Liebe A., dazugehören zu wollen ist ein Grundbedürfnis der meisten Menschen. Es kann sogar krankmachen, wenn man permanent das Gefühl hat, ausgeschlossen und ausgegrenzt zu sein. Der Individualpsychologe Alfred Adler hat das Zugehörigkeitsgefühl als „the fundamental motivation of human beings“ bezeichnet. Und die deutsch-amerikanische Psychoanalytikerin Karin Horney beschreibt es als das zentrale Ziel menschlichen Strebens. Umso härter trifft es einen, wenn dieses menschliche Grundbedürfnis nicht befriedigt wird.
Als ich meinen Kollegen bei Krautreporter am Mittagstisch erzählt habe, wovon die nächste Kolumne handeln soll, sagten viele: „Ah ja, das kenne ich auch.“ Oder: „Ich habe mich eigentlich auch noch nie zu einer Gruppe dazugehörig gefühlt.“ Eine nahe liegende Erklärung wäre, dass die Gruppe, der man sich vermeintlich nicht zugehörig fühlt, auch nur ein loser Haufen ist, der ähnliche Ängste hat wie man selbst, eventuell aber andere Strategien, damit umzugehen. So ähnlich habe ich in einer meiner letzten Kolumnen geschrieben, in der es darum ging, ob es normal ist, sich allein zu fühlen, auch wenn man in Gesellschaft ist. Häufig ist man objektiv gar nicht allein, sondern macht sich einfach zu viele negative Gedanken darüber und über sich selbst. Nach Ansicht von Psychologen ist es daher nicht so entscheidend, sich äußerlich zu verändern, sondern zu lernen umzudenken.
„Lieber über Mitmenschen sprechen“
Dir, liebe A., geht es besonders in Situationen so, in denen sich deine Freunde übers Shoppen oder ähnliches unterhalten. Das ist dir zu oberflächlich. Ich habe zunächst nicht genau verstanden, worauf deine Frage zielt, aber nachdem wir ein paar E-Mails gewechselt haben, ist mir klarer geworden, dass du eigentlich danach fragst, ob es normal ist, nicht dazuzugehören, wenn man sich für Hilfsbedürftige einsetzt und sich für ein bisschen mehr interessiert als für Materielles.
Du bist 24 Jahre alt, arbeitest als Journalistin und schreibst mir: „Vielen Freunden geht es nur darum, sich selbst möglichst gut und toll darzustellen. Ich habe mich gestern mit den Uni-Mädels von früher getroffen und da habe ich es wieder ganz stark gemerkt. Ich weiß, dass Themen wie Markenkleidung, iPhone 7 und Elyas M’Barek normal sind, aber ich finde es einfach unwichtig. Ich würde mich lieber über Umwelt und Mitmenschen unterhalten und Probleme lösen. Natürlich auch nicht immer, aber wenn man drauf zu sprechen kommt, wird es meist abgetan mit den Worten, man könne sowieso nichts ändern. Und das sehe ich einfach anders.“
Ich kann dich beruhigen, liebe A., mit deinem Interesse bist du nicht allein. Die letzte Shell-Jugendstudie hat gezeigt, dass Werte wie Nächstenliebe und Umweltbewusstsein gerade wieder Aufwind haben. War es im Jahr 2010 noch 58 Prozent der befragten Jugendlichen im Alter von 12 bis 25 Jahren wichtig, sozial Benachteiligten und Randgruppen zu helfen, waren es im Jahr 2015 schon 60 Prozent. Beim Thema Umwelt ist die Zustimmung sogar von 59 auf 66 Prozent gestiegen. Dabei haben die Forscher die jungen Leute in vier Typen eingeteilt: Macher, Zögerliche, Materialisten und Idealisten. Wenig verwunderlich, dass Materialisten, die etwa 24 Prozent der Jungen und knapp 10 Prozent der Mädchen ausmachen, sich kaum für Hilfsbedürftige interessieren. Die Mehrheit der Macher (31 Prozent der Jungen und 32 Prozent der Mädchen) und Idealisten (20 bzw. 30 Prozent) aber schon.
Materielle Dinge wie Macht oder ein hoher Lebensstandard verloren im Vergleich zu früher eher an Bedeutung. Dafür hat das politische Interesse zugenommen, wie die Studie zeigt. Während sich 2002 nur 30 Prozent als politisch interessiert bezeichneten, waren es 13 Jahre später 41 Prozent. Sechs von zehn Jugendliche haben sich schon einmal an politischen Aktivitäten beteiligt, etwa aus politischen Gründen Waren boykottiert oder Online-Petitionen unterzeichnet. Jeder Vierte hat an einer Demonstration teilgenommen und jeder Zehnte engagiert sich in einer Bürgerinitiative.
Hilfsbereitschaft, Gerechtigkeitsgefühl und Verantwortungsbewusstsein sind für die Mehrheit der Eltern wichtige Erziehungsziele, hat der Monitor Familienforschung ermittelt. Und immerhin 81 Prozent der Erwachsenen geben in einer Umfrage des World Economic Forum an, dass ihre persönlichen Werte und Moralvorstellungen auf Bildung und Familie beruhen. Als wichtigste Werte wurden dabei Ehrlichkeit, Integrität und Transparenz genannt.
„Mitleid und Mitgefühl sind nur kurz da“
Bleibt aber immer noch ein großer Teil Menschen, dem all diese Werte nicht so wichtig sind oder die den Eindruck haben, wie deine Freunde, liebe A., dass sie eh nichts ändern können. „An Obdachlosen laufen viele einfach vorbei“, schreibst du. „Ich glaube schon, dass Mitgefühl und Mitleid da sind, aber nur ganz kurz. Dann vergessen die meisten sie wieder. Einfach, weil es überall Obdachlose gibt, weil sie schon alltäglich sind. Und viele Leute eben an erster Stelle auf ihr eigenes Wohl achten. Das ist ja auch in Ordnung und geht mir manchmal nicht anders, aber wenn ich sicher bin, dass keine kriminelle Bande dahintersteckt, kann ich nicht vorbeilaufen. Ich gebe kein Geld, aber kaufe etwas zu essen oder zu trinken und spreche mit den Menschen. Den meisten meiner Freunde ist das peinlich und unangenehm. Ich sei zu gütig und mein Herz wäre zu groß und auf Dauer würde mich das ja runterziehen. Ich solle mir mein Geld und meine Mühen sparen und niemand müsse in Deutschland auf der Straße leben. Das sind die Argumente der anderen. Ich sehe das nicht so.“ Das gibt dir dann das Gefühl nicht dazuzugehören zu der Mehrheit.
Wenn ich es mir recht überlege: ein sehr schönes und treffendes Thema für eine Neujahrskolumne, liebe A. Denn es wäre doch ein guter Vorsatz für dieses Jahr, mehr hinzuschauen, wenn Hilfebedürftige tatsächlich unsere konkrete Unterstützung brauchen.
„Keine Gruppe teilt meine Werte“
Schließen möchte ich mit einer E-Mail, die mir Krautreporter-Leser Dieter geschrieben hat. Sie ist ein schönes Fazit: „Einerseits versucht jeder, sich Gruppen anzugliedern und als normal zu gelten, andererseits will auch jeder etwas Besonderes sein. Es geht also um Zugehörigkeit. Man könnte die Frage stellen: In welcher Gruppe kann ich als normal gelten? Leider habe ich das noch nicht für mich gelöst. Ich habe noch keine Gruppe gefunden, in der ich mich dauerhaft als normal eingliedern kann. Ich irritiere Vereinsmitglieder, Freunde und Kollegen. Das müssen nicht negative Sachen sein, zum Beispiel übernehme ich gerne Jobs, die sonst keiner machen will. Da brauche ich mit niemandem in Konkurrenz zu treten. Das irritiert manche Kollegen, weil sie meinen, ich wolle mich bei Chefs beliebt machen. Da ich diese Jobs dann oft anders erledige, als es die Vorgesetzten erwartet haben, irritiere ich auch diese. Nach meinen Werten bin ich normal, ich hab nur noch keine Gruppe gefunden, die meine Werte teilt.“
Aufmacherbild: Julia Roberts als Umweltaktivistin Erin Brockovich im gleichnamigen Film (Sony Pictures).