Es ist neun Jahre her, aber heute glaube ich eins: Ich hätte in dieser kalten Märznacht mit einer um die fünfzig Jahre alten schwedischen Blumenverkäuferin nach Hause gehen können. Ihr Mann und ein Freund von mir aus Grundschulzeiten wären allerdings auch dabei gewesen. Wir hatten zu viert die Nacht in Stockholm verbracht, Zufallsbekannte. Gerade brach der Morgen an. „Kommt, wir trinken noch eine Flasche Wein bei uns!“, sagte die spaßbereite Frau.
Schon Stunden vorher hatte sie uns in einem Club gegenüber vom „Globen“, einer der größten Veranstaltungshallen Schwedens, angesprochen. Als ich nach ihrem Namen fragte, antwortete sie nur flott: „Just call me Sexy-Lotta.“ Der Kirmes-Euro-Dance dröhnte, ein Getränk folgte auf das andere und schließlich setzten wir in der Innenstadt Stockholms unsere Tour fort. Plötzlich gestaltete sich das aber schwieriger als gedacht, denn Lottas Mann Matthias, geborener Inder, wurde in den ersten drei Läden, der Eintritt verwehrt. Aus den wütenden Diskussionen Lottas mit den Türstehern konnte ich herauslesen, dass das wohl an der braunen Hautfarbe ihres Mannes lag.
Wir sind am Ende nicht mit den beiden nach Hause mitgegangen, aber ich hatte dank der schwedischen Schlagerbegegnung zwei kleine Lektionen gelernt: zum einen, dass Skandinavier häufig ein klitzekleines Problem mit zu viel Alkohol haben. Zum anderen, dass das Land möglicherweise doch nicht das Multikulti-Bullerbü-Wunderland ist, für das wir es von außen gerne halten.
Der ESC ist nur billiger Pop? Von wegen. Er ist auch Geschichts- und Geographiestunde!
Es sind genau diese Erfahrungen, die mich seit ziemlich genau 30 Jahren zum extremen Eurovisionsfan machen: Durch den Wettbewerb treten eher ferne Kulturen in mein Wohnzimmer, die mir sonst wohl fremd blieben. Der Contest macht sichtbar, wie toll verrückt unser Kontinent eigentlich ist! Angefangen hat meine Begeisterung, als mein fünfjähriges Ich nicht einschlafen konnte, ins Wohnzimmer tapste und schließlich die Videoaufzeichnung dieser seltsamen Sendung mit der norwegischen Frau erbettelte. Meine Faszination war geweckt. Es folgten Jahre, in denen ich durch eine Sängerin aus Guadeloupe lernte, dass Frankreich Übersee-Départments besitzt oder in denen mir der Streit um die bosnische Antikriegs-Band Fazla 1993 etwas über den Jugoslawienkrieg beibrachte.
Nach dem Besuch einiger deutscher Vorentscheidungen um die Jahrtausendwende kamen mein Kumpel und ich dann auf die Idee, ja auch internationale Reisen mit den dortigen Terminen der Vorauswahlen verknüpfen zu können. Mich hat die naive Idee gereizt, dass man über den Umgang mit Popkultur ja immer auch etwas über die Gesellschaft eines Landes lernen kann.
Dieses Gefühl kennt auch William Lee Adams. Seit elf Jahren lebt der gebürtige US-Amerikaner in England und betreibt dort Wiwibloggs, eine der aufwendigsten privaten Seiten zum ESC mit unzähligen Videos und einer deftigen Portion Tratsch. Er hat schon in der New York Times den US-Lesern den Wettbewerb nahezubringen versucht und dort erzählt, dass der Wettbewerb auch für ihn immer eine politische Komponente hat. „Nachdem eine Lesbe mit Roma-Abstammung eine als Alu-Frau verkleidete ukrainische Drag-Queen besiegt hatte, wurde mir klar, dass es beim Song Contest nicht nur um schwitzende Sternchen und ihren verzweifelten Hang zu Auto-Tune geht“, schrieb er. „Es ist Live-Fernsehen auf Speed, zusätzlich davon angeheizt, die Geschichte eines Landes verändern zu wollen.“
Tatsächlich gibt es beim ESC diese groben Linien. Russland kämpft oft mit großen Stars und effekthaschenden, aber kalten Shows um Prestige. Das Baltikum hat in den frühen Nuller-Jahren extrem viel Geld in die Auftritte gesteckt, um zu gewinnen und sich so als EU-Mitgliedsstaat zu empfehlen. Westliche Länder wie Großbritannien und Deutschland beweisen wohlstandssattes Desinteresse – und in Skandinavien sind die Shows ein familienorientierter Spaß für alle.
13 Millionen Stimmen: Keiner ist so verrückt wie die Schweden
Im Norden Europas sind alle Länder extrem eurovisionsbegeistert, allen voran die schon erwähnte große Popnation Schweden. Sechs Wochen dauert die Vorentscheidung Melodifestivalen. 2008 war ich zum ersten Mal dort und erlebte meine Episode mit Lotta und Matthias, 2017 war es mein dritter Besuch. In den Tagen vor dem Finale kennt das Land nur ein Thema, Radiosender spielen die Songs rauf und runter, in Kaufhäusern dudeln sie als verkaufsfördernde Maßnahme für die offizielle Begleit-CD, die natürlich wochenlang Platz eins der Charts belegt. Die Tageszeitungen laufen sich mit Sonderbeilagen warm, selbst die seriöse Dagens Nyheter packte volle vier Extraseiten in ihre Samstagsausgabe.
Am Final-Abend selbst ist der Kommerz vergessen, stattdessen zeigt sich, wie dieses Fest im Norden alle zusammenbringt: Gefeiert wird der 88-jährige Boogie-Opa Owe Thörnqvist genauso wie Neuling Anton Hagman, ein Schönling mit Gitarre. Sein Archetyp schafft es jedes Jahr so zuverlässig ins Finale, dass die Schweden dafür den Begriff „UMD“ erfunden haben: „Ung Man Dansa“, also der „tanzende junge Mann“. Um mich herum blitzten während der Show die LEDs silberner Hüte, neben mir sprangen immer wieder junge Mädchen im Teenie-Alter auf ihre Stühle und schwenkten die selbstgemalten Riesenherzen für ihre Favoritin Wiktoria, eine letztlich erfolglose Taylor-Swift-Kopie auf Speed mit Kraushaar und Plärrstimme. Vielleicht ein Drittel des Saalpublikums war minderjährig, viele Kinder haben während der Show direkt aus der Halle mithilfe der App abgestimmt. Die Veranstaltung ist also ein Spaß für die ganze Familie. Am Ende zählte der Fernsehsender SVT mehr als 13 Millionen abgegebene Stimmen – Schweden hat etwa neun Millionen Einwohner.
https://www.youtube.com/watch?v=MpBg-7pMN5E
Aus der Nähe anrührend: Die Austragungsorte werden zum Planet Eurovision
Abgesehen von diesen Gelegenheits-Guckern gibt es europaweit tausende Hardcore-Verrückte wie mich. „Der Contest bestimmt den Takt meines gesamten Jahres“, schreibt auch Blogger Adams in der New York Times. „Im Herbst beginnen die nationalen Vorentscheide, und ich reise für Interviews mit hoffnungsfrohen Popstars in Länder wie Moldawien, Lettland und Israel.“ Das Engagement trägt für ihn Früchte, denn einige Nationen lassen bereits in den Vorentscheidungen internationale Jurys werten. Mehrfach war Adams 2017 einer der Juroren.
Wie Adams richten viele Fans ihr Jahr am Song Contest entlang aus. Sie verbringen während der Vorentscheidungssaison im Frühjahr die Samstagabende vor zuckelnden Live-Streams zur dritten Auswahlrunde der litauischen Vorentscheidung und reisen dann zu Preview-Konzerten in Riga, Amsterdam, London oder Tel Aviv, bei denen sich die späteren ESC-Teilnehmer warmlaufen.
Einer von ihnen ist Salman Tanzeem. Er wurde mir von den Kollegen des Prinz-Blogs zum ESC als besonders begeisterter Fan beschrieben und tatsächlich: Als ich ihn am Telefon frage, wie bei ihm die ESC-Leidenschaft den Alltag bestimmt, ist er minutenlang nicht zu stoppen. Anders als ich ist er dieses sogar für zwei Vorrunden in Schweden extra nach Göteborg und Malmö gereist – zur Vorentscheidungs-Vorentscheidung also. Fast seinen gesamten Jahresurlaub widmet er dem Wettbewerb. „Wenn ich in ein neues Land fahre, wo ich noch nicht war, fahre ich dann schon vorher hin, nehme den Freitag für kulturelle Sachen, Samstags für Proben, den Abend dann für die Veranstaltung“, erzählt er. In Norwegen war er schon, in der Schweiz, den Niederlanden, sogar in Albanien. „Das war 2013, das Festival i Këngës. Ich habe mir gedacht, dass das so traditionell ausschaut und ich das gerne sehen würde – und ich hatte die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr frei und dachte mir: „Warum fahre ich da nicht mal hin?“.
Ich muss schmunzeln, als Tazmeen das erzählt, fühle mich natürlich gleich verbunden. Und warum macht er das? Die Musik gefalle ihm, auch die Freundschaften zu anderen Fans, sogar ein eigenes Event in Berlin organisiert er inzwischen. „Aber am ehesten ist es diese Leidenschaft für das Reisen, das Internationale. Im Fußball gibt’s ja auch das Groundhopping, und Leute besuchen die Stadien, um mal dagewesen zu sein. Ich bin eben einfach mal ein Wochenende in Schweden, dann in Portugal, lerne die Sehenswürdigkeiten kennen.“
Für ihn wie für alle anderen Fans ist dann der Mai der wichtigste Monat des Jahres. Dann folgen die beiden ESC-Probenwochen und der Wettbewerb. Fans fallen in die Ausrichtungsstadt ein, gleichgültig, wo der ESC stattfindet. Die Bürgermeister der Ausrichtungsorte übergeben einander die Insignien einer „ESC Host City“ und verwandeln ihre Städte zuverlässig in einen Eurovisionsplaneten. Bars und Clubs werden zu Konzert-Locations, überall scheinen plötzlich albanische Revolutionsbands der 80er Jahre mit isländischen Pop-Punkern kostenlose Minisets zu spielen.
Vor Ort wurde der ESC dadurch auch für mich zu einem dieser Events, die aus der Nähe sehr viel liebenswürdiger geraten als am Fernsehschirm. Zugegeben, manchmal blende ich dafür die Gehässigkeit aus, mit der Hardcorejünger über andere Länder herziehen. Unvergessen, wie 2010 in Oslo während unserer Warterei auf den Probeneinlass hinter mir jemand zischelte: „Gestern auf dem Empfang der Georgier gewesen? Der Rotwein 2009 war ja wohl deutlich besser!“
Versöhnlich sind dann zuverlässig die „Pressekonferenzen“ während dieser beiden Wochen. Dort zeigen viele Anwesende, dass sie in Wirklichkeit eher urige Fans sind, aus denen das Lob nur so herausplatzt: „Zunächst mal: Von ganzem Herzen Glückwunsch zu diesem fantastischen Song! Ich habe ein T-Shirt dazu designt, dass ich Dir hiermit übergeben möchte. Meine Frage: Besteht eine winzige Chance, dass Ihr für das Bühnenbild doch auf die in Fan-Foren hervorragend besprochene zweite Vorrundenversion zurückgreift? Und dass die Halbtonsteigerung vor dem letzten Chorus nun doch wie in der ursprünglichen estnischen Version gesungen wird? Ich fände das super!“
Daniel Gould verdient seinen Lebensunterhalt mit Song-Contest-Wetten
Am Final-Abend verschwinden dann große Teile der Belegschaft im Medienzentrum, denn die Presse-Akkreditierung ist nicht mit einem Ticket verbunden. Wer Fan ist, kauft sich eine reguläre Karte und ist in der Halle – im Presseraum sitzt, wer mit dem ESC tatsächlich sein Geld verdient. Einen besonderen Vertreter dieser Gattung habe ich 2015 nach dem ESC in Wien zufällig im Bus zum Flughafen getroffen. Daniel Gould heißt der Mann. Er füllt nicht nur seit Jahren eine liebevoll versponnene Webseite zum ESC, sondern verdient seinen kompletten Lebensunterhalt mit Wetten auf die Show und andere Entertainmentformate.
„Zum ersten Mal habe ich 2006 gemerkt, dass ich ernsthaft Geld damit verdienen könnte“, sagt er. Damals hatte er neben seinem Lehrerjob zusätzliches Geld gebraucht. „Ich habe mich gefragt, wie das gehen soll, und erkannt, dass es zwei Dinge gibt, von denen ich Ahnung habe: Eurovision und Wetten. Also habe ich angefangen, beides ernsthaft zu betreiben. 2010 konnte ich dann meinen Job kündigen und mich Vollzeit aufs Wetten konzentrieren.“
Anders als für mich sind für Gould die Monate vor der Eurovision echte Arbeit. Forendiskussionen, Twitter-Nachrichten und Instant Messaging mit anderen Wettern halten ihn dauerbeschäftigt. „Jetzt zum Ende der Vorentscheidungssaison ist Eurovision ein Vollzeitjob für mich“, erklärt er mir. „Ich versuche, auch bei Wetten auf die nationalen Vorentscheidungen Geld zu verdienen und setze schon jetzt auf die Show im Mai.“
Die Frage, ob das nicht alles ein bisschen zu viel wird, verneint er. „Das Wetten ruiniert den Wettbewerb nicht für mich, er ist immer noch mein weltweites Lieblingsevent.“ Aber neben der Freude gebe es inzwischen eben auch die Nervosität und den Stress. „Während der Show sitze ich im Pressezentrum, beobachte die Wettmärkte und schaue auf meine Liste, welche Länder noch werten müssen”, erklärt er mir. Liegt beispielsweise Russland nach der Hälfte der Wertungen vorne, haben aber zu diesem Zeitpunkt schon viele Ostblock-Länder ihre Punkte vergeben, dann wettet Gould live, dass möglicherweise noch ein anderes Land vorbeizieht.
Auch seine liebste Fan-Begegnung hatte mit dem Wetten zu tun. Beim Londoner Vorab-Konzert 2008 traf er Fans der Armenierin Sirusho. „Sie kamen aus vielen verschiedenen Ecken Europas, alle mit unterschiedlichen Geschichten, aber wirklich religiösem Support für sie. Das hat mir für mein Wetten die Bedeutung des armenischen Diaspora-Votings gelehrt“, erklärt er mir einen Begriff, der unter Fans immer mal wieder fällt.
Nach dem ESC ist vor dem ESC
Doch auch nach dem ESC im Mai ist für viele Fans noch nicht Schluss mit ihrer Obsession: Im Baltikum gibt es im Sommer eine dreitägige Eurovisions-Kreuzfahrt, die nationalen Abteilungen des Fan-Verbands OGAE treffen sich im Herbst. Und 2017 gab es nach dem Vorbild der Comic-Welt sogar eine „Convention“ in Frankfurt. Bei dieser Eurovision Con stehen zwar ein Konzert und Meet und Greet mit Dutzenden Altstars im Vordergrund – die Fan-Welt ist wirklich gnädig mit ihren Helden –, es soll aber auch auf einigen Panels über die größere Bedeutung des Wettbewerbs gesprochen werden.
Und dann sind da noch die Fans, die sogar ihren Sommerurlaub entlang der Eurovision ausrichten. In Erinnerung ist mir ein Fan, der nur wegen einer Erwähnung in I treni di Tozeur, dem italienischen Beitrag 1984, in die besungene Provinzstadt Tozeur in Tunesien reiste. Für den Fan war es klar, dass er diesen Bahnhof einmal besuchen müsste. Es war dann aber entsetzlich dröge, gab er zu Protokoll.
Ich selbst kann mich von diesem Reisewahn nicht komplett freimachen. Angeregt durch den Beitrag Fra Mols til Skagen habe ich es immerhin in diese winzige Küstenstadt im Norden Dänemarks geschafft. Der Beitrag unseres nördlichen Nachbarn im Jahr 1995 handelte von zwei Liebenden in den Häfen der Städte Mols und Skagen, die sich aber nicht sehen können. Hinweise auf die Besungenen habe ich vor Ort keine gefunden, aber immerhin ist es dort möglich, je mit einem Bein in der Nord- und Ostsee zu stehen – und auch das ist ja letztlich etwas, das Europa verbindet.
Illustration: Sibylle Jazra für Krautreporter; Redaktion: Esther Göbel; Produktion: Vera Fröhlich.