„Bevor ich heimfliege, zerstech ich noch die Reifen an Dennys Transporter“, sagt Emilio und zieht mit blau gefrorenen Fingern eine Nagelschere aus seiner Jackentasche.
„Ich würd ein paar Tage warten. Gestern Nacht hat er uns gefeuert, heute sind seine Reifen platt – das wär’n bisschen offensichtlich, oder?“
„Mir egal. Heute Abend bin ich schon in Rom.“
Es ist der Morgen des 23. Dezember. Das Getrippel der ersten Geschenkejäger zerstiebt den Schneeschleier auf dem Bürgersteig der Princess Street in Edinburgh. Kinder stehen mit offenen Mündern vor Schaufenstern, als hätte man sie kurz pausiert.
In Hinterhöfen und Seiteneingängen stehen Angestellte mit Weihnachtsmützen und rauchen Zigaretten auf Vorrat. An den Kreuzungen sitzen Bettler mit Pappbechern, und ein Mann im Karo-Rock spielt Dudelsack.
„Weißt du was”, sage ich, „ich könnte ihm die Reifen in ein paar Tagen einfach nochmal zerstechen.” Emilio und Valentina lachen ein kleines dreckiges Lachen.
Wir sind auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt, der, auch wenn es nirgendwo steht, für alle der German Market ist, weil es hier deutsche Bratwürste, deutschen Wein, Schinken, Lebkuchen, Stollen und so weiter gibt.
Viele der Standbesitzer und Bosse kommen aus Deutschland, die meisten Angestellten sind Lohnarbeiter aus Osteuropa. Praktisch die halbe EU ist hier alljährlich zum greedy Krippenspiel versammelt. Aber in Sachen Christmas sind wir Germans absolute Autorität. Den Weihnachtsbaum, die Weihnachtspostkarten – haben alles deutsche Adelige mit an den englischen Hof gebracht.
Vor allem Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha war so ein Advents-Nerd, dass er, nachdem er seine Cousine Queen Victoria geheiratet hat, anfing, Weihnachtsbäume mit der Post zu verschicken.
Der ganze deutsche Weihnachtsfetisch wurde megapopulär, und so kam es, dass Valentina, Emilio und ich gute 170 Jahre später für einen Typ aus Sachsen namens Denny „Giant German Sausages“ in Edinburgh grillen. Beziehungsweise: gegrillt haben. Bis gestern Nacht. Bis er uns vor die Tür gesetzt hat.
„Weißt du, wie wir ihn richtig ficken können?“, fragt Emilio. „Denny muss einen Teil seiner Einnahmen an den Marktbetreiber zahlen. Aber ich weiß, dass er immer nur die Hälfte seiner Einnahmen angibt.“
„Sonni könnte ich sogar ins Gefängnis bringen. Ich weiß, von wem er sein Crystal kauft, für wie viel, wie er es schmuggelt, alles!“
„Zu was für einem fiesen Haufen uns das Ganze gemacht hat“, sagt Valentina.
Das Versprechen: 6.000 Euro bar auf die Hand
Denny hatte ich etwa ein halbes Jahr zuvor kennengelernt, beim Fußballspielen. Wir kamen ins Gespräch, und er bot mir einen Job an.
„Hundert Euro gibt’s pro Tag, plus fünf Pfund Verpflegungsgeld. Unterkunft wird gestellt, Rückflug kriegst du bezahlt. Wenn’s gut läuft, gibt’s am Ende noch’n Bonus“, sagte er und nickte mit seinem großen, pockennarbigen Kopf.
„So kannste schon auf deine sechs Scheine kommen.“
„Klingt doch gut“, sagte ich.
Denny stand neben seinem Eis-Stand auf einem Parkplatz in Zwickau. Er war mal bei der Bundespolizei und später Security. Kiesel knirschten unter seinen Flip-Flops, während er die Beine spreizte, die Arme verschränkte und seine ziemlich großen Oberarmmuskeln mit den Handrücken nach außen drückte.
Denny suchte noch Männer für den „Big Barbecue“ in Edinburgh. Bezahlt wird Cash. Einen Arbeitsvertrag gibt es nicht. Engländer, sagte er, das muss was Genetisches sein, die können nicht grillen. „Die kennen nur Roh oder Schwarz.“
„Ist aber schon ’n harter Job“, sagte Denny. Knapp drei Monate lang zwölf Stunden am Grill, alles draußen, ein freier Tag pro Woche.
„Kein Thema“, sagte ich. Man gewöhnt sich an alles. Außerdem brauchte ich das Geld.
Für was es sich zu arbeiten lohnt
Ich hatte gerade meinen Job bei einer Lokalzeitung gekündigt. Keine Ahnung, ob ich auch als freier Journalist über die Runden kommen würde. Aber Dennys sechs Scheine würden sicher helfen. Jeder, den ich später auf dem Weihnachtsmarkt kennenlernen sollte, hatte so eine Geschichte, arbeitete für etwas Besonderes. Fast wie eine Fremdenlegion:
Valentina aus Rumänien will sich von ihrem Lohn ihren ersten eigenen Laptop und die erste eigene Kamera kaufen. Janos will sich eine Petersilien-Bündelmaschine für seinen Bauernhof in Ungarn kaufen. Petko und Veni aus Bulgarien, ehemalige Pizzeria-Besitzer, wollen sich neue Bienenvölker kaufen. Sonni aus Sachsen will sich in Tschechien ein Kilo Crystal Meth kaufen und es in Nordrhein-Westfalen zum doppelten Preis weiterverticken. Orsi will sich ein neues Fenster für ihre Wohnung in Szeged kaufen und heiraten. James will das Haus seiner Großmutter in den Highlands renovieren und in eine Magic-Mushroom-Farm verwandeln.
Wenn die Kunden einen hassen
Der Weihnachtsmarkt läuft nun seit einer Woche. Ich stehe unter einer Plastikplane, die hinter einer Holzbude aufgespannt ist, und schneide Brötchen auf. Regen tropft auf eine Tiefkühltruhe, Kartons mit Servietten und halbgefrorenen Pommes. Vom Nachbarstand zieht der Geruch warmen, fränkischen Biers vorbei.
Ich werfe die Brötchen in Müllsäcke und die Säcke in eine Ecke, in der das Wasser nicht durch die Plane tropft. Das Brot ist für morgen, heute ist nicht viel los. Aber morgen ist dann auch nicht viel los, und erstmal müssen die „Flȗte” verkauft werden, sagt Denny, weil da das Haltbarkeitsdatum abläuft.
Flȗte sind kleine weiße Baguettes, die aussehen wie Schaumstoff und sich anfühlen wie Silikon. Ich hasse es, Wurst in diesen Mini-Alien-Brötchen zu verkaufen, weil die Kunden einen dafür hassen.
Eigentlich könnte es mir ja egal sein. Aber wenn man 7,50 Euro für eine Wurst abkassieren muss, will man wenigstens, dass es nicht schon auf den ersten Blick wie Betrug aussieht.
Inklusive all den Dingen, die Denny nicht zu den zwölf Stunden Arbeitszeit zählt, wie den Grill morgens aufsperren, Feuer machen und abends putzen, ist das ziemlich genau so viel, wie ich pro Stunde verdiene: 7,50 Euro. Eine Stunde meiner Zeit ist eine Wurst wert. So hab ich das noch nie gesehen.
Ein Tropfen Bratwurst im Haifischbecken
Wir verkaufen eine No-Name-Supermarkt-Rostbratwurst, die es im Großhandel für 2,50 Euro im Zehnerpack zu kaufen gibt. Also wirklich nichts Besonderes. Aber Fett, das auf glühende Holzkohlen tropft, ist wie Blut im Haifischbecken.
Die Besucher des Weihnachtsmarktes landen so gut wie alle irgendwann bei uns. Sie drehen Runden um den Grill, langsam, ein adventliches Balzritual, die Mischung aus Vorfreude, Panik und Besinnlichkeit, die das Weihnachtstier im Menschen hervorlockt, sie kommen kreisend näher, schlagen irgendwann einen Haken Richtung Bratwurst, Nasenflügel gebläht, schnurstracks jetzt, das Portemonnaie knallt auf den Holztresen: “A sausage, please!”
Fleisch im Stehen mit den Zähnen zerteilen, mit leicht gebeugtem Nacken, und beim Kauen die anderen Menschen an der Futterstelle beobachten – eine erfolgreiche, eine befriedigende Jagd. Und viel einfacher als die nach Geschenken. Ich habe das Gefühl, diese Wurst könnten wir auch für zehn Pfund verkaufen.
Ich verpacke die frischen Brötchen in Müllsäcke. Als die fucking Flȗte zwei Tage später endlich alle sind, sind die frischen Brötchen zu alten Brötchen geworden und so zerquetscht, dass man sie erstmal in Form massieren muss, bevor man sie verwenden kann.
Soßenflaschen sind wochenlang im Dauereinsatz
Petko, der Bienenzüchter aus Bulgarien, kommt in meiner Brötchenecke vorbei, um seine Senf-, Mayo- und Ketchupflaschen aufzufüllen. Er zeigt mir Fotos der Pizzeria, die ihm einmal gehörte. Die Soßen-Flaschen sind mehrere Wochen im Umlauf, ohne ausgespült zu werden.
Wenn sie leer sind, oder halb leer, aber gerade jemand Zeit hat, wird Soße aus einem großen Eimer nachgekippt. Dann die Kruste vom Vortag abwischen, Deckel drauf. Auf der Flasche steht eine große Marke. Aus dem Eimer kommt was anderes.
Sonni, Crystal-Dealer aus Sachsen, kommt vorbei und sagt: „Wenn ich ’ne Muschi hätte, würde ich mir jetzt den Finger reinstecken.”
„Interessant.”
„Ey, soll ich dich mal auf meinen Fos stecken?” (Fos ist ungarisch für Schwanz)
„Pass besser auf, was du sagst, ich bin im Boxclub.”
„Aha?”
Der Chrystal-Dealer liest die Bibel und glaubt an Riesen
Ich schlage vor ihm eine Kombination in die Luft. Er lacht und macht Schattenboxen, springt bei jedem Schlag mit beiden Beinen vom Boden ab. Die Kapuze fällt ihm ins Gesicht. Sonni ist etwa 1,90 Meter groß und bringt rund 100 Kilo auf die Waage. Bodybuilding, Anabolika, Solarium, Crystal Meth sind seine Welt. Er hat seine eigene Sonnenbank zu Hause. „Kommste mal vorbei”, sagt er.
Den Job auf dem Weihnachtsmarkt nahm er an, weil ihm seine Ex-Freundin 15.000 Euro geklaut hat. Da es Drogengeld war, konnte er sie schlecht anzeigen. Also hat er ihr eine Schere in den Oberschenkel gesteckt. Das einzige Buch, das Sonni je gelesen hat, ist die Bibel.
„Decken, du musst dein Gesicht decken“, sag ich, „nimm die Fäuste hoch.“
„Bei dir brauch ich doch keine Deckung“, sagt er und lacht wie ein Pferd. Er dreht mich um, legt seine Arme um mich und drückt zu. Ich kann mich keinen Millimeter bewegen, meine Lungen drücken gegen den Gaumen und fallen gleich aus dem Hals.
Sonni lässt los und setzt sich auf ein Bierfass. Er ist überzeugt, dass auf der Erde Menschen gelebt haben, die 20 bis 30 Meter groß waren. „Schädel so groß wie ein Haus. Von solchen steht ja auch schon in der Bibel geschrieben, ich sag nur Goliath. Aber die Öffentlichkeit darf das natürlich nicht erfahren, dass die Bibel recht hatte, deswegen hält die Regierung das geheim.”
„Warum sollten die das geheim halten, Sonni?”
„Na, weil sie die alle umgebracht haben. Die Menschen haben die Riesen plattgemacht, so wie die Riesen vorher auch irgendjemand plattgemacht haben, vielleicht die Dinosaurier. Und jetzt ist wieder Krieg, jetzt kämpfen die Muslims gegen uns.”
An der Foxy-Bar, gegenüber von Dennys Grill, verkauft ein ehemaliger Fallschirmjäger aus Deutschland angeblich Winzer-Glühwein. „Hmm, den Unterschied schmeckt man!”, sagt ein Kunde, während hinter der Bar ein ungarischer Bauer stundenlang Glühweinflaschen aus dem Supermarkt in die Kanister vom Weingut füllt.
Der Hippie wird als erster gefeuert
Jens, Hippie aus Sachsen und mein Arbeitskollege, liest seit drei Jahren keine Nachrichten mehr, sagt er. Es ist ein bitterkalter Morgen, und der Markt noch nicht geöffnet. Wir besorgen uns einen Kaffee, drehen uns ein Kippchen. Nachdem wir gecheckt haben, ob Denny oder einer der irren Marktbetreiber irgendwo in der Nähe sind, zünden wir sie an, und Jens erklärt mir, warum die Welt von London City aus regiert wird. Das wissen gar nicht so viele, aber die gehört gar nicht zu Großbritannien, sondern ist Privateigentum der Queen, sagt er.
Von dort aus werden die Finanzströme der Welt in schwarze Kanäle dirigiert, ein dichtes, nur für eine kleine Elite durchschaubares und kontrollierbares Netz, in dem Gold und Geld und Öl eingefangen werden, was die Fänger dann unter sich aufteilen. Und wenn es Streit über die Aufteilung gibt, dann entstehen Kriege.
Jens ist der erste, den Denny feuert. Eine Frau hatte eine Bratwurst bei ihm gekauft und gesagt: „Was für ein schöner Weihnachtsmarkt!“ Jens sagte: „Schön wie Scheiße!“
Dann erzählte er noch was von Hungerlohn und 14 Stunden Arbeit am Tag und einem Boss, den er immer nur sieht, wenn er das Geld aus der Kasse holt. Die Frau arbeitete für den Marktbetreiber, der Dennys Boss in London anrief, der Denny in Edinburgh anrief, und noch am gleichen Abend musste Jens Weihnachtsmütze, Schürze und Holzfällerhemd wieder abgegeben und aus seinem Zimmer ausziehen.
Für ihn kam Emilio, ein kleiner, hyperaktiver Neapolitaner mit Segelohren, der in einem Hotel in Amsterdam als Kellner arbeitet und nun seinen Weihnachtsurlaub nutzt, um in Edinburgh einzuspringen.
Mit Emilio ändert sich vieles. Zum einen, weil er Gras hat. Zum anderen sind sich die Ungarn in unserem Team nun endgültig sicher, dass sie dieses Jahr verarscht werden.
Wie die sechs Ungarn gefeuert und wieder eingestellt werden
Es gibt eine klare Hackordnung auf dem Markt, die von allen akzeptiert wird. Die Ungarn bekommen zwar das gleiche Geld wie ich. Meist arbeiten wir auch ungefähr gleich viel. Aber wenn es was wirklich Beschissenes zu tun gibt oder Überstunden winken, dann bleibt es immer an den Ungarn hängen.
Die deutschen Mitarbeiter des Marktbetreibers laufen schon um zehn Uhr morgens mit der Kamera Patrouille, fotografieren Mülltonnen, Weihnachtsdeko und dokumentieren, ob pünktlich angegrillt wird. Die Ungarn müssen oft im strömenden Regen an der Zuckerwattemaschine stehen, obwohl die nicht mal funktioniert. Die Deutschen machen Feierabend, die Ungarn müssen die Deko nachbessern. Der Deutsche hat das Werkzeug vergessen, der Ungar muss irgendwo was borgen gehen.
Die Ungarn wohnen in den beschissensten Apartments, die am weitesten weg sind und verpassen dauernd den letzten Bus und fluchen über die Taxipreise. Die Ungarn rebellieren. Die Ungarn wollen mehr Geld.
Dennys Boss schickt einen Spezialmann aus London, um die Sache zu klären: Rico. Rico kommt eigentlich aus Sachsen-Anhalt. Er kommt mit dem ersten Flieger, sagt Scheiße, isst eine Bratwurst, trinkt einen Glühwein, sagt Ficken, trinkt noch zwei Glühwein, leckt sich die Unterlippe wie ein Gecko, geht ganz oft mal kurz weg, kommt mit einem Zucken im Augenlid zurück, sagt „Die Müssen Mal Klar Kommen!” und geht Mittagessen, und als der Feierabend kommt, ist Rico rotzfett und die Ungarn sind ihren Job los. Rico geht auf ein paar Rum in den Pub, und Denny hat ein Problem: Wie ersetze ich über Nacht sechs Leute?
Erste Idee: Emilio muss vom warmen Grill nach draußen an die Zuckerwattemaschine. Den ganzen Tag am Hintereingang vom Museum stehen, und keine Sau will Zuckerwatte, und Emilio, der kiffende, Reggae liebende Neapolitaner, hat nicht mal Winterschuhe. Nach einer Stunde kommt er zurück, zitternd vor Wut und Kälte.
„He can a not do this with me!”
Denny brüllt aus gut 50 Meter Entfernung: „You! Go Back!”
„Denny, I can a not!”
„You Go Back Now! Or You Go Home!”
Dann geh ich eben, sagt Emilio.
Dennys stolze Bilanz: Sieben Leute gefeuert in zwölf Stunden. Eine Menge Telefonate mit London, und einen Tag später sind alle wieder an Bord. Emilio bekommt einen Vorschuss, um sich Winterschuhe zu kaufen. Die Ungarn bekommen eine Gehaltskürzung. Und Denny ist nur noch der Arsch, der unseren Lohn im Rucksack rumträgt.
Wenn der Laden läuft, ist es eine Party
Alltag am Grill. Ein paar hundert Mal am Tag: Brötchen aus dem Korb nehmen, die aufgeschnittene Seite ertasten, auf eine Serviette legen. Die Grillzange nehmen, die Wurst packen, ins Brötchen stecken, Zange zurück, Geld abkassieren. Ein paar hundert Mal am Tag kommt die Frage: „What kind of sausage do you have?”
Ich beginne in dem merkwürdigen Singsang von Stewardessen zu sprechen, die die Wörter immer an den unmöglichsten Stellen betonen, denen man ansieht, dass sie beim Sprechen an etwas anderes denken. „The Bratwurst is a traditional German pork sausage with herbs and mustard seeds, The Krakauer is a Polish bacon sausage with a bit of chili, The Käsekrainer is bacon filled with cheese. Please be aware that smoking is not permitted throughout the whole …”
Jeder von uns hat seine eigene Antwort auf „What kind of sausage do you have?”, es ist sowas wie eine Visitenkarte. Emilios Variante ist: „Germany one, bacon one, cheesy one.”
John, ein Koch aus London, der sich manchmal Zöpfe in den Vollbart flicht, kann Würste so hymnisch beschreiben, dass manche Männer dafür in den Krieg ziehen würden. Je betrunkener er wird, umso schmieriger werden die Wurstsprüche. Aus der Käsekrainer wird dann der Schinkenriemen mit der heißen weißen Soße inside, „The Lady Sausage.“ Die Krakauer ist natürlich die „Man Sausage“, weil sie so scharf ist. Witzigerweise gibt es immer genügend Leute, die das witzig finden. Kinder und Asiaten sind so fasziniert von dem großen Grill, dass sie Videos von uns machen.
Wenn der Laden läuft, ist es eine kleine Party. Nach zwei Wochen sind wir ein Team geworden. Ich lasse die Grillzange um den Zeigefinger kreisen. Valentina tanzt. Emilio trommelt. John singt der Lady-Sausage ihre Hymne. Amerikaner und Pärchen machen Selfies vom ersten Biss in die Wurst, was mal wie eine Mutprobe, mal wie ein Blowjob aussieht. Rentner lassen einpacken. Ein Chinese filmt mich dabei, wie ich „Käsekrainer” und „Krakauer” sage.
Und wir haben ein lebhaftes Tauschgeschäft mit den anderen Angestellten auf dem Weihnachtsmarkt in Gang gebracht. Die meisten holen sich gegen Mittag bei uns eine Wurst. Und kommen dann gegen Abend wieder, um sich zu revanchieren. Sie bringen: Heiße Schokolade mit Amaretto. Kaffee mit Cognac. Bier in Kaffeebechern. Rum in der Cola. Was fast jeder dabei sowieso dabei hat: Paracetamol mit Koffein gegen die Kälte und die Müdigkeit. Iridina gegen rote Augen vom Kiffen.
Dreh die Musik lauter. Schür das Feuer. Der Laden läuft.
Sonni ruft mich. „Guck mal, die ist aber auch nicht schlecht”, sagt er, und zeigt auf ein Mädchen, das direkt vor ihm steht. „Wenn ich der jetzt ein Yes-Törtchen mit ’ner Kerze drauf bringe und sage ‚Ey, kann ich dir die Muschel lecken?‘ – denkste das zieht?”, fragt er mich. György, arbeitsloser Bankkaufmann aus Ungarn, der das mithört, stiert in die Nacht. Wird wieder nichts mit dem letzten Bus heute für ihn.
Sonni, der Crystal-Dealer, macht auch mal normale Sachen
Seinen wöchentlichen freien Tag nutzt Sonni, um am Hafen Muscheln zu sammeln. Zurück zu Hause, zieht er sich dann seine Tigertatzenpantoffel an und die Hose aus und wäscht seine Beute mit Shampoo. „Die kommen als Deko bei mir ins Bad!” Er wohnt in einer Kleinstadt, in einem Haus mit seiner Mutter und den Geschwistern. „Ja, denkste nicht, dass ich auch normale Sachen mache, oder?”, fragt er mich und erzählt dann noch eine Menge von genau den Sachen, wegen denen man sich so schlecht vorstellen kann, dass Sonni, der Crystal-Dealer, auch normale Sachen macht:
„Einmal habe ich meiner Mutter Meth ins Gesicht geblasen. Ich hab an ’ner Pfeife geraucht und sie so ‚Rauchen ist ungesund‘ und ich so ‚Mam, das ist Meth‘. Die Kristalle sind so klar, sieht ja wirklich gesund aus, wie aus der Apotheke. Abends kommt sie dann und sagt so ‚Ey, ich bin noch gar nicht müde, ich könnt noch was machen, ich bin voll aktiv und so‘. Und zwei Tage später war sie dann voll fertig. Nee, meine Mam ist schon in Ordnung. Die steht voll hinter mir.
Einmal hat die Polizei Razzia bei mir gemacht, wegen der Scheiße mit meiner Ex. Ich komm rein und mein kleiner Bruder auf dem Boden und zwei Bullen auf seinem Rücken. Aber ich so voll ruhig geblieben, ne, so ‚Ey, wollt ihr ’nen Kaffee?‘ Und meine Mam so ‚Nee, mein Junge macht sowas nicht‘. Und ich hatte das Zeug die ganze Zeit vorn am Sack.“
Wie Denny ins Geschäft mit den Weihnachtsmärkten einstieg
Denny, den ich immer seltener zu Gesicht bekam, der auch immer weniger mit uns redete, hatte ganz offensichtlich keine Ahnung von Gastronomie, hasste den Winter, und mit Leuten konnte er auch nicht so großartig. Er stammte wie gesagt aus dem Sicherheitsgewerbe. Aber eines Tages besuchte er mich in meiner Ecke beim Brötchenschneiden und erzählte mir, wie er in das Geschäft mit den Weihnachtsmärkten eingestiegen ist.
Er hatte diesen Freund in London, und bei ihm hörte er die Geschichte von dieser Frau, die auf einer dieser Londoner Partys einen Typ kennengelernt hatte. Beide ganz normale Leute, sie fangen an, zusammen auszugehen, in ganz normale Läden, und fangen an, gemeinsam Urlaub zu machen, und nach einem Jahr im Gebrauchtwagen durch England sagt er: „Jetzt kann ich’s dir ja sagen: Ich bin Millionär!” Und Denny, der Eisverkäufer, der mal Security war, denkt sich: „In London, da geht was!“ Und er zog hin. Mit Einbauküche.
Aber dieses Jahr läuft’s halt nicht. Wetter scheiße, die Leute Angst vor Anschlägen, die Angestellten klauen, oder wo bitte ist das ganze Geld, das hier angeblich zu holen ist, hä?
Sonni läuft Amok
Sonni darf nicht in den Grill, weil er den Test für den britischen Hygienepass nicht hingekriegt hat. Wir sind alle sehr froh darüber in diesem Moment, ich ganz besonders, denn Sonni, der vorbestrafte Bodybuilder und Crystal-Dealer, ist gerade sehr rot im Gesicht und die Adern an seinem Hals sind sehr dick, und seine Augen sind weit aufgerissen, als er mir zuruft: „Ich bring dich um, du Vogel! Brauchste gar nicht so zu gucken, ich hau dich weg, du Lappen!”
Ich nehme die tiefgefrorenen Würste, die er angeschleppt hat. Unterzeichne auf der Lieferliste und reiche sie ihm vorsichtig nach draußen. „Beruhige dich.” Bei den Kunden, die im Gedränge neben ihm stehen, setzt langsam der Herzschlag wieder ein.
Das Problem mit tiefgefrorenen Würsten ist, dass man sie auf einem 300 Grad heißen Grill nicht gar kriegt. Außen schwarz, innen kalt. Wir brauchen aufgetaute Würste. „Du hast mir gar nichts zu sagen”, sagt Sonni. Well, für den Moment will ihm niemand widersprechen.
Am Abend kommt Denny. „Was war denn das Problem heute?”
„Denny, wir können gefrorene …”
„Wer sagt denn, dass du hier den Sonni rumschicken kannst?”
„Denny, er hat die falschen …”
„Ich bin hier der Boss, und ich sage, was hier gemacht wird! Wenn dir das nicht passt, kannst du gehen!”
Zwei Wochen Anschiss später
„Was meinst du, machen wir weiter, oder hauen wir hin?”, frage ich Valentina zwei Wochen Anschiss später, während sie sich aus den sechs Schichten ihrer Grillgarderobe schält.
„Nein, ich will das Durchziehen. Ich brauch das Geld”, sagt sie.
„Gut, ich auch. Wenn er uns nicht vorher raus hat.”
Es klopft an der Tür unseres Apartments. Es ist Denny.
„Ich hab die Schnauze voll! Du machst nicht, was man dir sagt. Du machst nur, was du willst. Ich zahl euch jetzt bis heute aus, und morgen früh um acht seid ihr hier raus!”, brüllt Denny.
Schweigend blättert er die Pfund-Scheine auf den Tisch, dann verschwindet er. Eine halbe Stunde später klopft es wieder an der Tür. Es ist Emilio. „Seit 14 Jahren bin ich Kellner. Und auf einmal soll ich scheiße arbeiten?”
Happy End
Es ist der Morgen des 23. Dezember. Das Getrippel der ersten Geschenkejäger zerstiebt den Schneeschleier auf dem Bürgersteig der Princess Street. Valentina, Emilio und ich laufen zum Weihnachtsmarkt, auf dem wir gestern Nacht noch gearbeitet haben, und schmieden Rachepläne.
Aber am Ende hat doch niemand die Reifen an Dennys Transporter zerstochen. Es ist ja alles irgendwie noch gut geworden. Emilio ist nach Hause geflogen und hat zum ersten Mal seit sechs Jahren wieder Weihnachten mit seiner Familie gefeiert.
Valentina und ich fanden noch am gleichen Tag einen neuen Job. Deutschen Winzer-Glühwein verkaufen. Direkt gegenüber vom Grill. „Denny hat mir gesagt, ihr klaut. Glaube ich nicht. Außerdem kann ich Denny nicht leiden”, sagte unser neuer Chef.
Heiligabend drückte er uns Beutel mit Süßigkeiten, Weihnachtskarte und Knallbonbon in die Hand. „Mann, was für ein Glück wir haben”, sagt Valentina, als wir nach Feierabend die stille, glitzernde Princess Street rauflaufen, sie stößt mich in die Seite und ihre Zöpfe hüpfen.
Im Hotel lassen wir die Knallbonbons krachen, setzen Papierkronen auf und lesen uns Schneemannwitze vor. Ich gieße heißes Wasser in zwei Becher mit Instant-Nudeln und entkorke eine Flasche Rotwein.
Where do snowmen go to dance?
Snowballs!
Zum Schutz der Personen in dem Beitrag wurden alle Namen, außer dem von Valentina, geändert.
Die Geschichte von 2016 hat uns so gut gefallen, dass wir Christian Gesellmann gebeten haben, sie noch einmal zu überarbeiten und zu aktualisieren. Das Aufmacherfoto hat Vera Fröhlich ausgesucht (Unsplash / Clem Onojeghuo)