Ist es normal, sich als Student psychologisch beraten zu lassen?

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Leben und Lieben

Ist es normal, sich als Student psychologisch beraten zu lassen?

Bin ich normal? In dieser Kolumne beantworte ich eure Fragen nach Durchschnitt und Ausnahme. In dieser Folge gehe ich der Frage von Krautreporter-Leser P. nach, der wissen möchte, wie viele seiner Kommilitonen sich psychotherapeutisch beraten lassen.

Profilbild von Kolumne von Susan Mücke

In meinem ersten Semester an der Universität empfahl mir ein Dozent, nicht mehr als acht Lehrveranstaltungen in der Woche zu besuchen. Das erschien mir irgendwie ziemlich wenig. Nur 16 Stunden wöchentlich? In der Schule hatten wir deutlich mehr Unterricht. Aber schon nach wenigen Wochen in meinem neuen Studentenleben erfuhr ich, warum. Bibliotheken finden, Literatur recherchieren und beschaffen, diese auch lesen und gegebenenfalls exzerpieren, Referate vorbereiten, Hausarbeiten und Klausuren schreiben – für jedes einzelne Seminar, jede Vorlesung musste noch mal so viel Zeit eingeplant werden zum Vor- und Nachbereiten.

Hinzu kam, dass ich zusätzlich nebenbei gearbeitet habe, teilweise am Wochenende. Damit bin ich zeitweise sicher auf 50 bis 60 Arbeitsstunden in der Woche gekommen. Natürlich konnte ich mir das auch irgendwie selbst einteilen, aber frei war ich darin nicht. Die Anforderungen sind heute dank Bachelor und Master in vielen Studienfächern noch gestiegen. Es würde mich also nicht überraschen, wenn mit der gestiegenen Belastung auch der Druck, der Stress und die psychischen Probleme bei Studierenden zugenommen haben.

Krautreporter-Leser Pascal will deshalb wissen, wie viele Studierende an Hochschulen psychotherapeutische Beratungsstellen nutzen. Das Studentenwerk hat dazu vor einiger Zeit Zahlen veröffentlicht, die einen ersten Einblick in das Seelenleben der Studenten vermitteln. Demnach haben im Jahr 2012 die deutschlandweit 44 Psychologischen Beratungsstellen knapp 100.000 Studierende beraten.

Doch nicht jeder wählt bei Schreibblockaden, Prüfungsdruck und Zukunftsängsten den Weg zum Uni-Psychologen. Einige suchen sich außerhalb der Hochschule Hilfe, und sehr viele holen sich vermutlich gar keine professionelle Unterstützung, wursteln sich irgendwie durch, so wie Krautreporter-Leser Achim, der mir schreibt: „Ich habe von 2002 bis 2008 Informatik auf Diplom studiert. Die meiste Zeit davon ging es mir sehr gut und ich brauchte keine psychotherapeutische Hilfe. Als es dem Ende zu ging, ab Ende 2006, bin ich allerdings von einer großen Unsicherheit befallen worden, was danach kommen möge, und hatte so etwas wie eine leichte Depression. Ich war damals nicht in Behandlung oder habe mir Hilfe gesucht, sondern habe es ‘so durchgestanden’. Antriebslosigkeit war das schlimmste Symptom, was dazu geführt hat, dass ich für die letzte Prüfung und die Diplomarbeit anderthalb Jahre gebraucht habe, obwohl ich den Rest des Studiums recht schnell und erfolgreich durchgezogen hatte. In der Rückschau muss ich sagen, dass ich mir damals besser Hilfe gesucht hätte.“

Jeder fünfte Student hat psychische Probleme

Die Techniker Krankenkasse hat in einer repräsentativen Umfrage ermittelt, dass fast ein Drittel der Studenten schon einmal so unter Druck standen, dass sie den Druck nicht mit den üblichen Entspannungsstrategien bewältigen konnten. Knapp die Hälfte von ihnen hat sich deshalb Hilfe beim Psychologen geholt. Besonders betroffen sind ältere Studierende. Bei den über 27-Jährigen waren es sogar 40 Prozent. Besonders häufig trifft es Studierende mit Kind oder jene, die mit privaten Konflikten kämpfen. Insgesamt erhielten 21,4 Prozent der Studierenden, also mehr als jeder fünfte, 2013 eine psychische Diagnose.

Hinter diesen Zahlen stecken sehr unterschiedliche Lebensläufe. Zum Beispiel der von Krautreporter-Leser Christian. Er erhielt nach drei Semestern die Diagnose Depression. Der 33-Jährige hat zwischen 2010 und 2014 in Mönchengladbach einen Bachelor in Ökotrophologie gemacht, später im Master Lebensmittelwissenschaften in Kleve studiert und wird ab dem Sommersemester an der Universität Bonn den Master im Lehramt Ernährung und Lebensmitteltechnologie machen.

Christian schreibt mir: „Ich hatte zum Ende des dritten Semesters sehr akuten Hilfebedarf: starke Depressionen, die an einem Punkt so intensiv waren, dass ich alles, auch das Studium, über Bord geworfen hätte, um dem zu entkommen. Privatleben, Aushilfsjob zur Finanzierung des Studiums und das Studium selbst unter einen Hut zu bringen, kann im verschulten Bachelor-System schnell überfordern. Insbesondere, da der feste Stundenplan, den wir hatten, den Eindruck vermittelt, man müsse jede Veranstaltung, jede Vorlesung, jede Klausur sofort und im ersten Anlauf besuchen und bestehen. Ich hatte beispielsweise 13 Klausuren am Ende des ersten Semesters, die innerhalb von drei Wochen geschrieben werden wollten.“

Das alles hat Christian anfangs noch irgendwie hinbekommen, auch wenn sich bald erste Konzentrationsschwächen zeigten. Aber als in den Semesterferien die Hausarbeiten anstanden, ging gar nichts mehr: „Ich fiel in ein tiefes Loch.“ Was mich wirklich zum Nachdenken gebracht hat, lieber Christian, ist, dass du eine hohe Arbeitsbelastung durchaus gewohnt warst, denn du warst sechs Jahre lang Koch, inklusive Ausbildung. „Ich dachte eigentlich, ich wäre Stress gewohnt“, schreibst du. „Aber 24 Studenten am Tag Student zu sein, ist wohl was anderes, als nach der 11- bis 12-Stunden Schicht nach Hause zu gehen.“

Studenten sind psychisch mehr belastet

Vor zwei Jahren hat die Techniker Krankenkasse in einem großen Report die Daten aus der ambulanten ärztlichen Versorgung und Diagnosen, Krankschreibungen und Arzneimittelrezepte ihrer Mitglieder untersucht und dabei besonders die Gesundheit der Studierenden unter die Lupe genommen. Auf den ersten Blick zeigt sich, dass Studenten eher weniger gesundheitliche Probleme haben als ihre Altersgenossen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Schaut man sich jedoch den Bereich psychischer Erkrankungen an, dann sind sie stärker betroffen. Studenten suchen häufiger den Rat von Psychotherapeuten und haben mehr Depressionen und Angststörungen. Ihnen werden öfter Antidepressiva und Psychopharmaka verordnet. Und sechs Prozent wurden aufgrund psychischer Beschwerden sogar schon stationär behandelt.

Studenten sind also psychisch stärker belastet als junge Erwerbspersonen. Denkbar wäre natürlich auch, dass sie einfach nur anders damit umgehen, zum Beispiel eher bereit sind, psychische Probleme zu verbalisieren - das hat die Studie aber nicht ermittelt. Auffallend ist, dass ältere über 26 Jahren mehr leiden als jüngere. Die psychische Belastung resultiert also sehr wahrscheinlich aus den Studienbedingungen, wobei auch andere Gründe, wie verstärkte Zukunftsängste, in Betracht kommen. Die Zahlen sind in den vergangenen Jahren gestiegen. Nahmen im Jahr 2006 noch rund 66.000 Studenten eine psychologische Beratung an ihrer Uni in Anspruch, waren es 2008 schon 79.800 und 2012 dann 96.000, während die Studierendenzahlen nicht im gleichen Maße gestiegen sind.

Der Stress im Bachelor verursacht zunehmend psychische Probleme, aber auch andere Gründe können eine Rolle spielen. Krautreporter-Leser B. schreibt: „Zum erhöhten Druck durch die Leistungsanforderungen im Rahmen des Bologna-Prozesses kommt beim Studium ja auch sehr häufig der Prozess des Erwachsenwerdens und Abnabelns vom Elternhaus, vom Freundeskreis aus der Schulzeit usw. Das kann schon mal überfordern, insbesondere, wenn in Kindheit und Jugend einiges nicht rund lief und bisher nicht hinreichend aufgearbeitet wurde.“

Der 33-Jährige selbst erhielt zum Ende seines Informatikstudiums die Diagnose Depression. Zu den eigentlichen Studienproblemen kam eine chronische Darmerkrankung gepaart mit finanziellen Problemen und sozialen Sorgen hinzu. „Ich musste für den Abschluss ‘nur noch’ meine Diplomarbeit schreiben, war dazu aber überhaupt nicht in der Lage. Ich hatte zwar schon massig Informationen zusammengetragen, aber die eigentliche Anfertigung der Arbeit war mir einfach nicht möglich. Ich konnte mich nicht konzentrieren, sobald ich anfing, was Konkretes zu erarbeiten und musste mich mit irgendwas Trivialem ablenken.“

Jeder zweite Student arbeitet nebenher

Jeder zweite angehende Akademiker hat laut TKK regelmäßig Stress, ein weiteres Viertel steht sogar unter Dauerstress. Die Hälfte der Studentinnen und vier von zehn Studenten leiden unter stressbedingter Erschöpfung. Zu den wichtigsten Stressauslösern gehören neben Prüfungen (52 Prozent), dem Lernstoff (28 Prozent) und der Angst vor schlechten Noten (26 Prozent) auch die Doppelbelastung von Studium und Jobben (26 Prozent).

Krautreporter-Mitglied Joachim Funke, Psychologieprofessor an der Uni Heidelberg, hat mich auf eine wissenschaftliche Auswertung der Psychologischen Beratungsstelle seiner Hochschule aufmerksam gemacht, an der er selbst beteiligt war. Sie kam zu folgendem Ergebnis: „Hinsichtlich der sozialen Situation der Studierenden ist bedeutsam, dass 49,5 Prozent der Klienten parallel zum Studium einer Arbeitstätigkeit von zum Teil erheblichem Ausmaß nachgehen.“ Jeder fünfte von ihnen arbeitet 20 Stunden in der Woche, was auf eine erhebliche Zusatzbelastung abseits von direkt studienbezogenen Anforderungen hinweist.

Nicht zuletzt gibt es auch regionale Unterschiede (PDF, S. 85-87). In Berlin, Hamburg und Bremen suchen Studierende überdurchschnittlich häufig einen Psychotherapeuten auf, ebenso in Hessen und Sachsen. In Mecklenburg-Vorpommern hingegen ist die Rate eher gering.

Lieber Pascal, es ist also ziemlich normal, sich psychologische Hilfe zu holen, wenn man selbst nicht weiterweiß. Abschließend möchte ich noch einmal Achim zu Wort kommen lassen. Der 34-Jährige hat eine wichtige Erkenntnis für sich gewonnen, die womöglich auch anderen hilft: „Vielleicht hätte ein guter Freund, mit dem ich einmal über meine Zukunft reden könnte, auch gereicht. Leider habe ich mich aber nicht getraut, mit meinen Freunden oder gar der Familie über so etwas zu reden. Vielleicht liegt die steigende Zahl an Psychotherapien auch daran, dass man sich heute, trotz oder wegen der Selbstdarstellung in sozialen Medien und sonst wo, nicht traut, mit seinen Freunden über die eigenen Schwächen zu reden.“

Über seine Gefühle und Ängste zu reden erfordert eben auch einigen Mut.


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Aufmacherbild: Tom Schilling als Studienabbrecher Niko in „Oh Boy“ (© Schiwago Film); Redaktion: Theresa Bäuerlein; Produktion: Vera Fröhlich