Unser israelischer Kollege Yuval Ben-Ami lebt und arbeitet in einer Region, in der sich jeder Mensch jeden Tag sehr bewusst darüber ist, dass das Leben kurz und der Körper verdammt verletzlich ist. Gewalt kann jederzeit und überall ausbrechen: Israel und die palästinensischen Gebiete erleben seit 2015 eine neue Welle der Gewalt.
In 17 Monaten gab es laut israelischem Außenministerium von palästinensischer Seite 171 Messerangriffe, 141 Schießereien, 55 Angriffe mit Fahrzeugen und einen Bombenanschlag auf einen Bus. Ma’an, die erfolgreichste palästinensische Nachrichtenagentur, hat in grob dem gleichen Zeitraum 275 Tote gezählt, darunter 236 Palästinenser, 34 Israelis und fünf Ausländer.
Hinzu kommen natürlich alle anderen Quellen von Gewalt und Gefahr, denen Menschen überall ausgesetzt sind. Dieses Foto-Projekt ist Ben-Amis Versuch, das Gefühl einzufangen, das bei einem Leben unter solchen Umständen entsteht.
Der Arzt sagt, mein Bein sei in Ordnung, aber ich habe Zweifel. Ich habe es mir im Herbst 2015 so verdreht, dass ein Muskel riss. Auch befürchtete ich, dass das Knie Schaden davongetragen hat. Ich stand vor einem „runden“ Geburtstag. Vierzig ist ziemlich jung, aber mit Schmerzen auf ein neues Jahrzehnt zu blicken, lässt einen über den menschlichen Körper und seine Schwächen nachdenken.
Dein Körper fühlt sich hier in Israel und Palästina anders an als sonst wo. Weil es ein Land ist, in dem die Bedrohung für Leib und Leben allgegenwärtig ist. Ich beschloss, auf die Reise zu gehen und mein Bein an Orten zu fotografieren, die für die Zerbrechlichkeit des Körpers sprechen. Ein Redakteur warnte mich und sagte, meine Reiseberichte würden immer seltsamer. Sei es drum. Das Persönliche ist das Politische, und nichts ist persönlicher als der Körper.
Es gibt 32 Fotos, so viele, wie ein erwachsener Mensch Zähne im Mund hat. Eines davon zeigt das Herz des mystischen Judentums. Die Bilder reihe ich auf einer Süd-Nord-Achse auf. Ich habe ganz bewusst die gewalttätigen mit den zufälligen gemischt, die nationalen mit den persönlichen, die palästinensischen mit den israelischen usw. Wer durch dieses Land geht, dem wird die Gefahr an jeder Biegung bewusst, egal, von wem sie ausgeht.
Warnung eines Freundes: „Sitz niemals so in einem Auto“
Der Arava Highway im äußersten Süden Israels ist berüchtigt für seine Autounfälle. Ich habe dieses Foto auf Facebook gepostet, und ein Freund hat mir sofort eine Message geschickt: Sitz niemals so in einem Auto. Ein Freund von mir hat das auf der Arava gemacht und ist in einem Rollstuhl gelandet.”
Masada, ein Ort alter Gewalt, hoch über dem Toten Meer, Symbol der Freiheit Israels. Hier kämpften die Juden verzweifelt, aber erfolglos gegen den Ansturm der römischen Besatzer. Die Bergfestung birgt Naturgefahren: Die Schluchten, die das Felsplateau durchschneiden, konfrontieren Wanderer mit steilen Klippen und Sturzfluten.
Ein Senkloch verschlang die Landstraße 90 beim Kibbuz Ein Gedi. Unachtsame menschliche Eingriffe bewirken, dass das Tote Meer immer mehr austrocknet. Die Uferlinie hat sich dramatisch zurückgezogen und hinterließ unzählige gefährliche Senklöcher.
Zehn Elitesoldaten bei Ausbildungsunfällen getötet
Hängend, an einer Bushaltestelle nahe der Militärbasis Tze’elim in der Wüste Negev. Anfang der 90er Jahre wurden bei zwei Ausbildungsunfällen zehn Soldaten einer Elite-Einheit der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) getötet.
Dieses Wandbild einer Landschaft schmückt einen befestigten Busbahnhof in der nördlichen Negev. Relativ wenige israelische Zivilisten sind vom Raketenbeschuss aus dem nahen Gaza-Streifen verletzt worden, aber die Angst in diesen Teilen ist hoch.
Die Stadt in der Ferne ist Gaza. Ich bin so nah dran, wie ich darf.
In einem Wort: Hebron.
Meine Mutter lebte als Kind nahe dieses schönen Parks in der Hafenstadt Aschdod. Ihre Schwester Dahlia starb hier an einer seltenen Blutkrankheit im Alter von elf Jahren.
Wo David mit einem Stein Goliath niederstreckte
Wenn die Tradition etwas zu bieten hat, dann ist es der Hügel von Azeka in der Küstenebene zwischen dem judäischen Bergland und dem Mittelmeer, wo David mit einem Stein Goliath niederstreckte.
Zwei Siedlungen im südlichen Westjordanland, eine davon Nokdim, die Heimat des israelischen Verteidigungsministers Avigdor Lieberman. In diesem militärisch kontrollierten Gebiet gibt es Probleme – das zeigt allein schon das Projektil, das ich auf dem Boden gefunden habe.
Vielleicht spiele ich wieder Fußball. Aber ich trage bestimmt kein Rot auf der Osttribüne des Teddy-Stadions in Jerusalem.
Diese Palme steht am ehemaligen Standort von Versailles, einer Multifunktionshalle in West-Jerusalem. In einer Nacht im Jahr 2001 brach der Boden eines Hochzeitssaals im dritten Stock mit einem dumpfen Knall ein. Hunderte Gäste stürzten mit den einbrechenden Betonplatten in die Tiefe. 23 Menschen kamen ums Leben, mehr als 300 wurden verletzt.
Ein Tunnel im Tal des Kreuzes in Zentral-Jerusalem. Eine Frau, die ich kenne, wurde hier sexuell belästigt.
Ein Toter und fünf Verletzte bei Pride-Parade
In Frauenklamotten während der Homosexuellen-Parade „Jerusalem Pride“ 2016. Blick auf das Pflaster im Stadtteil Rehavia. An genau dieser Stelle hat ein Jahr zuvor ein Attentäter einen Teilnehmer des Marsches umgebracht und fünf weitere verwundet.
Wenn es in Ost-Jerusalem brennt, ist es oft am Damaskustor.
Ich rutschte an einem Basketballkorb an diesem Ort in French Hill ab, damals im Jahr 1988, und habe mir meinen Kiefer gebrochen. Das ursprüngliche Leiter-artige Design wurde seitdem ersetzt.
Während dieses Projektes deckten israelische Soldaten ein palästinensisches Auto auf der Landstraße 443 in der Westbank mit Kugeln ein. Sie töteten einen unschuldigen 15-Jährigen und verwundeten seine drei Freunde.
Akko Station im Süden von Tel Aviv ist der Lieblingsplatz der Heroinsüchtigen der Stadt.
Das Meer ist ein berüchtigter Killer, und dieser felsige Damm am Ufer von Tel Aviv ist ein besonders gefährlicher Ort für Schwimmer.
Mein Freund Yoram musste in die Strahlenklinik
Die Strahlenklinik in Tel Avivs Krankenhaus Ichilov. Hier saß ich mit meinem Freund Yoram, leistete ihm Gesellschaft, während er behandelt wurde.
Ein Beispiel für den Bauboom in Ramat Gan nahe Tel Aviv. Der einfachste Weg, in diesem Land zu sterben, ist, auf dem Bau zu arbeiten. Es fehlen Vorschriften, und so vernachlässigen die Unternehmer die Sicherheitsauflagen. Die meisten Opfer sind entweder Wanderarbeiter oder Palästinenser.
1997 brach eine plump konstruierte Brücke, die vor der Makkabiade („jüdische Olympiade“) zusammengeschustert worden war, am ersten Abend auseinander. Die australische Delegation fiel in den stark verschmutzten Yarkon River, und eines ihrer Mitglieder starb, weil er das Wasser geschluckt hatte.
Am 29. Oktober 1956, zu Beginn des Sinai-Feldzuges, brachten israelische Soldaten 47 arabische Israeli um, Bewohner des Dorfes Kafr Qasim um. Sie gehorchten einem Befehl, der nur aus purer Verachtung erteilt worden sein kann.
Beit Levinshtein ist das bekannteste Rehabilitationszentrum Israels. Sein Name steht für Koma, aber auch für den Triumph der Genesung.
Meine Freundin Elisha hält mein Bein in der Altstadt von Nablus. Auf diesem Markt gab es schreckliche Tage des Straßenkampfes, besonders während der Intifadas.
Im Norden leiden viele unter Asthma und Krebs
Haifas petrochemische Industrie wird für hohe Rate an Asthma und Krebs im Norden verantwortlich gemacht.
Auf einem kleinen katholischen Friedhof auf dem Tremor-Hügel von Nazareth. Der Überlieferung zufolge stand die Jungfrau Maria hier, vor Angst zitternd, als die wütenden Städter ihren „Ketzersohn“ über eine angrenzende Klippe jagten. Jesus wurde wunderbar in die Luft gehoben und landete sicher unten im Tal.
Ein syrischer Panzer fiel im Jahr 1967 in die tiefe Schlucht des Banias-Flusses.
An den Ausläufern des Berges Hermon stießen mein Bein und ich auf ein Minenräumkommando.
Das Löwendenkmal in Tel Hai erinnert an einen Angriff auf einen Zionisten, der oft als erste Episode des jüdisch-arabischen Konfliktes zitiert wird. Dem am meisten bekannten Verletzten des Angriffs, Joseph Trumpeldor, fehlte eine Gliedmaße: Er hatte einen Arm verloren, als er 1905 für Russland kämpfte.
Blick auf Syrien von den Golan-Höhen. Während ich das Foto aufnahm, hörte ich Explosionen und sah Rauch in der Ferne aufsteigen. Das auf dem Foto abgebildete Gebiet kennt seit Jahren nichts als Krieg.
Vorsicht Spinne!
Kurz nach meinem letzten Bild wurde ich von einer Spinne gebissen, die mich erinnerte, dass ich unsere Flora und Fauna in meiner Geschichte vergessen hatte. Dieses Land ist reich an Schlangen, Skorpionen und giftigen Pflanzen, aber seine Herausforderungen sind im Wesentlichen das Werk des Menschen. Es ist ein menschliches Land.
Den Vorspann zu dem Foto-Essay hat Theresa Bäuerlein geschrieben; Vera Fröhlich hat den Text übersetzt; Martin Gommel hat das Aufmacherbild ausgesucht.