Wann ist ein Leben wirklich zu Ende?
Leben und Lieben

Wann ist ein Leben wirklich zu Ende?

Herzschlag gegen Hirnstrom: KR-Mitglied Tim will wissen, wann ein Mensch eigentlich tot ist. Die Antwort auf diese Frage ist schwieriger als viele denken. Ich habe Neurowissenschaftler und Leser Andrej Bičanski gebeten, sie uns zu beantworten.

Profilbild von Susan Mücke
Reporterin für Leben und Alltag / Chefin vom Dienst

Die kurze Erklärung:

Die gesetzlichen Kriterien besagen, dass ein Mensch hirntot ist, wenn seine Groß-, Klein- und Stammhirnaktivität vollständig und irreversibel erlischt. Die Medizin hat einen Katalog an Tests und Diagnosen zusammengestellt, die diesen Zustand feststellen sollen. Diese Interpretation deckt sich mit den philosophischen Grundannahmen der Hirnforschung: Das Gehirn ist der Träger und Erzeuger unserer Erfahrungen und unseres Empfindens.

Wer die Frage beantwortet:

Foto: privat

Andrej Bicanski hat Physik in Heidelberg studiert und dort sein Diplom gemacht. Im Jahr 2013 hat er an der ETH Lausanne in Neurowissenschaften promoviert. In seiner Doktorarbeit (PhD) beschäftigte er sich mit Rückenmarks-Netzwerken, die mit ihren Impulsen Bewegungszyklen erzeugen und koordinieren. Seit 2013 arbeitet Bičanski am University College London, wo er an Modellen von Hirnprozessen forscht, die an unserem Erinnerungsvermögen und der räumlichen Navigation beteiligt sind.

Die ausführliche Antwort:

Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist die Frage von Tim nach dem Hirntod schwieriger zu beantworten, als es die kurze Antwort vermuten lässt. Mediziner, Hirnforscher und Philosophen debattieren das Thema kontrovers und mit verschiedenen Schwerpunkten. Bei der historisch noch jungen Disziplin der Neurowissenschaften ist zu beachten, dass viele der vermeintlichen gedanklichen Fundamente nicht unumstritten sind, während bei anderen Wissenschaften, wie etwa der Physik, die Grundannahmen recht fest stehen. Mein Beitrag ist daher als Versuch anzusehen, eine neurowissenschaftliche Perspektive anzubieten, die auch unter Kollegen vielleicht nicht unumstritten ist.

Ich will in meinem Beitrag beschreiben, warum das Kriterium des Hirntods aus neurowissenschaftlicher Sicht durchaus sinnvoll ist. Die tatsächlichen klinischen Kriterien aber, die ein Mediziner anwenden muss, kann ich nicht bewerten (weil ich nicht qualifiziert dafür bin). Die möglichen Ängste von Organspendern, eventuell voreilig für tot erklärt zu werden, kann nur ein Mediziner entkräften.

Der menschliche Geist sitzt im Hirn, nicht im Herzen

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf können wir loslegen: Wie kann eine neurowissenschaftliche Perspektive auf den Hirntod aussehen? Schon vor knapp 2000 Jahren stellte der griechische Gelehrte Herophilos, der in Alexandrien lehrte, die Hypothese auf, dass das Gehirn und nicht das Herz der Sitz des Intellekts sei. Für das Konzept des Hirntods ist es von zentraler Bedeutung, dass die Intelligenz und das Selbst eines Menschen irgendwo im Körper ihren Ursprung haben. Als Todeskriterium hat der Herztod trotz Herophilos’ Einsicht aber lange dominiert. Das Herz galt unter anderem auch als Sitz der Seele. Etwas salopp gesagt: Solange das Herz schlug, war man am Leben, stand es still, war man tot. Schwierig wurde die Interpretation dann, wenn ein Mensch nach einem Herzstillstand reanimiert wurde oder wenn er in ein irreversibles Koma fiel (zum Beispiel nach schweren Hirnschäden) und nur noch durch künstliche Beatmung gewissermaßen am Leben gehalten werden konnte. Fortschritte in der Medizin waren es, die die Diskussion über Todeskriterien antrieben und nach wie vor befeuern.

In Frankreich hat man schließlich 1966, aufbauend auf verschiedenen wissenschaftlichen Arbeiten, den Funktionsverlust des Gehirns als Todeskriterium eingeführt. Deutschland folgte 1968. Einige Gesetzesergänzungen, auch im Rahmen der Organspende, folgten, aber das Grundgerüst besteht weiter. Aus neurowissenschaftlicher Perspektive sind die Gründe interessant, die uns dazu veranlassen, eine Person für tot zu halten, wenn eine bestimmte Art von Gehirnaktivität ausbleibt, obwohl der Körper sozusagen am Leben gehalten werden kann (inklusive Stoffwechsel und Atmung).

In den Richtlinien der Bundesärztekammer zur Feststellung des Hirntods heißt es, dass dieser mit dem „endgültigen, nicht behebbaren Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms“ eintritt. Dieser „endgültige Ausfall“ manifestiert sich beispielsweise in der Abwesenheit von bestimmten Reflexen und eigenständiger Atmung, in Koma und einem Null-Linien-EEG. Bei einem EEG (Elektroenzephalogramm) werden die Hirnströme an der Schädeloberfläche gemessen. Sie sind ein Maß für die elektrische Aktivität des Gehirns. Ein Null-Linien-EEG ist gleichbedeutend mit dem Erlöschen der Großhirnaktivität.

Diese Kriterien haben sich allerdings kaum in Anlehnung an die noch jungen Neurowissenschaften entwickelt, sondern fußen auf Jahrzehnten medizinischer Fallbeispiele und Erfahrungen. Idealerweise sollten aber Medizin und Hirnforschung zu dem gleichen Schluss kommen.

Jedem Geisteszustand entspricht ein physikalischer Zustand des Gehirns

Wenn wir uns an eine neurowissenschaftliche Interpretation heranwagen wollen, dann ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, die Grundannahmen der Hirnforschung zu benennen. Diese werden (auch in der modernen Forschung) meist nicht explizit benannt. Sie gehören einfach zum Grundgerüst des Forscherdenkens.

Ich möchte hier nicht für alle Kollegen sprechen, dennoch würde ich sagen: Wer Hirnforschung betreibt, setzt voraus, dass Messungen am lebenden Gehirn einen Aspekt der Sinneswahrnehmung, der Produktion von Motorik oder der Kognition des Probanden (beziehungsweise des Versuchstiers) während eines Experiments widerspiegeln. Mit anderen Worten: Die physikalisch messbare Gehirnaktivität reflektiert die Verarbeitung von Sinneswahrnehmung und die Produktion von Motorik durch das Gehirn. Die Kernhypothese ist hierbei, dass jeder Geisteszustand einem physikalischen Zustand des Gehirns zugeordnet werden kann. Wie genau diese Gehirnaktivität mit dem subjektiven Empfinden eines Menschen zusammenhängt, ist jedoch eine offene Frage. Sie beschäftigt Philosophen schon lange.

Ein starkes Argument für diese Interpretation ist, dass physische Schäden am Gehirn zu teilweise grotesken Defiziten in der Sinneswahrnehmung und Kognition eines Menschen führen können, wie der Neurologe und Autor Oliver Sacks wunderbar in seinen Büchern beschreibt. Auch die bahnbrechenden Experimente des kanadischen Neurochirurgen Wilder Penfield sind ein gutes Beispiel dafür. Penfield hatte während einer Operation am offenen Gehirn bei der Suche nach Epilepsiezentren (mit dem Einverständnis der Patienten) die Großhirnrinde elektrisch stimuliert, was lebhafte Sinneseindrücke und gar den Abruf von Erinnerungen zur Folge hatte.

Das Gehirn ist Träger des Ich-Gefühls

Schäden am Gehirn bringen also starke Defizite der Kognition und/oder der Wahrnehmung mit sich. Eine elektrische Stimulation des Gehirns kann Sinneseindrücke erzeugen. Die physikalische Gehirnaktivität reflektiert also wohl tatsächlich den momentanen Geisteszustand. Dies bleibt aber eine Hypothese, da unsere Messmethoden dem Anspruch um Lichtjahre hinterher hinken, das Gehirn in all seinen Facetten zu erfassen. Es scheint mir jedoch die einzige Hypothese zu sein, die es erlaubt, Messungen am lebenden Gehirn mit Verhalten zu korrelieren. Und genau das wird ständig im wissenschaftlichen Alltag gemacht, ohne tatsächlich über diese Grundannahmen zu philosophieren.

Bringt uns dieser philosophische Exkurs einer neurowissenschaftlichen Sichtweise auf den Hirntod näher? Und deckt sich diese Perspektive mit den medizinischen Kriterien? Ich würde sagen, ja. Alle medizinisch-neurologischen und neurowissenschaftlichen Befunde sprechen dafür, dass unser Ich-Gefühl, unsere Wahrnehmung, unsere Erinnerungen und unsere Emotionen von Gehirnprozessen getragen beziehungsweise erzeugt werden. Diese Grundannahme ist so formuliert zwar etwas vereinfachend, im Kern aber zutreffend.

Sind die Neuronen abgestorben, ist das Selbst unwiederbringlich verloren

Ich würde also sagen, das medizinische Konzept des Hirntods deckt sich hier erstaunlich gut mit der Perspektive der Neurowissenschaften. Wenn Hirnforscher die Aktivität des Gehirns messen, versuchen sie, diese Aktivität komplexen Denkvorgängen zuzuordnen. Das heißt nichts anderes, als dass die Neurowissenschaft der reduktionistische Unterbau der Psychologie sein will, zumindest theoretisch. Es geht tatsächlich darum, dass rein theoretisch die Psychologie auf die Gehirnaktivität „reduzierbar” sein sollte, wenn man perfekte Kenntnis des physischen Gehirnzustands hätte. Ob die Forschungsrealität diesem Anspruch jemals gerecht werden kann, sei dahin gestellt. Aber in letzter Konsequenz bedeutet diese Herangehensweise, dass auch komplexe kognitive Fähigkeiten auf die Aktivität von Neuronen zurückzuführen wären. Sind die Neuronen abgestorben oder ist der geregelte Informationsfluss zwischen neuronalen Zentren unwiederbringlich verloren, so ist auch das Selbst unwiederbringlich verloren, welches diese Kognition durch sein Gehirn vollführte. Das, was das Gehirn trug und erzeugte, ist verloren. Man könnte sagen: tot bzw. hirntot. Dass zu diesem Zeitpunkt noch nicht alle Haut- oder Darmzellen des Körpers ihre Funktion eingestellt haben, oder dass Organe dann noch mit Nährstoffen versorgt werden können, ist bei dieser Interpretation unerheblich.


Redaktion und Produktion: Esther Göbel, Fotoredaktion: Martin Gommel.