Auf einer Insel in der Loire liegt verlassen ein altes langgezogenes Bauernhaus. Von der Seitenwand des Steinhauses schaut ein Gesicht auf einer Büste: kantige Züge, hohe Stirn, kleiner Spitzbart und strenger Blick. Dieser erste Lenin bestätigt uns, dass wir am Ziel unserer Reise angekommen sind. In seinem Haus, wo Dutzende Lenins die Besucher erwarten.
Aber warum hier? Was sucht eine Kultstätte für einen bolschewistischen Anführer in Chalonnes-sur-Loire, einem westfranzösischen Provinznest mit 6.700 Einwohnern? „Lenin kommt nicht von hier, na und? Kommt Jesus Christus etwa von hier? Nein, und trotzdem gibt es in Chalonnes zwei Kirchen!“
Martine Thouet lächelt hinter ihren getönten Brillengläsern. Sie ist die Hausherrin im Café Lenin. Mit ihrem gebräunten Teint, ihren kurzen wasserstoffblonden Haaren und einem unerschütterlichen Lächeln fällt sie auf. Das Kleid, das sie trägt: knalliges Rot, tiefes Dekolleté. An diesem späten Nachmittag im Mai diskutiert sie auf der Terrasse des Cafés mit ihren Gästen, duzt alle, bricht in lautes Gelächter aus. All das unter den strengen kleinen Augen ihres Idols, dem Vater der russischen Revolution.
Vor zehn Jahren öffnete das Café Lenin am Ufer der Loire. Eine Art alternatives Bistro und Museum in einem, ein Ort, an dem man ein Bier trinken, russisch zu Abend essen, aber auch ein Konzert anhören kann. Überall stehen kleine Statuen und Konterfeis des Revolutionsführers, aber auch Bücher, Propagandaplakate, russische Schallplatten, Rubel und Nippes.
Vor vierzig Jahren hat Martine angefangen, diese Objekte in den ehemaligen Ostblockstaaten aufzulesen: Polen, Ukraine, Bulgarien, Rumänien, Tschechien. Ein Teil der Welt, den Martine Thouet seit ihrer Jugend kreuz und quer durchreist hat.
„Ich wollte mit dem Café eine für mich ideale Welt rekonstruieren“
Der Ort ist einzigartig in Europa. Nur im finnischen Tampere gibt es noch ein anderes Museum, das auf ähnliche Weise dem kommunistischen Führer huldigt. Die Wohnung im 14. Arrondissement von Paris, in der Lenin während seines Exils von 1909 bis 1912 mit seiner Familie lebte, hat dagegen nur eine Zeit lang als Gedenkstätte gedient, bis sie vor zehn Jahren wieder zumachte.
Auch heute noch erinnert Abenteuerin Martine sich an ihre erste Reise mit Freunden in den Ostblock. Damals studierte sie noch Wirtschaftswissenschaften. „Ich war sehr neugierig, selbst zu sehen, was sich da abspielte. Man erzählte uns, dass es die Hölle sei. Dass alle dort im Gulag säßen oder kurz davor stünden“, erzählt die heute Sechzigjährige. Sie sitzt dabei in einem Ledersessel mitten in ihrem nostalgischen Nippes. „Aber als wir in Bulgarien angekommen sind, was damals als ein sehr abgeschottetes Land galt, sind wir auf Leute getroffen, die die ganze Zeit gefeiert haben. Sie waren total gut drauf, sie haben getanzt, gesungen. Ich bin mit einem völlig anderen Eindruck wieder nach Hause gekommen.“
Teil 4 unserer Frankreich-Reihe: Bis zum Beginn der Präsidentschaftswahl Ende April veröffentlicht Krautreporter jede Woche eine neue Reportage über die Konflikte, Sehnsüchte und Unsicherheiten unserer Nachbarn auf der anderen Seite des Rheins. Eine Zusammenarbeit mit unserem französischen Partnerprojekt Le Quatre Heures.
Ihre Wanderschaft durch die kommunistische Welt motivierten Martine – die inzwischen Russisch gelernt hatte – dazu, das Café Lenin zu gründen: „Mein ganzes Leben war dem Bedürfnis gewidmet, eine Welt zu rekonstruieren, die mir verdammt gut gefallen hatte und die mir wie eine Art Ideal im Gedächtnis geblieben ist.“ Und gleich darauf erklärt sie: „Das hier ist eine Kolchose“, ein Kollektivbetrieb.
Jeder, der will, kann an der Bar aushelfen. Die Küche wird gemeinsam betrieben und hat den ganzen Tag geöffnet. Wer über Nacht bleiben will, der kann in einem großen Schlafsaal nächtigen. Wer ein bisschen mehr Intimität wünscht, kann auch in der russischen Isba Zuflucht suchen, einer Art kleinen Holzhütte auf Stelzen, die sich allerdings nicht absperren lässt
„Ich wäre gern so wie Lenin gewesen“
Am Tresen ist nicht viel los an diesem Samstagabend. Schuld ist wohl das draußen tobende Gewitter. Es bedient Kellnerin Louise die wenigen Gäste, die trotzdem gekommen sind. Über dem alten Waschbecken hinter ihr thront eine Stele mit einem roten Stern an der Spitze und zwei Daten: 1870-1924. Das Geburts- und Sterbedatum des bolschewistischen Idols.
Martine wird nicht müde zu wiederholen, dass im Café Lenin die Zeit im Jahr 1924 endet. „Mir geht es hier um das Ideal zwischen 1917 und 1924, um die Zeit, als Lenin versucht hat, ein System auf die Beine zu stellen, das die Dinge gerechter und lebenswerter für die Menschen machen sollte, die bis dahin nur die Zarenherrschaft kannten. Er hat versucht, so vielen Menschen wie möglich Zugang zu Bildung, Elektrizität und Komfort zu verschaffen.“
Und die blutige Niederschlagung des Matrosenaufstands von Kronstadt? Und die große Hungernot von 1921 bis 1922, die tausende Menschen das Leben gekostet hat? Und die Jagd auf den russischen Klerus? „Der Bürgerkrieg hat 1918 angefangen. Man sollte die Elemente, die aus Lenin wegen des Bürgerkriegs einen Kämpfer gemacht haben, nicht mit dem verwechseln, wofür er die Macht ergriffen hatte. Ich glaube, es liegt an einem Missverständnis, dass er heute wie ein grauenhafter Tyrann erscheint, der Menschenleben auf dem Gewissen hat. Er hat sich nur verteidigt.“
Ihr Wissen über den Vater der russischen Revolution und seine Zeit ist enzyklopädisch. Eine bombenfeste rote Bildung, auf die sie sich stützen kann, um ihren Vladimir Iljitsch mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Sogar ein Buch hat sie daraus gemacht, Wenn ich Lenin wäre. „Ich wäre gerne so wie er – wenn es mir vergönnt gewesen wäre, in meinem Leben etwas Großes zu vollbringen. Ein Café Lenin zu eröffnen, das ist nicht wirklich wichtig. Aber Lenin zu sein, das ist etwas Wichtiges.“
„Martine ist ein Großmaul, aber auf sympathische Art“
Mit ihren 63 Jahren hat Martine Thouet vielleicht keine Weltrevolution hinter sich, aber immerhin einige Kämpfe auf lokaler Ebene. Als Tochter eines militanten Gewerkschafters, der in einer psychiatrischen Klinik in einem Ort nahe Angers tätig war, hat sie später selbst die Fahne derselben Gewerkschaft hochgehalten. Vor allem bei der Finanzverwaltung, bei der sie seit 1975 tätig war. Ein Beruf, der ihr erlaubt hat, sich für die korrekte Verwaltung der öffentlichen Mittel einzusetzen.
Natürlich hat sie sich nicht nur Freunde damit gemacht, Abgeordnete auf frischer Tat zu ertappen. „Ich war nie in der Position, beeinflussen zu können, wie die Mittel beschafft werden. Aber wie sie verwendet werden, dazu habe ich immer meine Meinung gesagt“, versichert sie.
Sei es in der Gewerkschaftszentrale oder bei den Versammlungen der kommunistischen Partei, deren Mitglied sie früh geworden ist, Martine Thouet ist für ihre Wutausbrüche bekannt. „Sie ist ein Großmaul, aber auf sympathische Art“, beschreibt es Alain Pagano, der Sekretär der kommunistischen Partei des Départements, der zugibt, schon mehrmals mit ihr aneinandergeraten zu sein. „Sagen wir es so: Sie ist ein Mitglied, das die Partei in einem anderen Licht erstrahlen lässt.“
Im Jahr 2001 verschwindet Martine allerdings aus den militanten Kreisen der Gemeinde. Ziel: Sofia, wo sie zur Steuerexpertin bei der Europäischen Kommission ernannt wird. Ein Wink des Schicksals, hier hilft ihr das Wirtschaftsstudium. Ihre Arbeit besteht darin, die Finanzen der Staaten im Vorfeld ihres EU-Beitritts zu prüfen. Eine freudige Rückkehr in vertraute Gefilde. Nach Bulgarien geht es in den Kosovo, dann nach Kroatien und Bosnien.
Sieben Jahre lang reist sie durch die Länder des ehemaligen Ostblocks, diesmal in geschäftlicher Mission. Eine Welt, die sich mitten im Übergang von einem kommunistischen in ein kapitalistisches System befindet. Mit all den Auswüchsen und sozialen Ungleichheiten, die über einen Teil der Bevölkerung mit voller Wucht hereinbrechen.
In diesem Kontext ist es nicht unbedingt abwegig, sich auf das Erbe des Vaters der russischen Revolution zu berufen. „Anfang der 2000er Jahre haben sich viele Leute mit dem Kapitalismus sehr unwohl gefühlt, weil viele darunter völlig verwahrlost sind. Manche haben damals schon gesagt, dass sie das kommunistische System vermissen.“ Die berühmte „Nostalgie“ nach einer Welt, „in der alle Arbeit hatten, ein Existenzminimum, Zugang zu Ausbildung, zu medizinischer Versorgung etc.“
„Das Café ist ein bisschen zu rot für meinen Geschmack“
Ein Gefühl, das man nicht nur im ehemaligen Ostblock findet. Auch im Westen gibt es junge Leute, die die kommunistische Ära fasziniert. So etwa auf Flavien und Michel, zwei Freunde in den Dreißigern, die es sich auf der Terrasse des Café Lenin bequem gemacht haben. Die beiden Kumpel waren zusammen viel in der ehemaligen Sowjetunion unterwegs: Aserbaidschan, Usbekistan, Georgien … „Es gibt dort noch alle möglichen wahnsinnigen Denkmäler zu Ehren der Partei. Das ist schon lustig als Kunstform. Uns gefällt diese Art von Propaganda. Sie amüsiert uns“, erzählt Flavien mit einer Spur Ironie.
Neben ihm nimmt sein Kumpel Michel einen Schluck Bier. Der Sympathisant von Front de gauche, der Linksfront, der eine Baskenmütze auf seiner braunen Mähne trägt, ist seit einem Jahr Stammgast des Cafés. Die Ehre, die Lenin hier erwiesen wird, passt zu seinen eigenen Überzeugungen. „Die historische Persönlichkeit hatte widersprüchliche Seiten“, räumt der junge Mann ein, der 60 Kilometer entfernt wohnt. „Aber er bleibt eine Ikone, weil er in Russland der erste Anführer der kommunistischen Revolution war. Er ist das Symbol dafür, dass solche Dinge möglich sind.“
Doch bei weitem nicht alle Kunden des Cafés Lenin sind politisch links orientiert. Viele zieht der Ort einfach als Kuriosität an. „Ich habe dort schon Geschäftsführer großer Betriebe getroffen“, berichtet Stella Dupont, die sozialistische Bürgermeisterin von Chalonnes-sur-Loire, die auch oft im Café anzutreffen ist. Dem breiten Publikum gefällt der Ort einfach, weil er so schräg ist. Nicht alles davon ist ganz ernst zu nehmen. Maurice, 77 Jahre alt, der mit seiner Familie zum ersten Mal das Café besucht, ist davon nicht ganz überzeugt. „Ein bisschen zu rot für meinen Geschmack“, sagt er und wirft einen skeptischen Blick auf das große revolutionäre Fresko ihm gegenüber.
Martine steht derweil in der Küche und bereitet das Abendessen vor. Seit sechs Uhr morgens ist sie auf den Beinen, um zu schälen, zu schneiden und Zutaten zu mischen. Natürlich russische Gerichte. Für den Anfang Sakuski auf der Basis von Linsen, Roten Beten, Weichkäse mit Paprika und Bratkartoffeln. Dann ein Borscht, Rindfleisch mit Soße und Gemüse, dazu Maisbrötchen. Und zum Schluss natürlich ein Dessert: Wodka-Creme.
Auch das Kochen ist eine ihrer Leidenschaften, das hat sie von ihrer Großmutter väterlicherseits geerbt. Eine einfache Wäscherin, die ihr ganzes Leben auf einem Bauernhof verbrachte. „Mit fast nichts kochte sie uns die köstlichsten Sachen“, erinnert sich Martine, während sie sorgfältig einen Camembert zerteilt. „Durch meine Großmutter und die Russen habe ich gelernt, dass man nicht reich sein muss, um gut zu essen und es zu genießen.“
„Das ist hier ist ein Ort jenseits aller Normen. Eine andere Welt“
Dann ist das Essen fertig. Mit dem Schöpflöffel in der Hand bereitet Martine die Teller vor. „Manche glauben, dass wir eine Kantine sind und bedienen sich irgendwie“, bemerkt sie, während sie Linsen in einen Teller schöpft. Auch wenn der Ort wie eine Kolchose funktioniert, sind nicht alle hungrigen Kunden zum Teilen bereit.
Draußen regnet es inzwischen in Strömen, Blitze durchzucken den Himmel, der Donner grollt. Im Café regiert die Gemütlichkeit. Die Gäste kosten an großen Tafeln ihre Sakuski und diskutieren mit ihren Sitznachbarn, die sie eine Minute vorher noch nicht kannten.
Das Duzen ist hier obligatorisch. Und das ganz selbstverständlich, wie Nathalie bemerkt. Die Fünfzigjährige arbeitet seit der Eröffnung im Jahr 2006 als Freiwillige im Café. „Es gibt Leute, die sehe ich nur hier. Wir duzen uns, obwohl ich nicht mal ihren Vornamen weiß. Wir geben uns Küsschen, wir fragen uns, was es Neues gibt. Ich weiß nicht, wo sie arbeiten, ich kenne sie nicht, ich weiß überhaupt nichts von ihnen. Aber wir freuen uns immer, wenn wir uns sehen. Das ist hier ein Ort jenseits aller Normen. Es ist ein bisschen eine andere Welt“, fasst die Kunstlehrerin zusammen.
Dann beginnt das Konzert. Das durchgeknallte Quartett Le Bibich’ Tourneur taucht in einer Ecke des Saales auf. Geige, Akkordeon, Gitarre und Kontrabass ertönen. Für anderthalb Stunden gehört der Raum ganz der Musik, die vom Balkanklängen und russischen Tönen inspiriert ist.
„Die wollten uns nur Angst machen“
Die Einnahmen des Abends dienen dazu, die Künstler zu bezahlen. Nicht die, die hinter dem Tresen stehen. Alle, die hier arbeiten, sind ehrenamtlich tätig. Das Café wird von einem gemeinnützigen Verband betrieben und hat nur am Wochenende geöffnet, von Anfang April bis Ende Oktober. „Ich verdiene an dieser Bar überhaupt nichts“, betont Martine Thouet. „Ich verliere sogar Geld. Wenn die Kasse leer ist, bin ich diejenige, die sie wieder auffüllt.“
Zusätzlich zu den finanziellen Engpässen sind die zehn Jahre seit der Gründung nicht immer ruhig verlaufen. Anfangs gab es Angriffe durch rechte Parteien aus der Region. „Sie haben sehr viel Energie aufgewendet, um uns zur Schließung zu drängen“, prangert die Chefin an. „Sie haben uns alle Arten von Kontrollen aufgehalst, die Sie sich vorstellen können. Dabei haben wir nie missioniert.“
Eines Morgens musste Martine Thouet sogar feststellen, dass ihr Bistro Randalierern zum Opfer gefallen war. Tische und Stühle waren umgestoßen, die Objekte ihrer Sammlung überall verstreut, die Bilder abgerissen. In dem Teil des Museums, das als Museum dient, lag die imposante Lenin-Büste, die sie von einem russischen Minister erhalten hatte, mit dem Gesicht auf dem Boden. Ein anonymer Angriff, bei dem zumindest nichts zerstört worden war. „Die wollten uns nur Angst machen“, wischt die Betreiberin ihre Erinnerung mit einer Handbewegung zur Seite.
Es braucht mehr, um sie einzuschüchtern. Denn abgesehen von diesen traurigen Episoden hat das Café immer “bombig“ funktioniert, wie sie sagt. In den zehn Jahren, seit es eröffnet hat, wurden hier Geburten und Taufen gefeiert, sogar eine Hochzeit. Zu den Momenten, die ihr im Gedächtnis geblieben sind, zählen auch die Abende mit nicht ganz gewöhnlichen Gästen am Tresen. Dazu gehört ein Mann aus Uruguay, der Che Guevara durch Bolivien begleitet hatte, oder die Enkelin von Friedrich Engels, dem sozialistischen Theoretiker und großen Freund von Karl Marx. Abende mit Schriftstellern wie Gonzague Saint Bris oder Zeichnern wie Jacques-Armand Cardon vom Canard Enchaîné, die zu den Stammkunden gehören.
„Ab und zu mache ich mich auch ein bisschen lustig über Lenin“
In der hintersten Ecke des Speisesaals dauert das Konzert noch an, in einer warmen und geselligen Atmosphäre. Die Musiker spielen ein Stück nach dem anderen, das Publikum hört zu und klatscht mit den Händen im Takt. Frauen, die nicht mehr ganz jung sind, fangen an, auf den Bänken zu tanzen. Martine Thouet steht inmitten des Geschehens und jubiliert.
Das letzte Stück verklingt. Die eng aneinander gedrängten Musiker machen Platz für die Königin des Hauses. Ohne Mikro stellt sie sich vors Publikum und legt los.
“Als meine Mutter vergeblich
eine Klinik suchte
um sich entbinden zu lassen.
Als sich alle Türen vor ihrer Nase schlossen,
da setzte sie mich in einem armseligen Hinterhof trotzdem in die Welt.”
Wie eine Dirigentin reißt ihre heisere Stimme den Rest des Publikums mit, das im Chor den Refrain anstimmt.
“Hinter einer Mülltonne, wo ich das Licht der Welt erblickte,
als uneheliches Kind einer wilden Liebe,
den Hintern in Kartoffel- und Zwiebelschalen.
Dort wo es nach Bratfett stinkt, nach Kippen und nach Seife
aus Marseille.”
Als die letzten Töne verklingen, erschallt donnernder Applaus und Gelächter. Schon seit vierzig Jahren singt Martine dieses Lied, dem sie den Titel „Der Mülleimer“ gegeben hat. Zum zehnten Jubiläum des Cafés hat sie es sogar in zehn verschiedenen Versionen als Album aufgenommen, gespielt von zehn Gruppen, die mal im Café aufgetreten sind. Es gibt eine marokkanische Version, eine russische, eine spanische und noch mehr.
Aber nimmt sie mit einem solchen Lied ihren geistigen Mentor nicht ein bisschen auf die Schippe? „Ab und zu mache ich mich ein bisschen lustig über Lenin, ich versuche, aus ihm einen Menschen aus Fleisch und Blut zu machen“, schmunzelt sie. „Man kann sagen, dass er ein kleines, unscheinbares Kerlchen war. Wenn man seine Reden hört, denkt man sich, dass er eine eintönige Stimme hatte, eine kraftlose Stimme. Und dennoch hat er unglaubliche Menschenmassen mitgerissen, weil die Leute einfach Vertrauen in ihn hatten.“
Auf einer ihrer zahlreichen Reisen nach Russland hat Martine Thouet auch das Moskauer Mausoleum besucht, in dem der einbalsamierte Körper des bolschewistischen Führers seit seinem Tod im Jahr 1924 aufbewahrt wird. Eine Konservierung, die den russischen Staat im Übrigen viel Geld kostet: Anfang 2016 wurden zusätzliche Kosten von etwa 190.000 Euro für eine Art allgemeinen Check-up angekündigt.
Von ihrem Besuch im Mausoleum ist Martine Thouet der Eindruck geblieben, „etwas Großes gesehen zu haben, ein Stück Geschichte“. Allerdings ist der Besuch am Totenbett ihres Idols nicht das Erlebnis, das sie am meisten geprägt hat. Das Treffen mit Lenins Sekretärin wird ihr dagegen für immer im Gedächtnis bleiben. In einer verfallenen Wohnung im sechsten Stock eines alten Gebäudes ohne Aufzug erzählte ihr diese 90-jährige Frau von einem „arbeitswütigen, mutigen Mann, der nur lebte, um die Verhältnisse in seinem Land zu ändern.“ Es ist Martines schönste Erinnerung.
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Dieser Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit der Schweizer Journalismusplattform Sept.info.
Fotos: Simon Lambert; Übersetzung: Luisa Marie Schulz; Redaktion: Esther Göbel; Fotoredaktion: Martin Gommel; Produktion: Vera Fröhlich.