In einer Kita irgendwo in Deutschland steht ein Junge auf einem Höckerchen und probt die Revolution, während er darauf wartet, dass sein Frühstückstoast endlich fertig wird. Der Junge heißt Sergej, trägt Strumpfhosen und einen Streifenpulli, er ist drei Jahre alt und sein Brot schießt genau jetzt aus dem Toaster nach oben. Sergej nimmt es, steigt etwas wackelig von seinem Hocker und setzt sich an den runden Tisch.
Er legt den Toast vor sich auf das Schmierbrettchen, nimmt einen Esslöffel in seine kleine rechte Hand, tunkt ihn in ein Glas Marmelade, packt die klebrige Masse aufs Brot – und langt noch einmal mit dem Besteck ins Glas. Zwei große, viel zu volle Löffel Himbeermarmelade und damit eine ordentliche Ladung Zucker landen auf Sergejs Toast und schließlich in seinem Bauch.Tischnachbarin Tuana, 4 Jahre alt, macht große Augen und sagt: „Oha!“ Erzieherin Norina, 43 Jahre alt, guckt jetzt auch. Sonst tut sie nichts.
In einer anderen Kita hätte die Erzieherin in diesem Moment eingegriffen. Sie hätte wahrscheinlich geschimpft, das Marmeladenglas weggestellt, direkt ein neues, ein vernünftiges Toastbrost geschmiert. Aber Norina bleibt entspannt.
„Das lernt Sergej schon noch“, ist das Einzige, was sie sagt. Ein vertrauensvolles Lächeln schiebt sie als Versiegelung ihrer Aussage noch nach, während Sergej genüsslich sein Frühstück mümmelt und rote Marmelade sich in seinem Gesicht verteilt.
Für Norina und Sergej ist diese Szene Alltag. Denn in ihrer Kita, dem Dolli Einstein Haus im schleswig-holsteinischen Pinneberg, gelten besondere Regeln. Hier wird die Revolution nicht unterbunden, sondern ist explizit gewünscht. Hier bestimmen nicht nur die Erzieherinnen, sondern auch die Kinder: Ob und was sie essen, wer sie wickelt, wann sie schlafen, wo sie sitzen wollen, wer ihnen über den Kopf streicht, wer sie auf den Schoß nimmt, womit sie spielen möchten.
Dieser Text ist Teil der Artikelserie „So bekommen Kinder und Jugendliche mehr politische Macht“. Im nächsten Teil geht mein Kollege Bent Freiwald der Frage nach, ob Kinder bei der Bundestagswahl wählen dürfen sollten. Das willst du nicht verpassen? Dann abonniere hier seinen Newsletter „The Kids Are Alright“.
Diese Kindergrundrechte, wie sie im Dolli Einstein Haus genannt werden, sind nicht verhandelbar, sondern in der Kita-Verfassung festgeschrieben. Zum Beispiel Paragraph 10, Art.2: „Die Kinder haben ein Recht auf Windeln.“ Oder Paragraph 3, Artikel 1: „Der Kinderrat tagt einmal im Monat und bei Bedarf häufiger.“ 22 weitere Paragraphen gibt es, auch noch den Kinder-Gruppenrat. Wenn die Kleinen etwas stört, malen sie es auf Beschwerdezettel. Außerdem dürfen die Älteren entscheiden, ob und wann sie rausgehen aufs Außengelände. Allein.
Soll es am Kochtag Pfannkuchen geben oder Sandwich? Die Krippen-Kinder stimmen ab.
Das Dolli Einstein Haus, betrieben von der AWO, ist die erste zertifizierte Demokratie-Kita Deutschlands. Seit Anfang 2017 prangt das Schild am Haupteingang, das jeden Besucher gleich darüber aufklärt, was so besonders ist an diesem Ort. „Kinderstube der Demokratie“ steht auf dem Schild, verliehen wurde die Urkunde vom Institut für Partizipation und Bildung in Kiel. „Wir haben schon um die Nullerjahre an einem Partizipationskonzept rumgewerkelt“, sagt Ute Rodenwald, die Leiterin, „aber da hatten wir noch keinen roten Faden. Kontinuität ist das A und O.“
Die Frage ist bloß: Kann das klappen? Können zwei- oder dreijährige Kinder wirklich schon lernen, sich selbst zu organisieren? Und kann das Dolli Einstein Haus aus kleinen Menschen wirklich am Ende bessere Demokraten machen?
Rodenwald kennt die Zweifel. Und die Fragen, die sich daraus ergeben, sie hört sie immer wieder: Wie soll das denn bitte funktionieren? Ist das nicht ein Riesenchaos? Tanzen die Kleinen euch nicht auf der Nase herum? Diskutiert ihr nicht ständig?
„Am Anfang hab ich selbst nicht geglaubt, dass das klappen kann, vor allem nicht in der Krippe“, gibt Rodenwald zu und muss dabei ein bisschen lachen. „Aber heute wundere ich mich, wie viel wir den Kindern früher verboten haben.“
Rodenwald erzählt dann gern von der Kinderratssitzung im vergangenen Februar: Jede Gruppe in der Kita hat zwei gewählte „Weitersager-Kinder“, die eine Art Klassensprecher-Funktion übernehmen und fünf oder sechs Jahre alt sein müssen, also schon zu den Älteren zählen. Einmal im Monat kommen alle Weitersager-Kinder mit zwei Erzieherinnen zusammen. Im Februar diskutierte das Kinder-Parlament über das anstehende Faschingsfest. Darf, wer sich als Cowboy verkleidet, auch eine Spielzeugpistole mitbringen, lautete die Frage. „Nein, da kann man sich ja weh tun, wegen der Patronen“, sagte ein Kind. Ein anderes stellte als Argument dagegen: „Ja, aber mit einem Zauberstab kann man ja zum Beispiel auch jemanden wehtun, wenn man ein Kind damit haut.“ Schließlich stimmten die Kinder ab: Spielzeugpistole ja, denn die gehört zu einem Cowboy eben dazu. Patronen nein, weil zu gefährlich.
Wenn die zweijährige Lotti Mittagsschlaf macht, räumt sie ihre Sachen ordentlich in einen Korb.
Rodenwald staunt immer noch, wenn sie diese Szene erzählt. Darüber, wie gut die Kleinen schon urteilen können – wenn man sie denn lässt. „Kinder sind nicht anstrengend“, sagt sie, die seit mehr als zwei Jahrzehnten im Dolli Einstein Haus arbeitet und mit fast 60 Jahren in ihrem Denken mindestens so jung wirkt wie manche ihrer Mitarbeiter, die 40 Jahre jünger sind. „Dort, wo sie es können, sollen die Kinder mitbestimmen.“
Rodenwald war lange Jahre in der SPD, zur offiziellen Einweihung der Demokratie-Kita zitierte sie den früheren SPD-Bundeskanzler Willy Brandt: „Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu gestalten.“ Rodenwald ist Demokratin und Pädagogin durch und durch. Und davon überzeugt: „Wenn ich als Mensch meine Bedürfnisse kenne, diese annehme und auch lerne, sie zu vertreten, dann ist Demokratie ein Selbstläufer.“
Ganz so einfach ist es dann aber doch nicht. Weil es dort, wo nicht einer allein entscheidet, sondern viele zusammen, nie einfach ist. Wer genau hinsieht im Dolli Einstein Haus, kann beobachten, worum es in einer Demokratie auch immer geht: Um die Verteilung von Macht, um Vertrauen. Darum, einander zuzuhören. Und immer wieder um den Kompromiss, der jeden berücksichtigt, aber trotzdem die Gemeinschaft ermöglicht. Es ist ein ständiger Balanceakt zwischen Freiheit und Verantwortung.
Deutlich wird das beim Mittagessen in der Rabengruppe: Nur eines von sechs Kindern probiert die Broccoli-Möhrchen-Sauce wenigstens, die heute auf dem Speiseplan steht, alle anderen begnügen sich mit Kartoffelpüree. „Das muss man auch aushalten lernen“, sagt Norina, die Erzieherin, die mit den Kindern am Mittagstisch sitzt und gerade reihum Kartoffelbrei auf die Teller hievt.
Am Anfang sei ihr das schwergefallen, sagt sie. Emilia, sechs Jahre alt, hat heute auch keine Lust auf Gemüse. Sie ist eines der zwei Weitersager-Kinder aus der Rabengruppe und wirkt nicht nur wegen ihres Outfits wie eine Miniatur-Erwachsene: schmale Jeans, modisches T-Shirt, die hellblonden Haare geschnitten als trendiger Pagenkopf. Emilia hat ein Auge für ihre Kita-Genossen, sie schaut nach den jüngeren, hilft, wenn es mit dem selbstständigen Essen noch nicht so richtig klappen will, so wie jetzt beim Mittagessen.
Das Wort Demokratie hat sie schon mal gehört, daran erinnert sie sich, aber was bedeutet es noch gleich? Emilia überlegt angestrengt, ihre Stirn kräuselt sich für einen Moment, die Augen wandern an die Decke. „Keine Ahnung“, sagt sie und zuckt ratlos mit den Schultern. „Vielleicht … äh … Pups?“, springt die fünfjährige Chiara Emilia bei und kichert. Was das Besondere an ihrer Kita ist, hat Emilia aber schon verstanden: „Hier dürfen wir entscheiden.“ Zuhause läuft das anders, dort bestimmen die Eltern. Manchmal Papa, aber meistens die Mama, sagt Emilia. „Hier finde ich das besser.“
Beim Mittagessen isst jedes Kind nur das, was es mag. Erzieherin Norina akzeptiert das.
Dieses Partizipationskonzept fordert beide Seiten heraus: Die Erzieher, die ein Stück Selbstgewissheit abgeben müssen. Die Eltern, die auf das unübliche Konzept vertrauen müssen. Und die Kinder, die früh zur Selbstständigkeit erzogen werden: Seinen Tischplatz abräumen nach dem Essen; entscheiden, wann man zu einem anderen Kind auch mal „STOP!“ sagen muss, ohne dass ein Erwachsener hilft; sich für die Mittagsstunde hinlegen, obwohl es die Erzieherin nicht befiehlt. All das können in der Demokratie-Kita schon Zwei- bis Dreijährige. Weil sie es jeden Tag üben dürfen.
Und die Kleinen lernen noch eine Sache, die Experten „Selbstwirksamkeit“ nennen. Die Kinder erfahren, dass ihre Stimme zählt. Auf der anderen Seite lernen sie aber auch, dass der Mehrheitswille manchmal eben nicht mit dem eigenen deckungsgleich ist.
„Wir debattieren zuhause nicht alles aus“, sagt Sonja Staudinger, 39, Gesamtelternvertreterin in der Kita, „trotzdem ist uns wichtig, dass unser Kind von vorneherein weiß: Man muss nicht alles sagen und machen, aber man kann seine Meinung äußern.“ Tochter Zoe, 4 Jahre alt, besucht seit dem ersten Lebensjahr die Demokratie-Kita. Wie alle anderen Eltern hier hat auch Staudinger unterschrieben, dass sie sich mit dem Konzept der Kita einverstanden erklärt. Nichts sei schlimmer, findet sie, als geduckt durchs Leben zu gehen. „Mein Mann und ich sagen gern unsere Meinung, dementsprechend will ich, dass unser Kind das auch lernt“, erklärt sie.
Ihr Mann arbeitet Vollzeit als Serviceleiter in einer Schiffsfirma, sie 25 Stunden pro Woche im Innendienstservice für Schiffsersatzteile. Als Frau muss Staudinger sich in dieser Männerwelt behaupten können. Sie selbst ist bei den Großeltern aufgewachsen. Dort gab es Regeln, „eine feste Strenge“, wie Staudinger es nennt, „aber mein Opa hat immer gesagt: ‚Wenn du zu was stehst, musst du das dem anderen auch ins Gesicht sagen.“
Ute Rodenwald, die Leiterin, glaubt: „Man kann eine Grundhaltung lernen. Die würde ich aber nicht Demokratie nennen, sondern: Ich bin ich.“
Ob ein Mensch im Erwachsenenalter allerdings politisch wirklich partizipiert, hängt von verschiedenen Faktoren ab: vom Bildungsgrad, der Sozialisation, der Selbstwirksamkeit. „Wenn man früh lernt, mitbestimmen zu dürfen, ist später die Motivation schon höher, sich einzubringen“, sagt Kerstin Pohl, Professorin für Fachdidaktik Sozialkunde und Politik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. „Aber es gibt keine Langzeitstudien, die zeigen: Wer Partizipation schon im Kindergarten gelernt hat, ist später politisch aktiv.“
Kuscheln darf trotz aller Freiheit in der Demokratie-Kita nicht zu kurz kommen.
Die Erzieherinnen im Dolli Einstein Haus müssen bei ihrer Arbeit immer auch sich selbst hinterfragen. Wissen Erwachsene wirklich in jeder Situation besser als Kinder, was gut für sie ist? Ist es wirklich gerechtfertigt, dass in der Regel den Erwachsenen die Deutungshoheit zugeschrieben wird? Brauchen Kinder in unserer Gesellschaft nicht eine lautere Stimme? Manche Menschen begreifen das Machtungleichgewicht zwischen Erwachsenen und Kindern, genannt Adultismus, als Form der Diskriminierung, die ähnlich funktioniert wie Rassismus oder Sexismus. Adultismus-Kritiker:innen zweifeln an der Deutungshoheit der Erwachsenen gegenüber Kindern, die die meisten Menschen als selbstverständlich begreifen. Sie halten sie für überflüssig und wollen sie abschaffen.
Die Idee eines Kinderwahlrechts findet Kita-Leiterin Ute Rodenwald nicht uninteressant. Und falls es so weit käme: „Ihre“ Kinder aus der Kita wären gut vorbereitet. Üben sie doch regelmäßig, wie man wählt. Geheim natürlich: Wird im Gruppenrat abgestimmt oder entschieden, wer zum Beispiel den Job als Weitersager-Kind machen darf oder ob es am wöchentlichen Kochtag Sandwich oder Pfannkuchen geben soll, stimmen die Kinder mithilfe von Bildern und kleinen Glassteinchen ab. Jedes Kind bekommt ein solches Steinchen, das eine Unterschrift symbolisieren soll. Bildchen oder Fotos der Gegenstände oder Personen, über die abgestimmt wird, ersetzen Wahlzettel.
Jetzt ist aber erstmal der Kita-Rat an der Reihe, der einmal im Monat tagt. Die Weitersager-Kinder aus der Delphin-, Robben-, Frosch- und Rabengruppe haben sich im Besprechungsraum um einen Tisch versammelt, außerdem sind Erzieherin Norina und ihre Kollegin Moni aus der Robbengruppe heute mit dabei. Emilia hat vorsorglich als Verstärkung ihren Teddy mitgebracht, der auf der Fensterbank Platz nimmt. Heute soll besprochen werden, welche neuen Draußen-Spielsachen für den Sommer nötig sind.
Der Kinderrat als Parlament der Kleinen: Erzieherin Moni hilft den Weitersager-Kindern.
Moni und Norina erläutern noch einmal die Regeln, die im Kinderrat gelten, als Erinnerung für alle: Ich bin mit dabei, ich höre zu, ich überlege, ich spreche es aus.
Dann geht es los: „Was könnten wir brauchen für den Sommer?“, fragt Moni die Kinder? Liv, Weitersager-Kind bei den Robben, meldet sich: „Ich hab eine Idee, ich hab schon kaputte Sachen gesehen, so eine Schaufel, mit der wollte ich letztens spielen“, sagt sie zaghaft. „Okay“, sagt Moni und geht die Runde weiter durch, „und was hast du dir für Gedanken gemacht, Pia?“ „Ich wollte auch so gerne mit einer Schaufel spielen, aber die hatte einen Riss.“ „Haben wir zu wenige davon?“, fragt Moni. „Jaaaa“, sind die Kinder sich einig.
Emilia hört aufmerksam zu, sitzt mit durchgedrücktem Rücken auf ihrem Stühlchen und hat die Hände verschränkt auf dem Tisch abgelegt. „Wir haben zu wenige Plastikstühle“, sagt sie, „und man will ja nicht umkippen in so einem kaputten Stuhl.“ „Stimmt“, sagt Moni, „da hast du recht. Was brauchen wir noch? Was ist mit Besen und Seilen? Brauchen wir die auch? Ihr dürft das ja entscheiden, aber wir müssen auch gucken, ob wir genug Geld haben.“
Welche Spielsachen brauchen wir für den Sommer? Anuk malt ihre Idee auf ein Whiteboard.
Reihum spricht sie jedes Kind an. Noel, Weitersager-Kind aus der Delphingruppe, ist müde, reibt sich die Augen und rutscht auf dem Stuhl hin und her, während nach und nach alle Gegenstände an eine Tafel gemalt werden, die den Kindern einfallen für den Sommer: Stühle, Siebe, Seile, Schaufeln. Außerdem noch das Holzpferd, das die Kita geschenkt bekommen hat. Die Kinder sammeln weiter Ideen, danach werden alle Gegenstände auf ein Whiteboard gemalt und von jedem Kind auf ein Blatt Papier übertragen; als eine Art Protokoll und Erinnerungszettel für die Weitersager-Kinder, die den Beschluss nun in ihre Gruppenräte tragen werden. Nach etwas mehr als 45 Minuten gähnt das erste Kind, Noel fallen fast die Augenlider zu. Für heute ist die Sitzung zu Ende.
Manchmal ist echte Mitbestimmung anstrengend. Trotzdem nutzen die Kleinen im Dolli Einstein Haus ihr Recht darauf – und das ist auch gut so. Früh übt sich eben, wer ein:e Demokrat:in werden will.
Hast du das Gefühl, diesen Text schon einmal gelesen zu haben? Das kann sein! Wir haben diesen Text 2017 zum ersten Mal veröffentlicht. Weil er aber sehr gut in unsere neue Artikelserie „So bekommen Kinder und Jugendliche mehr politische Macht“ passt, haben wir ihn jetzt noch einmal aktualisiert.
Ute Rodenwald ist mittlerweile pensioniert. Das Dolli Einstein Haus wird jetzt von Heike Schlüter und Melanie Eisenberg geleitet.
Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotos: Martin Gommel; Audioversion: Iris Hochberger