„Wie machen wir’s denn?“, fragt die Friseurin.
Es klingt zart und ernsthaft unentschlossen.
„Ganz, wie Sie wollen“, sage ich nur. „Typisch deutsch muss es sein, der Rest liegt bei Ihnen.“
Sie mustert mich ein wenig erschrocken, als hätte ihr das MDR-Schweinchen gerade zum Geburtstag gratuliert. Und weil sie ja nicht wissen kann, dass ich gleich mein eigenes Klischee werde, erkläre ich ihr in Ruhe, warum ich einen typisch-deutschen Haarschnitt brauche und sie den Rest aussuchen darf.
Zur Erklärung also: Vor ein paar Tagen las ich zufällig, weil nichts anderes im Haus war und ich kurzfristig die Eingebung hatte, es könne gar meine Bürgerpflicht sein, das AfD-Programm. Dabei fiel mir auf, dass die AfD ziemlich viel von Deutschen spricht und von Leitkultur, von Vaterland und von Kulturkreisen. Moment, dachte ich, was für merkwürdige Begriffe – was bedeuten die denn? Kenn ich ja nicht, müsste ich nachschlagen. Also stellte ich Nachforschungen an: Google kannte die Begriffe sofort, doch auch die schriftliche Unterhaltung mit der Suchmaschine blieb für meine Begriffe nichtssagend und oberflächlich, weil manche Substantive halt nichtssagend und oberflächlich sind und rüberkommen wie eine leergerauchte E-Zigarette: klingt nach Party, erinnert aber doch nur an Aschenbecher.
Ich kam auf eine Idee: Wie wäre es, ich würde mir die Charakteristika eines vermeintlichen Deutschen aus dem AfD-Programm herausschreiben, eines Deutschen, wie ihn sich diese Partei erträumt oder vorstellt. Ein Deutscher, der starr und konzentriert sein Land betrachtet wie ein Nussknacker aus dem Erzgebirge seine, nun ja, Nüsse? Ich könnte doch mal eine Zeit typisch deutsch werden, dachte ich, wenn es das gab. Und wenn nicht, hätte ich wenigstens eine Geschichte zu erzählen.
Ich weiß: Niemand hört ernsthaft gern Reisegeschichten, denn das heißt endlos Bilder gucken und sagen: Ja, das ist aber exotisch/ähnlich/doch sehr vertraut, und da muss ich unbedingt mal hin/nicht hin/wie viele Bilder sind es eigentlich noch, 16 Gigabyte? Nee, lass mal, dafür hab ich die Ruhe jetzt nicht, sorry. Dies wird meine Reise, die nächsten Wochen hindurch, einen Bericht pro Monat. Ich habe eine übergroße Mindmap angelegt mit Orten, die ich besuchen werde, werde deutsche Küchen ausprobieren und Wahrzeichen angucken und die heimische Wirtschaft stärken, bis sie vor Kraft nicht mehr laufen kann.
Eine Glatze – typisch deutsch?
„Wie typisch-deutsch soll es denn sein“, fragt die Friseurin, „eine Glatze?“
„Wenn Sie das typisch finden, klar. Immer runter damit!“
Sie müsste es schließlich besser wissen. Darüber hinaus hatte ich mir geschworen, der Friseurin nicht zu widersprechen. Wenn das im NDR-Doku-Style – „7 Tage … als Glatze in der Sächsischen Schweiz“ – enden würde: bitteschön. Berufsrisiko. Meine Eltern wären sicher sehr stolz und würden sich fragen, wie tief die Krise im Journalismus eigentlich mittlerweile ist, dass man solche Sachen machen muss. Antwort: Ich weiß es doch auch nicht.
„Sie können das besser beurteilen“, sage ich. „Ganz wie Sie wollen und es für richtig halten.“
Die Friseurin blickt prüfend, wiegt die Schere in der Hand: „Aus dem Bauch heraus würde ich sagen, typisch ist: trocken. Seiten kurz. Oben auch. Ohren frei. Deutsche Männer wollen es schnell, günstig, anspruchslos.“
Guter Buchtitel – Unterzeile: Bekenntnisse einer pensionierten Prostituierten.
„Und dann laufen Sie mit deutschen Haaren rum?“, fragt sie und hat schon diese beiläufigen Friseur-Gespräche angefangen. Profi.
Mein Plan sah darüber hinaus Folgendes vor: Ich wollte zu einem Klischee werden, weil ich denke, dass man einem Klischee am besten mit einem Klischee begegnet. Re-Search ist Me-Search, hatte ich mal irgendwo gelesen, und das schreibe ich nur, damit Leute sehen, dass ich auch Bücher lese bzw. lesen kann. Vielleicht, dachte ich, ist Deutschsein etwas zutiefst Schönes und man weiß es nur nicht, weil man es nie ausprobiert hat.
Für das Spiel gab es Spielregeln: Gestern hatte ich mich bereits von thailändischem und indischem Essen verabschiedet, meinen Lieblingsküchen, alle italienischen Weine verschenkt oder vernichtet. Leicht einen sitzen habend, hatte ich dann meinen Gewürzkasten reduziert – auf Salz und Pfeffer, Lorbeer und diese merkwürdigen pink-rosa Kugeln, die aussehen wie Soft-Air-Patronen. Jetzt lag ein Rezept ausgedruckt und erwartungsfroh neben der Kaffeemaschine: Königsberger Klopse. Mein Leben kam mir augenblicklich ziemlich sortiert vor.
Klar, ich hatte gezögert, mich auf dieses Experiment einzulassen – immerhin hieß das, auf enorm viel zu verzichten: keine freien Entscheidungen, was Kleidung und Aussehen betrifft. Läden und Lebensmittel meiden. Menschen treffen sich regelmäßig beim Italiener. Und ich? Ich würde der sein, der immer nur deutsches Bier darf oder deutschen Wein, der sagt: Hier darf ich leider nicht rein, sorry, lange Geschichte, ich muss Deutscher sein, haha, bist Du aber blöde, das ist doch keine Story, sondern Schwachsinn. Irgendwann wird man halt nicht mehr eingeladen: Nee, der nicht. Der ist zu kompliziert! Tage, Wochen oder sogar Monate würden vergehen, es würde einsam um mich werden, und meine Frau findet Klopse auf Dauer sicher auch nur so mittel.
Aber als ein Redakteur einer wichtigen Zeitung dann vor ein paar Tagen anrief und zu einem Text von mir meinte: „Alex, macht es doch bitte einfach einmal wie alle anderen auch“, da war der Punkt erreicht, der Groschen gefallen: Zeit für Dienst nach Vorschrift, dachte ich: Ich würde das jetzt durchziehen. Zack! Keine Extravaganzen mehr. Baumarkt, Bier, Bratwurst, Ballermann. Schlagmichtot.
Ja, liebe AfD, Pech gehabt: Ihr sprecht die ganze Zeit von Leitkultur und denkt, keiner merkt, was das für leere Wortehülsen das sind – und irgendwer muss diesen Job ja machen, darum mach ich ihn, also bitte: Wo finde ich das jetzt, welchen Inhalt haben die Wörter? Leitkultur hieße ja, dass man sich von irgendetwas leiten lassen kann, und dazu müsste man es erstmal erkennen (!), es müsste allen offensichtlich sein, was das ist, und das ist es nicht. Meiner Meinung nach. Denn Nussknacker aus dem Erzgebirge und Weißwürste sind keine Leitkultur, sie sind – in erster Linie – Nussknacker und Weißwürste.
Im Kulturkreis
„Sie machen das wegen der AfD?“, fragt die Friseurin und ihre Schere macht schöne, warme Schnippeldieschnapp-Schnappschnappschnapp-Geräusche. Meine Haare fallen büschelweise zu Boden. Ich verabschiede mich leise von ihnen. Abschiede sind schwer, bei Abschieden fallen einem alle Sachen wieder ein, die man zusammen erlebt hat, weshalb einem alles besser erscheint als es war. Das letzte Mal kurze Haare hatte ich als Säugling. Gute Zeit. Ich sah glücklich aus.
„Nicht nur wegen der AfD, kennen Sie das Wort Kulturkreis?“
Die Friseurin nickt. „Natürlich.“
„Denken Sie, ich könnte einen Zirkel irgendwo reinrammen – sagen wir: in Magdeburg –, einen Kreis drum herumziehen, und darin ist alles gleich?“
„Auf keinen Fall“, sagt sie, ihr Gesicht verschwindet kurz hinter meinem Hinterkopf. „Wann beginnt eigentlich ihr Experiment?“
Ich lasse meine Füße über die Oberfläche des fremden Pelzplaneten wackeln, der zu meinen Füßen entstanden ist: „Jetzt gerade.“
Countdown zu etwas Großem
Das AfD-Programm sollte man lesen, wirklich: es ist ausgesprochen janusköpfig. Es weckt die Assoziation zweier Gesichter, das eine Gesicht ist sehr zugetan und weich – Familie stärken, mehr für die Leute tun; das Gesicht einer deutschen Großmutter mit Schürze, in der Hand zwei Thüringer Klöße. Das andere Gesicht ist hart, vernarbt und rot wie das eines jähzornigen Alkoholikers, der spät nach Hause kommt, seine Frau verdrischt, du dumme Göre, und die Knödel an die Wand schmeißt. Da geht es um Grenzen, um schnelles Abschieben von (straffälligen) Ausländern. Es ist ein Irrglaube, dass beides zusammen geht – Gut und Böse. Das endet doch nur als gespaltene Persönlichkeit in der Psychiatrie, irgendwo, abgeschieden in den Bergen, oder im Shining-Hotel.
Folgende Punkte habe ich mir aus dem Programm – natürlich rein assoziativ – rausgeschrieben:
Gegen den Euro sein (heißt für mich: in D-Mark rechnen – diese Rechnung immer wieder betonen. Sätze könnten sein: „Das hat früher nur die Hälfte gekostet!“ Und: „Wer bezahlt die EU?“)
Nicht mehr in ausländischen Läden oder ausländische Lebensmittel kaufen (außer natürlich für deutsche Gerichte, so viel Widersprüchlichkeit muss sein. Und ja: Ich fühle ziemlich schlecht dabei, ausländische Geschäfte zu boykottieren, aber: ohne Grenzen keine Grenzerfahrung).
Demokratie und Meinungsfreiheit fordern und auch mal Faschismus/Absolutismus/Technokratie/gewalttätige Revolte von unten oder Herrschaft der Echsenmenschen meinen (je nach Bedarf und Zielgruppe).
Den Wert der Familie betonen – kurzum: Alle, die keine Kinder haben oder wenigstens welche wollen, sind asozial, parasitär und ja: scheiße. Sätze könnten sein: „Worauf ist diese Gesellschaft denn aufgebaut?“, „Der Migrant/Katholik/Muslim/Arbeitslose – alle kriegen ständig Kinder!“ Ansonsten: „Wer A sagt, muss auch B sagen“, „Beim Gestern ans Morgen denken“, blablabla, Phrasen und Sprichworte benutzen, die rein gar nichts bedeuten, aber alles erklären – und dann auf Widerspruch warten.
Deutsche Leitkultur erwähnen, nicht aber sagen, was damit gemeint ist (bei Nachfrage Schiller erwähnen. Wenn weitere Nachfragen kommen, ernst gucken und langsam sagen: Schiller.) Sich selbst implizit als Leitbild verstehen, guter Deutscher, ich geh ja arbeiten und hab in der Schule Goethe gelesen – und gleich wieder vergessen.
Gegen Arbeitslose/Hippies/Künstler sein. Sätze: „Ich muss für mein Geld auch malochen“, „Wo kommen all die jungen Leute her?“ Bei direkter Konfrontation: „Schneid Dir die Haare, Junge!“ (Vielleicht „Bub“ sagen, oder besser: „Mein junger Freund?“ Aber: Auf keinen Fall auf die Fresse bekommen. Mal sehen.)
Die Linke als Bedrohung und chaotisch wahrnehmen, die Rechte nicht so sehr thematisieren und so tun, als wären das einfach Kids, die Spaß haben und über die Stränge schlagen wollen.
Ich klappe mein Notizbuch zu (Memo: Ich muss ein neues besorgen, auf meinem steht „HEAD Chinakladde A5 kariert“).
Vielleicht klingt das Ganze spaßig und kalt und auch ein bisschen arrogant. Aber mein ganzes Leben bin ich ein konsequenter Individualist gewesen, mir hat das durchaus so gefallen, dieses Land ist mir fremd und ich habe mich von den Deutschen ferngehalten. Konnte nicht mit ihnen, wollte nicht. Fand ihren Stolz hässlich und Kollektive suspekt. Vielleicht, denke ich, liegt das an mir. Jetzt, in diesen Zeiten, müssen wir uns aber mit uns selbst beschäftigen, wer wir sind und wer wir waren, bevor diese, unsere Geschichte in falsche Hände gerät.
Wir müssen uns mehr einmischen. Und das meine ich total ernst: Ein Freund von mir sagt, er habe Oliven so sehr gehasst, dann habe er sie einfach 40mal probiert – und heute liebt er sie. Sowas. Vielleicht ist das mit mir und den Deutschen ähnlich. Vielleicht bleibt meine Distanz erhalten, oder, das kann natürlich auch sein, obwohl ich stark daran zweifle, es wird am Ende Liebe (oder: noch mehr Verachtung, Alkoholismus, Fettleber, Nervenzusammenbruch?)
Deutsche Sardellen gesucht
Ich gehe in den Supermarkt. Schnee liegt auf den Gehwegen. Ist man in Hessen als guter Deutscher nicht verpflichtet, vor der Haustür zu kehren? Was passiert sonst? Isolation? Wird man auf einen Baum gejagt? Den Hessen würde ich es durchaus zutrauen, wenn sie zum Beispiel mal einen schlechten Tag haben oder es vielleicht regnet.
Muss zum Aldi. Denn ich habe praktisch nichts mehr im Haus, das ich als Deutscher essen kann. Nachdem ich einigen davon erzählt hatte, fangen Leute an, deutsche Gerichte zu machen, statt mich zu meiden. Ich trage ein Hemd, mehr Hemden habe ich nicht, sonst hätte ich auch nie welche getragen, es fehlt noch mindestens ein kariertes, das sieht nach Heimat aus. Vielleicht, denke ich, gewöhne ich mich sogar dran. Leute sehen mich nicht mehr an, als würde ich direkt vom Skaten kommen.
Für Königsberger Klopse braucht man Kapern, (Bio-)Hack, meine Lebensmittel müssen nämlich aus Deutschland kommen, Sardellen, Fuck, und Brötchen vom Vortag. Kartoffeln (statt Reis natürlich), deutsches Mehl, deutsche Butter. Alles gar nicht so leicht zu bekommen. Ich frage die Mitarbeiterin, ob es deutsche Sardellen gibt. Nein, ich frage, wo ich die finde, denn es soll gar nicht der Eindruck entstehen, dass dies nicht möglich sei. Sie schaut mich an, als sei ich bescheuert oder würde an der Straße Apfelsinen verkaufen, und sortiert dann ihre Kartons weiter. Ich versuche, höflich und adrett zu wirken. Ausbaufähig.
In mein Buch notiere ich: Ausflüge in den Schwarzwald oder den Harz machen. Stichwort: Warum in fremde Länder reisen, wenn man sein eigenes Land kaum kennt? Es gibt doch so tolle Ecken hier!
Dann hole ich aus dem Getränkemarkt noch deutsches Bier: Radeberger. Gleich vier am besten. Sardellen gibt es nicht, nur im Kolonialwarenladen, also nehme ich Sardinen, sonst gehen meine Klopse nicht. Erster Fehlschlag, denke ich, aber auch Fisch – und kommt ja beides nicht heimisch in der Elbe vor. Dann gehe ich nach Hause, schleppe die Einkäufe die Treppe hoch, lege Preußens Gloria auf und hasse mich selbst.
Die Geburt eines Deutschen
Am nächsten Tag, meinem ersten als guter Deutscher – und auch der, an dem ich meine Haare verlieren werde –, erwachte ich früh. Um sechs. Meine Arbeitskollegin hatte erzählt, ihre Oma hätte immer um zehn Mittagessen und um 17 Uhr Abendbrot auf dem Tisch. Danach ist der Tag halt einfach vorbei. Notiere: Deutsche Tage sind offenbar wesentlich kürzer als andere. Muss meinen Job überdenken und mir vielleicht einen neuen suchen: Bei uns kommen die Leute erst um zehn (oder auch gar nicht) und haben dann nicht mal vollständig Klamotten an.
Ich esse mein deutsches Schwarzbrot auf, Käse und Wurst heißen ab jetzt gesammelt Aufschnitt, die Königsberger Klopse waren himmlisch, dann räume ich ordentlich ab, gucke auf meine Uhr und gehe in aller Herrgottsfrühe zum Frisör (ab heute mit Ö). Und hier sitze ich nun: Mein erster Tag als Deutscher – ich sehe zwar immer mehr aus wie ein junger Mann, dem man nicht viel beigebracht hat, aber ich fühle mich ganz ausgezeichnet.
„Was ist denn für Sie deutsch?“, fragt die Frisörin.
„Ich muss immer an meine Großeltern denken. Warum denkt man bei Deutschem immer zuerst an Vergangenes oder an Erinnerungen?“, frage ich. „Anstand und Höflichkeit kämen mir in den Sinn.“
Die Tür öffnet: Klingelingeling. Eine Frau – schwarze Haare, schwarze Jacke, schwarzer Pelzkragen. Sie stellt sich stumm wie Darth Vader vor die Frisörin hin; deutsche Todesstern-Atmosphäre.
„Wie kann ich helfen?“, fragt die Frisörin freundlich.
„Pony“, sagt die Frau und deutet auf ihre Stirn. Sie ist offenbar in Eile, für ganze Sätze reicht die Zeit nicht. Musste Dir nichts vormachen, denke ich: Wenn das unsere Landsleute sind, dann brauchen wir Grenzzäune. Kannste den Nachbarn ja nicht zumuten, sowas. Die denken ja, bei einigen hier ist geistig schon die ganze Dachpappe runtergekommen.
„Geht nicht. Ich habe Kundschaft, sehen Sie doch. Um vier?“
Die Frau schüttelt den Kopf, dreht sich um, verschwindet ohne ein Wort
„Das mit der Höflichkeit nehme ich zurück“, sage ich.
„Nah“, antwortet die Frisörin sächsisch-zusichernd. „So geht das hier.“
„Und was ist für Sie deutsch?“
„Nie so drüber nachgedacht“, sagt sie. „Frauen, die mit Kindern im Gepäck zum Frisör gehen vielleicht, die sich selbst gehenlassen, hässliche, weite Hosen tragen, aber die Kinder mit schicker Jeans im teuersten Kinderwagen. Das machen unsere Kundinnen aus Spanien nicht. Die sind schon aufgebrezelt, wenn sie nur über die Straße gehen zum Brötchen holen.“
„Und die Männer?“
„Deutsche Männer fangen einfach an zu schimpfen, wenn sie über 40 sind: über Flüchtlinge, die Frau, Kinder oder dass da seit einem halben Jahr eine Baustelle ist und sie woanders parken müssen. Manchmal denke ich, dass 40 so eine magische Grenze ist, wie ein Schalter – und dann ist über Nacht nur noch Beschwerde.“
„Beschweren sich die Frauen auch?“
„Nö, Frauen geben einfach mehr Geld beim Frisör aus“, sagt die Frisörin. „Ich dürfte Ihnen wirklich immer noch eine Glatze schneiden, wenn ich wollte?“
„Nur, wenn sie das mit Ihrem Gewissen vereinbaren können.“
Aufs Handy kommt deutsche Musik
Auf dem Weg zum Frisör hatte ich meine Musik vom Handy gelöscht und auf der Suche nach deutscher Musik MDR 1 eingestellt. Das ging gut rein. Man fühlt sich zwar morgens schon so, als könne der Tag nicht mehr viel Gutes bringen, aber es kommen tolle Infosendungen. Zum Beispiel ist „Moni unterwegs … in der Notaufnahme“ oder es gibt Tipps vom Tierarzt und eine Gartensprechstunde. Ich habe zwar keinen Garten und kein Tier, aber nach der Sendung habe ich gleich Lust, mir beides anzuschaffen. Nächste Woche geh ich ins Gartencenter und dann kaufe mir ein bis zwei Kaninchen. Der Radio-Tierarzt hat selbst eine Katze, was für ein Zufall – und die heißt Findus.
„Ich finde Glatzen nicht schön“, sagt die Frisörin. „Ein ehemaliger Mitschüler hatte eine.“
„Ist er ein Neonazi?“
„Ein Scheiß ist er. Er meint immer: Ich bin ein Nazi, ich bin ein Nazi! Wenn Sie mich fragen, der Typ ist einfach ein Lappen. Ich sag immer: Du bist höchstens Hobby-Faschist, mein Freund.“
„Ein interessantes Hobby.“
„Was soll er auch machen?“, setzt die Frisörin fort und richtet die Schere auf mich. „Der Vater, ein Arschloch. Und gewalttätig. Und ein Säufer ist er auch. Ich meine: Wie soll der Sohn da was Anständiges lernen?“
„Kann er nicht“, sage ich, „ausgeschlossen. Väter sind auch Vorbilder.“ Gott bewahre. Was tue ich?
Schnippeldieschnapp, Schnappschnappschnapp.
„Sagen Sie: Teilen sich Vater und Sohn auch das gleiche Hobby?“
„Nee, der Vater ist, glaube ich, kein Rechter“, sagt die Frisörin. „Fußballfan. Säuft sich immer einen an bei Auswärtsspielen und fährt dann mit seinen Jungs los, Leute umwaffeln.“
„Und der Sohn so – heute, meine ich?“
„Irgendwas arbeiten. Fußball. Und viel saufen.“
Wir schweigen eine Weile. Rihanna singt etwas. Ich verstehe es nicht. Udo Jürgens versteht man wenigstens, so wie in „Ehrenwertes Haus“, dass er da unglücklich ist und die anderen Leute ihn immer ärgern oder so; da würde ich auch ausziehen. Ist nur meine Meinung.
„Wissen Sie, was noch typisch deutsch ist?“, fragt die Frisörin und lächelt: „Meine Oma. Omas mit Schürzen!“
„Das stimmt. Ich hatte auch so eine“, sage ich. „Wie war ihre?“
„Sie lebt noch.“
„Das ist gut, also, wenn Omas noch leben können, meine ich. Das ist immer gut.“
„Sie kann ja kaum leben. Hat immer gearbeitet, kriegt aber keine 800 Euro Rente“, sagt die Frisörin. „Sie war eine so stolze Frau – und jetzt ist sie arm. Ich hatte Ihnen doch von meinem Mitschüler erzählt: Da muss man was machen, finde ich.“
„Gegen Nazis, meinen Sie?“
„Gegen Flüchtlinge.“
Eine indiskrete Frage zum Schluss
„Wir müssten uns erst um unsere Leute kümmern, bevor wir anderen helfen, finde ich“, sagt die Frisörin und kehrt die Haare zusammen.
„Ich glaube, es geht mehr um Ihre Oma, richtig? Persönliche Erfahrungen wiegen schwerer“, versuche ich.
„Das stimmt vermutlich“, sagt sie und blickt zu Boden. Ich glaube, ich wäre an ihre Stelle genauso traurig oder wütend.
„In Sachsen leben 110.000 Studenten – und davon sind 16.000 Ausländer“, sage ich und ziehe meine Jacke über. Es muss doch möglich sein, deutsch zu sein – und trotzdem nicht jede Aussage einfach so stehen zu lassen. „Diese Ausländer gehen doch auch jeden Tag an ihrem Geschäft vorbei. Haben Sie Studenten als Kunden?“
„Ja, viele.“
„Würden Sie auf die verzichten?“
„Nein, ich mag meine Kunden.“
„Darf ich Ihnen zum Schluss vielleicht eine indiskrete Frage stellen?“, frage ich.
Die Frisörin nickt.
„Würden Sie die AfD wählen?“
„Ich hatte mit dem Gedanken schon gespielt“, sagt sie und stellt den Besen ab. „Aber ich glaube, ich will – wie jeder – nur das Gefühl haben, dass man sich auch um mich kümmert. Und wenn das eine andere Partei tut, bitte.“
„Danke”, sage ich.
„Wofür?“
„Für die Haare.“
„Ich habe zu danken“, sagt sie zum Abschied. „Und ich finde übrigens, Sie sehen jetzt richtig ordentlich aus.“
Das ist der erste Teil meiner mehrteiligen Serie. Wer nichts verpassen möchte: Bitte unsere Facebook-Seite liken oder unseren Newsletter, die Morgenpost, abonnieren.
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Produktion: Vera Fröhlich.