bildredaktion: Martin Gommel; Produktion: Vera Fröhlich