Die Slum-Boxer
Leben und Lieben

Die Slum-Boxer

Kibera gilt als der größte Slum Afrikas. Niemand weiß genau, wie groß die Wellblechsiedlung am Rand von Nairobi wirklich ist. Offiziell leben dort 200.000 Menschen, Schätzungen gehen von ein bis zwei Millionen aus. Ich habe die Menschen von Kibera fotografiert und bin dabei auf die Boxer gestoßen.

Profilbild von Marcel Kolacek

In der Sprache der ursprünglichen Bewohner, nubischer Soldaten, bedeutet „Kibre“ Wald oder Dschungel. Die Blechdachsiedlung am Rande der Hauptstadt von Kenia ist für eine Vielzahl von Krankheitsfällen bekannt, von Typhus über Cholera bis hin zu Malaria. Auch für seine hohe Kriminalitätsrate ist der Slum berühmt-berüchtigt.

Ein paar Zahlen: Das Durchschnittsalter beträgt 35 Jahre. Über 80 Prozent der Einwohner sind arbeitslos, mehr als 50 Prozent an Malaria erkrankt. Die Behörden gehen von einer sehr hohen HIV-Infektionsrate von bis zu 80 Prozent aus. Dieser Wert wird auch in den Medien oft aufgegriffen.

Die offiziellen Angaben zeichnen offenbar ein viel düstereres Bild als die Wirklichkeit: So erklärte mir eine Bewohnerin, die sich schon lange mit dem Problem der HIV-Infektionen vor Ort beschäftigt, dass die tatsächliche Erkrankungsrate „nur“ bei etwa 20 Prozent liege. Letztlich ist es so gut wie unmöglich, für einen Ort wie Kibera gesicherte Zahlen vorzulegen, was die sehr unterschiedlichen Werte erklärt.

Es gibt noch mehr Diskrepanzen. 2017 erscheint eine Dokumentarserie, die sich mit allen offenen Fragen über Kibera beschäftigt. Ein tschechisches Team aus Dokumentarfilmern verbrachte zwei Monate vor Ort, um Antworten zu finden und das Leben im angeblich größten Slum des afrikanischen Kontinents in einen breiteren Kontext zu setzen. Ist es dort also wirklich so schlimm? Auch ich verbrachte einen ganzen Monat vor Ort, um diese Frage zu beantworten.

Langsam erwacht die Stadt zum Leben. Nicht in aller Frühe, sondern gegen 9 Uhr morgens beginnt Kibera, sich zu regen. Keine Stunde später herrscht überall geschäftiges Treiben. In Dutzenden Läden bieten Händler Produkte aus der Umgebung zum Kauf an, Handwerker bieten ihr Können feil.

Hier wird genäht und gekocht, dort bedienen Friseure ihre Kundschaft, und dort hinten gibt es Waren in allen möglichen Formen, Farben und Größen. Fahrer versuchen, ihre „Matatu“ – kleine Minibusse – zu erreichen.

Kibera wird zu einem lebendigen Wesen. Daran muss man sich erst einmal gewöhnen. Unzählige Eindrücke prasseln auf einen ein, wie bei der Lektüre eines Gedichts der verfluchten Poeten der Lost Generation. Es braucht Zeit, bis man den Reiz erkennt. Ich selbst benötigte fast einen ganzen Monat, bis sich die „Schönheit“ des Ortes mir offenbarte.

Der extreme Kontrast aus einem sehr harten Leben, überaus freundlichen Menschen und vollkommen anderer Wahrnehmung wirkt zunächst wie ein Dämpfer, doch im Laufe der Zeit wiegt sich das Ganze auf. Für jemanden aus dem Westen wartet die lokale Umgebung zunächst vor allem mit einem unerträglichen Gestank, einer großen Unordnung, Überbevölkerung und mangelnder Hygiene auf.

Aber so schrecklich ist es nicht und man kann sich leicht daran gewöhnen. Die meisten Bewohner sind sehr arm und müssen sich anstrengen, um ihre täglichen Bedürfnisse zu stillen. Wichtig ist jedoch, dass in Kibera eben dies möglich ist und das auch noch recht günstig.

Die Versorgung mit Wasser und Strom sowie die Abwasser- und Abfallentsorgung sind ein großes Problem, ebenso wie die Müllberge. Dennoch ist alles sehr viel besser, als man es sich unter Umständen vorstellen mag.

Zu allererst ist Kibera nämlich ein Handelszentrum. Kreative und geschickte Menschen bieten dort Tag für Tag ihre Waren und Dienstleistungen an. In Kibera gibt es alles, was man sich nur vorstellen kann: von Kleidung über Lebensmittel bis hin zur neuesten Elektronik.

Man sieht dort keine verhärmten, verwahrlosten Menschen, die noch nicht einmal ihre grundlegenden Bedürfnisse zu stillen vermögen. Kibera übertrifft einfach alle Erwartungen. Vergesst die Bilder aus dem Fernsehen, auf denen kleine Kinder mit aufgeblähten Bäuchen herumlaufen. Auch Smartphones gibt es überall.

Das Leben in Kibera ist jedoch vor allem deshalb so schwer, weil Menschen und Umwelt unter der extrem dichten Besiedlung leiden. Das größte Problem ist der allgegenwärtige Müll. Es gibt viele Schwierigkeiten, aber wichtig ist, dass es sehr wohl möglich ist, in Kibera zu leben. Trotz allem.

Und auch über das Boxen als Mittel im Kampf gegen die Armut hört man immer wieder ähnliche Geschichten. Das Boxen ist kein Sport für die Reichen. Mit unserer Geschichte verhält es sich nicht anders – eine Geschichte, die in Kibera spielt. Kibera, der „Dschungel“, wo tagtäglich Sportler aus der Umgebung trainieren – hart trainieren und von einer besseren Zukunft träumen.

Unter Anleitung von Coach „Tanker“, Mitglied der kenianischen Nationalmannschaft der Faustkämpfer, geben die Athleten alles. „Tanker“, der eigentlich Talib Mubiru heißt und stets eine Kappe auf dem Kopf hat, ist 44 Jahre alt und Profiboxer im Bantamgewicht. Im kenianischen Nationalteam belegt er augenblicklich den dritten Rang.

Unter seiner Ägide und den strengen Bedingungen vor Ort haben die jungen Männer sich für Disziplin und Schinderei entschieden. „Uns fehlen Schuhe, Handschuhe, Bandagen, die einfachsten Dinge“, erläutert Tanker. „Es ist wirklich nicht einfach, weil die Leute das Geld dafür nicht haben. Sie sind schon froh, überhaupt Essen kaufen zu können. Für den Sport bleibt da nichts übrig.“

Aus Spenden von Privatpersonen und Geld aus der eigenen Tasche wurde ein „Jugendzentrum“ gebaut. Dort ist alles kostenlos. „Hier ist alles vertreten, von siebenjährigen Kindern bis hin zu dreißigjährigen Erwachsenen“, erklärt Tanker.

Die Boxhalle selbst ist ca. 4 mal 6 Meter groß. Es gibt dort keine Fenster und nur eine Tür, durch die ein wenig Licht hineinfällt. Die Wände bestehen aus Wellblech; drinnen gibt es zwei Boxsäcke, eine Handvoll Stühle, eine Bankdrückmaschine. Alles in einem Raum, der sich unerträglich stark aufheizt. Tag für Tag trainieren junge Männer aus der Umgebung in der brütenden Hitze, die meisten von ihnen sind arbeitslos.

„Das größte Problem, mit dem ich mich als Coach auseinandersetzen muss, ist die Tatsache, dass manche der Männer hier mit Hintergedanken herkommen, die Grundlagen des Boxens erlernen und diese dann missbrauchen“, erklärt Tanker. „Wenn so etwas passiert, ist das immer eine unheimliche Enttäuschung für mich, weil ich den Boxern eine bessere Zukunft ermöglichen möchte.“

Draußen gibt es einen Platz, der sauber und ordentlich ist. Dort erhebt sich ein neuer Boxring aus dem Erdreich. „Wir haben einen neuen Ring gebaut“, erklärt der Coach begeistert. Zwar ist der Ring sehr viel kleiner als üblich, doch der Enthusiasmus aller macht ihn zum größten Boxring des ganzen Landes.

Der Erfolg mag nicht garantiert sein; für viele ist jedoch schon das Training ein großer Gewinn, weil es sie von der Straße fernhält. Das Boxen ist an einem Ort wie diesem – mit einer derart hohen Kriminalitätsrate – dennoch weit mehr als ein bloßes Verteidigungsmittel: Es gibt den Menschen Hoffnung, denn die Athleten wollen es in die Nationalmannschaft schaffen und ihre Träume auf internationaler Bühne verwirklichen.

Sie möchten Erfolg haben – im Leben wie im Sport. Und sie wissen, dass ihnen dies mit der Hilfe ihres Coaches gelingen kann. Denn unter seiner Anleitung haben sich einige bereits in nationalen und internationalen Wettkämpfen bewährt. Zwei seiner Boxer werden bald in die Nationalmannschaft aufgenommen.

„Das Boxen wird gut bezahlt, deshalb sind wir guter Dinge, dass die Jungs eines Tages durch den Sport ein ordentliches Einkommen haben werden“, sagt Tanker. Diese „Jungs“ wollen es durch ihren Willen und ihre Entschlossenheit aus der Armut herausschaffen – so wie ihr Coach. „Dank des Boxens haben wir hier eine bessere Zukunft.“


Übersetzung aus dem Englischen: Laura Su Bischoff; Bildredaktion: Martin Gommel; Produktion Vera Fröhlich

Diese Bildreportage veröffentlichen wir mit der freundlichen Genehmigung des Magazins kwerfeldein, mit dem wir uns inhaltlich sehr verbunden fühlen. Krautreporter-Bildchef Martin Gommel hat kwerfeldein 2005 als Blog gegründet und seine Entwicklung als Fotografie-Magazin mit Redaktion ab 2011 bis Ende 2015 vorangetrieben.