Anahitas Agent hatte ihr geraten, ihr Glück in den USA zu suchen – ihr „Typ“ komme dort gerade in Mode. Hinterher konnte Anahita sich nicht mehr daran erinnern, wie es überhaupt dazu kam, dass sie in den Jumbo-Jet stieg und nach Los Angeles flog. Sie muss wahnsinnig gewesen sein, dachte sie später.
Während des elfstündigen Fluges hatte Anahita dank dem großzügig ausgeschenkten Gin Tonic ihrer Fluggesellschaft tief geschlafen. Sie wachte erst auf, als das Flugzeug bereits über der riesigen Stadt kreiste. In Los Angeles angekommen, hat sie das kompromisslose Blaue des Himmels und die Armut in den Stadtteilen nahe dem Flughafen fasziniert: Obdachlose, gekleidet in mehrere Schichten von Fetzen, hausten unter Brücken, wo sie aus Plastiktüten, Einkaufswagen und Pappe ein Flüchtlingslager gebaut hatten. Manche trugen rote Mützen, die Weihnachtsmänner imitierten. Es war eine Parallelgesellschaft, die niemanden interessierte.
„Kein gutes Omen“, dachte Anahita und kurbelte das Fenster ihres Taxis hoch. Der Fahrer sprach Englisch mit einem Akzent, den Anahita weder zuordnen noch verstehen konnte. Dennoch redete er während der Fahrt pausenlos auf sie ein.
Ihr Taxi blieb vor einer neugebauten Wohnanlage stehen, der Fahrer stellte ihre beiden Koffer ungeduldig auf dem Bürgersteig ab und fuhr schnell davon. Die Sonne schien erbarmungslos auf Anahitas blasse Arme.
Der Concierge überreichte ihr die Schlüssel und führte sie im Eiltempo durch ihr neues Zuhause: Die einzelnen Apartments waren wie eine Wabe um einen Pool angeordnet, Anahitas Wohnung hatte zwei Zimmer – eins davon war ein an die zwanzig Quadratmeter großes Wohnzimmer, mit einem großzügigen Sofa in der rechten Hälfte des Zimmers, neben einem Plasmafernseher. Ein langer Esstisch, der von vier Plastikstühlen umgeben war, und eine offene Küchenecke befanden sich gegenüber. Das Schlafzimmer war klein und fensterlos, und die Wände waren so dünn, dass Anahita die Toilettenspülung ihrer Nachbarn hören konnte. Es war die richtige Wohnung, um eine Depression zu bekommen.
Gesucht: eine Rolle, etwas Gesellschaft
Die nächsten Wochen verbrachte Anahita damit, von einem Casting zum nächsten zu fahren. Es waren ganz unterschiedliche Rollen – eine Nebenrolle in einer Serie, Werbespots, die Hauptrolle für einen Science-Fiction-Film, ein High-School-Musical und sogar ein Film über den Spartakusaufstand standen auf ihrer Agenda. Doch all diese Rollen hatten eins gemeinsam – so sehr Anahita sich auch bemühte, sie bekam keine einzige.
Sie hatte es auch nicht geschafft, jemanden in dieser Stadt kennenzulernen. Ohne Zweifel waren die Amerikaner liebreizend, es war zwar nicht schwer, bei einem Vorsprechen mit jemandem ins Gespräch zu kommen, nur konnte sich aus einer Konkurrenz nur schwer eine Freundschaft entwickeln. Auch war sie nicht der Typ, jemanden im Café, Kino oder in einem Buchladen anzusprechen, natürlich wurde sie nicht selten selbst angesprochen – allerdings war sie nicht auf der Suche nach Sex. Manchmal ließ sie sich dennoch drauf ein, aus Mangel an sozialen Kontakten.
Anahita fing an, ziellos im Auto umherzufahren. Sie fuhr vorbei an niedrigen Häusern und blühenden Gärten, Supermärkten und Motels, mit riesigen Werbetafeln, Coffee-Shops und Drug-Stores. Die kalifornische Sonne bekam in der Weihnachtszeit einen gräulichen Einschlag. Anahita fing an, die Bewohner der ihr noch immer unbekannten Stadt zu beobachten: Die meisten wollten tatsächlich ins Show-Business, oder zumindest kam es Anahita so vor, während sie andere entlang der breiten Boulevards joggen und ihre Muskeln in den Fitness-Studios stählen sah. Sie fing an, sich mit ihnen zu vergleichen, vielleicht war ihr Körper der Grund dafür, dass sie nur Absagen bekam.
Täglich, kurz nach sieben Uhr morgens, bevor die Sonne zu stark wurde, stand Anahita auf und lief zehn Kilometer, am Abend fuhr sie ins Fitnessstudio und trainierte an den Geräten. Immer wieder kam sie an den Obdachlosen vorbei, manchmal steckte sie einem einen Dollar zu, versuchte, nicht in das verwüstete Gesicht zu schauen, während ihre Augen sich doch voller Faszination festhielten. Unwillkürlich hielt sie sogar den Atem an – nicht, weil die Menschen anders rochen, es war vielmehr ein Reflex der Unmenschlichkeit.
Eines Tages fiel Anahita ein altes Schild auf, das für eine Zoohandlung warb. Anahita parkte und betrat den Laden, der groß und hell war. Die Regale waren mit Hunde- und Katzenfutter vollgestellt, in den Gängen waren die Dosen sogar zu Pyramiden aufgetürmt, weiter hinten standen die Käfige mit Kanarienvögeln, kleinen Welpen und Kätzchen.
Dann sah sie ihn. Dem kleinen Affen hatte man eine Windel umgewickelt und ein rotes Piratentuch um seinen Hals. Er hatte sehr kluge, kugelrunde Augen und kleine Hände, die er sofort durch die Gitter seines Käfigs nach Anahita ausstreckte. Er wendete seinen Blick nicht von ihr ab, und es schien ihr, als ob sie seit langem wieder von jemanden tatsächlich angeschaut werde. Er erinnerte sie an ihren Großonkel, Abbas, der einst versuchte, ihr Anstand beizubringen. Anahita benannte den Affen nach ihren Onkel und nahm ihn mit nach Hause.
Da sie die Bedürfnisse eines Äffchens nicht wirklich kannte, hielt sie bei einem Kinderladen an, kaufte ein Babybett mit extra hohen Gitterstäben, eine Familienpackung Windeln und ein wenig Spielzeug. Vorsichtshalber nahm sie auch einen Erziehungsratgeber mit, da sie vor Jahren den Bericht eines Forscherehepaares gelesen hatte, die einen Schimpansen zeitgleich mit ihrem Sohn aufzogen – im ersten Lebensjahr unterschieden die beiden Gattungen sich kaum voneinander. Das Paar an der Kasse vor ihr stritt wegen Weihnachtsgeschenken.
Als Anahita Abbas mit Babybrei aus dem Glas fütterte, rief ihr Agent an. Es war das erste Mal, dass sie mit ihm sprach, seitdem sie in Los Angeles gestrandet war. In den letzten Wochen hatte Thomas, so hieß der Agent, sich stets verleugnen lassen. Er war von kleiner, gedrungener Statur und hatte volles, graues Haar, das er sorgfältig nach hinten gekämmt trug.
„Ich weiß, die letzten Wochen waren eine Durststrecke für dich. Aber ich glaube, nun habe ich was für dich“, sagte Thomas, seine Stimme klang nicht im mindesten entschuldigend, sondern selbstbewusst und ein wenig vorwurfsvoll.
Abbas schrie nach mehr Brei und versuchte, Anahita das Telefon aus der Hand zu schlagen.
„Ist es der Fernseher im Hintergrund, oder hast du dir etwa ein Kind zugelegt?“
„Es ist ein Affe.“
„Ist so was überhaupt erlaubt?“
„Nicht so wichtig.“
Abbas schrie immer lauter. Anahita meinte, in seiner Stimme leise Eifersucht zu hören.
„Hör zu, was ich dir jetzt anbiete, ist eine einmalige Chance.“
„So wie Los Angeles, wie du es mir damals versprochen hast und dann noch nicht mal meine Anrufe beantwortet hast?“
„Lassen wir das“, sagte Thomas: „Es geht um Reality-TV.“
„Thomas, ich bin Schauspielerin“, seufzte Anahita.
Thomas ließ sich nicht beirren und sprach weiter: „Es ist eine Kochsendung.“
Anahita legte auf.
Präsentation: Gerichte aus mit den USA verfeindeten Ländern
Thomas’ Sekretärin mailte Anahita dennoch den Zeitpunkt und den Ort des Castings. Das Konzept der Kochshow bestand darin, Gerichte aus den mit den USA verfeindeten Ländern zu präsentieren. Anahita, als gebürtige Iranerin und frisch in die USA Immigrierte, wäre für diese Rolle wie geschaffen. Thomas’ Sekretärin fragte, ob Anahita nicht zufällig sich im Land illegal aufhalte – das wäre womöglich ein Plus, um mögliche mexikanische Konkurrenz auszuschalten.
Die Idee zur Sendung war von einem Restaurant in Pittsburgh geklaut, das sich Conflict Kitchen nannte und ausschließlich die Gerichte der Länder servierte, die sich mit den USA im Krieg befanden. Als das Lokal jedoch nach Nordkorea, dem Iran und Afghanistan auch Gaza auf seine Liste setzte, bekamen die Eigentümer Morddrohungen und mussten schließen.
Ein wenig später blinkte auf Anahitas Handy die folgende Kurznachricht von Thomas auf: „Wenn du nicht hingehst, werden wir dich nicht länger vertreten. Dein Rückflugticket wird nicht erstattet.“
Zum ersten Mal in ihrem Leben fing Anahita an, sich Kochshows anzuschauen. Manche gefielen ihr sogar. Sie verstand schnell, dass es bei keiner einzigen die tatsächlich zubereiteten Mahlzeiten eine Rolle spielten, es ging vor allem darum, ein Life-Style-Konzept und darum, die eigene Person zu verkaufen. Die meisten Nischen waren allerdings bereits besetzt. Bis auf wenige Ausnahmen waren die meisten Köche Männer und wohnten in England. Anahita hatte ausgerechnet, dass ihr größter Konkurrent Yotam Ottolenghi sein würde. Ein schwuler Israeli, der mit einem schwulen Palästinenser in London zusammenarbeitete, würde schwer zu überbieten sein, und an diesem Punkt realisierte Anahita auch, dass sie niemals das Leben führen würde, dass sie sich erträumt hatte. Auf das sie sich vorbereitet hatte.
Abbas krabbelte zu ihren Füßen und zerstörte Bauklötze. Anahita würde wieder seine Windel wechseln müssen, sie hatte es noch immer nicht geschafft, ihn der Windeln zu entwöhnen. Aber wohin sollte er auch pinkeln? Ihr Klo würde er sicherlich nicht benutzen.
Ottolenghi kochte vor allem Gemüse und stand symbolisch nicht nur für den Weltfrieden ein, sondern auch noch für die gesamte orientalische Küche. Dann gab es noch Jamie Oliver, aber er war kaum noch im Geschäft, genauso wie Nigella Lawson, die einstige „Domestic Goddess“, Staatskanzlertochter und Ex-Frau eines der berühmtesten Kunsthändlers – sie musste letztes Jahr eine öffentliche Drogenbeichte ablegen. Nigel Slater war auch etwas für schwule Männer mit Hochschulabschlüssen in Geisteswissenschaften und mit doppelten Einkommen.
Die Frauenrollen waren vor allem durch Julia Child und Martha Steward geprägt, zumindest bis Martha Steward wegen Steuerhinterziehung ins Gefängnis kam und Julia Child starb. Inna Garten war auch sehr gut im Geschäft, allerdings stark übergewichtig. Anahita folgerte daraus, dass sie eine Chance haben könnte, wenn sie eine Kreuzung zwischen Mutter und Geliebte verkörpern könnte.
Das erste Casting für die Show schaffte Anahita zu ihrer Überraschung spielend, wobei sie überhaupt nicht mehr damit gerechnet hatte, in dieser Stadt jemals einen Callback zu bekommen: Anahita kam zugute, dass sie sich schon im zweiten Semester damit abgefunden hatte, nach ihrem 35. Lebensjahr ausschließlich die Amme bei Shakespeares Romeo und Julia spielen zu können. Natürlich hoffte sie noch immer darauf, Julia spielen zu können, aber aus reinem Pragmatismus heraus hatte sie sich insgeheim darauf vorbereitet, sämtliche Mutter-Rollen in ihr Repertoire aufzunehmen. Nur mussten selbst die Mütter heute hot sein.
Auch bei der nächsten Runde kam sie weiter, und die dritte bestand aus einem Probekochen und weiteren Testaufnahmen. Man würde sie anrufen.
Anahita wurde ein Vertrag in Aussicht gestellt, weswegen sie nervös an ihrem viel zu kurzen Kleid zupfte und sich im Badezimmer des zuständigen Redakteurs ihre Lippen mit einem roten Lippenstift nachzog. Ein klein wenig Farbe blieb auf ihren weißen Zähnen hängen.
Der zuständige Redakteur hieß Matthew, wobei er vor ein paar Wochen entschieden hatte, seinem Namen einen französischen Akzent hinzuzufügen, und sich fortan Mathieu nannte. Er bestand darauf, Anahita seine Küche zu zeigen. Sie würde der eines Sterne-Restaurants in kaum etwas nachstehen. Abbas musste sie dafür zu Hause lassen, sie wusste, dass er ihr das so schnell nicht verzeihen würde.
Mathieus Haus lag in einer Gegend, die Wohlstand ausatmete – Anahita fuhr an mehreren privaten Kindergärten und einer High-School vorbei, die Vorgärten und die Pools waren gepflegt und angenehm großzügig, die Häuser lichtdurchflutet, ihre Bewohner waren weiß und schlank.
Als Anahita Mathieus Wohnzimmer betrat, bemerkte sie nicht nur die weichen Teppiche, den Kamin und den rustikalen Holztisch im Wohnzimmer, sondern auch die Familienfotos, auf denen eine blonde Frau mit Pagenkopf und stockdünnen Armen zwei lachende Jungen umarmte. Daneben stand ein Weihnachtsbaum, erbärmlich mit ein wenig Holzspielzeug geschmückt. Mathieu schob Anahita sofort weiter.
„Komm, ich zeig dir meine Küche“, sagte Mathieu zu ihr. Seine Küche sah teuer und zu groß geraten aus, die Oberflächen bestanden aus Granit und gebürstetem Stahl. Mathieu besaß einen Herd mit acht Herdplatten, die alle unbenutzt aussahen, einen überambitioniert großen Kühlschrank, und aus dem Augenwinkel machte Anahita ein Sous-Vide-Gerät aus.
Lüge: Mutti konnte überhaupt nicht kochen
Sie hatte bereits gelernt, dass die Esser im Westen nur noch Symbole konsumierten. Bei ihrem ersten Casting hatte sie Artischocken mit Foie Gras und Poularde in Halbtrauer, also mit Trüffeln unter der Haut serviert und versichert, dass sie für die zukünftigen Zuschauer bodenständiger kochen würde, aber zeigen möchte, dass sie durchaus auch anspruchsvolle Wünsche befriedigen könnte. Während sie also die Trüffel schnitt und unter die Haut jener Poularde schob, erzählte sie der Kamera von der orientalischen Küche Irans, einer ganz und gar natürlichen, ohne künstliche Aromen, ihre Mutter hätte zu Hause nur die besten Produkte verwendet, alle von lokalen Herstellern. In Wahrheit war ihre Mutter eine entsetzlich schlechte Köchin, die nichts außer Nudeln zubereiten konnte. Aber selbst die Nudeln waren jedes Mal so verkocht, dass Anahita sie schon als Dreijährige fragte, ob sie denn wenigstens einmal etwas Erträgliches machen könnte.
Ihre war Mutter eine starke Frau, die die Dinge in die Hand nahm und die Familie durchbrachte, insbesondere, nachdem ihr Ehemann sie und ihre vier Kinder verließ. Unterordnung und Genuss waren ihr fremd gewesen.
Als Dessert servierte Anahita einen Schokoladenkuchen mit flüssigem Kern und selbstgemachtes Eis. Die Poularde war ein Überbleibsel aus ihrer Zeit als Aushilfe in einem französischen Restaurant. Der Kuchen kam aus der Packung und das Eis aus dem nächsten Supermarkt, aber da die Aufnahmezeit schon überschritten war, beschränkte sich die Crew lediglich darauf, das Ganze zu essen, auf die Zubereitung achtete niemand.
Mathieu hatte allerdings recht schnell ausgerechnet, dass die Sendung großzügig von einer Allianz von Bio-Supermärkten unterstützt werden könnte. Anahita hat ihr Äußeres indessen vorsichtshalber dem neuen Konzept der Sendung angepasst: kaum Make-up, das Haar lang und lockig, die Kleidung dezent und teuer.
Nun stand Mathieu in seiner Küche, einsam und verloren, das Hemd ein wenig zu eng und zu weit aufgeknöpft, ein paar winzige Schweißperlen auf der Stirn und die unaufdringliche Bräune eines Seglers. Er schenkte sich ein Glas Wein ein, degustierte ihn, wobei aus seinem Mund ein für Anahita fast unerträglich peinliches Geräusch kam. Anahita versuchte die Irritation aus ihrem Gesicht zu verbannen. Nachdem er den Wein endlich hinuntergeschluckt hat, goss er ihr ebenfalls Wein ein. Sie schluckte ihn geräuschlos.
„Das hier ist mein Paco-jet, mit ihm mache ich Eis auf Sterne-Niveau, allerdings habe ich dafür auch die Haushaltskasse geplündert.“
„Und deine Frau hatte nichts dagegen?“
Mathieu tat, als habe er die Frage nicht gehört: „Das Gerät wird nur in einer ganz kleinen Menge hergestellt. So etwas gab es im Iran wohl eher nicht, was?“ Mathieu versuchte, sanft Anahitas Ellbogen zu berühren, sie schüttelte seinen Griff ab.
„Und das ist mein Salamander. Ein höhenverstellbarer Grill. Exzellent!“ und riss sie unsanft hinter sich her, damit Anahita noch ein Gerät bewundern konnte.
„Weißt du“, wird er ihr später sagen, nachdem sie ein mittelmäßiges Mal verzehrt hatten und er nun eine Crème Brûlée mit Roter Bete als Dessert servierte: „Ich bezeichne mich als gastrosexuell.“
Anahita missverstand und atmete erleichtert auf. Seine Knie rutschten näher an ihre heran.
Er las die Erleichterung in ihrem Gesicht und beeilte sich zu sagen: “Nicht homosexuell, gastrosexuell. Es ist nichts falsch daran, wenn Männer kochen. Frauen kochen, was sie können, Männer, was sie wollen.”
Anahita stand auf, verabschiedete sich schnell von Mathieu und verschwand.
Auf dem Weg zu ihrem Haus passierte sie wieder die Garnison von Obdachlosen. Sie fuhr langsamer und trat dann schnell das Gaspedal durch. Abbas schlief ruhig in ihrem Bett. Sie kuschelte sich an ihn.
Auch an jenem Morgen strahlte die kalifornische Sonne. Anahita fuhr entlang des Ozeans, die Wellen schlugen hoch, zwischen den einzelnen tauchte Surfer auf und ab. Sie zündete sich eine Zigarette an.
Anahitas Fernsehsender wollte zuerst eine Pilotfolge produzieren, um sie dann einem Testpublikum vorzuführen. Geplant war ein einziger Drehtag, und Anahita war auf dem Weg nach Teherangeles, einem Stadtteil zwischen Beverly Hills und West Los Angeles, in dem Auswanderer aus dem Iran wohnten.
Gewünscht: Kochbücher auf Farsi
Tatsächlich waren in diesem Viertel die meisten Schilder auf Persisch und nicht etwa auf Englisch, es gab Farsi-sprechende Frisöre, Persisch-Unterricht für Nicht-Iraner, Buchhandlungen, Banken, Nagelstudios und natürlich Restaurants. Doch Anahita wusste, dass zumindest die letzteren ihr keine Geheimnisse verraten würde. Sie ging in eine kleine Buchhandlung am Westwood Boulevard hinein und fragte in einer Sprache, die sie seit einem Jahrzehnt nicht mehr gesprochen hatte, nach einem Kochbuch. Der Verkäufer, ein hochgewachsener Mann mittleren Alters, der in seinem Laden Hausschuhe trug, präsentierte Anahita gleich drei. Es waren großformatige Ausgaben, auf Englisch geschrieben und in den USA verlegt.
„Haben Sie auch welche auf Farsi?“, fragte Anahita.
„Die hier sind besser“, entgegnete der Verkäufer und lächelte, etwa so, wie er seine Enkelin anlächeln würde, wenn diese ihre Hausaufgaben nicht gemacht hätte.
„Darf ich die anderen trotzdem sehen?“
Der Verkäufer zuckte mit den Schultern und brachte auch die anderen Bände. Insgeheim musste Anahita dem Verkäufer recht geben, die persischen Ausgaben hatten kaum Bilder, die Anweisungen waren eher an eine erfahrene Köchin gerichtet und nicht etwa an eine blutige Anfängerin, zudem hatte Anahita Mühe, ihre einstige Muttersprache fließend zu lesen. Vorsichtshalber beschloss sie, alle Bände mitzunehmen, und hoffte, dass ihre Kreditkarte nicht streiken würde. Ihr erstes Gehalt würde erst nach der abgedrehten Pilotfolge ausgezahlt werden. Sie war nun in der Endauswahl für die Rolle.
Mit diesen Büchern ging sie in einen Friseursalon und ließ sich dort auf der Wartebank nieder. Abbas war noch immer in der kleinen Tragetasche, die sie ihm gekauft hatte. Er trug eine rote Mütze und eine Windel. Von weitem sah er aus wie ein kleiner Säugling, doch als die Empfangsdame des Salons sich nun über ihn beugte, entfuhr ihr zuerst ein Schreckensschrei, doch dann lachte sie, laut und herzlich.
„Wie heißt er?“, fragte die Frau. Sie war von einer mittleren Statur, weder dünn noch dick, hatte eine goldumrandete Brille und ein extrem weißes Gebiss. Ihr Gesicht war ebenfalls ein wenig überpflegt.
„Abbas“, sagte Anahita.
„Beißt er?“, fragte sie.
„Affen beißen nicht“, sagte Anahita und errötete.
„Bis die nächste Epidemie ausbricht, was? Wer von euch beiden braucht einen Haarschnitt?“
Ein Lehrling legte Anahita einen Umhang um und schamponierte ihr Haar, wobei er auch die Kopfhaut gründlich massierte. Abbas verhielt sich ruhig. Anahita wurde zu ihrem Platz geführt.
„Wie hättest du es gerne?“, fragte die Frisörin. Auch sie beugte sich mit einem besorgten Gesichtsausdruck über den Babykorb.
Anahita schob Abbas unter sich und die Tüte mit ihren neuerworbenen Büchern möglichst demonstrativ auf die kleine Kommode neben dem Spiegel und hoffte, dass die Tüte die Aufmerksamkeit der Frisörin auf sich lenken würde.
„Bitte schneiden Sie nur die Spitzen.“
„Okay.“
Nun war Anahita froh darüber, dass sie in Abbas’ morgendliches Fläschchen etwas von ihren Beruhigungsmitteln beigemischt hatte. Abbas lag ruhig in seinem Korb und schlief, scheinbar unbekümmert.
„Versuchst du, kochen zu lernen?“, fragte die Frisörin Anahita.
„Ja.“
„Sehr gut.“
Das Gespräch stockte, da die Frisörin sich auf Anahitas Haar konzentrierte.
„Kochen Sie?“, fragte Anahita, ihre Stimme klang verzweifelt.
„Natürlich.“
„Was kochen Sie?“ Anahita bemerkte, dass die andere zu kurz schnitt.
„Pasta.“
„Pasta?“
„Hm.“
„Sie kochen nicht persisch?“
„Kaum, das dauert so lange.“
„Haben Sie noch Erinnerungen daran, wie ihre Mutter gekocht hat?“
„Wir hatten ein Dienstmädchen.“
„In Teheran?“
„Ich bin Amerikanerin.“
Für die Aufzeichnung der Pilotfolge bereitete Anahita nichtsdestotrotz ein klassisches persisches Menü zu, das sie zuvor im Internet gefunden und in ihrer Küche probegekocht hatte: Ālbālu Polo, Safranreis mit Sauerkirschen, der zuerst in gesalzenem Wasser gekocht, dann zusammen mit Butter, Safran, Kirschen und einer Teigkruste gegart und schließlich mit Pistazien garniert wird.
Während sie den Reis abgoss, erzählte sie, dass die meisten Iraner bereits einen speziellen Reiskocher benutzen, bei dem die Kruste nicht anbrennen kann. Aber eigentlich sei das Gerät vollkommen überflüssig. Anahita schaute in die Kamera und versuchte so zu wirken, als ob sie wüsste, was sie tat. Sie hatte alle Informationen ausschließlich aus dem Internet und jenen Kochbüchern, die sie im persischen Teil der Stadt gefunden hatte. Anahita erzählte, dass sich die Esskultur im Iran nicht ändere. Die festlichen Tafeln ihrer Altersgenossen sähen genauso aus wie die ihrer Eltern und Großeltern, serviert werden würden dieselben Gerichte, gekocht nach Rezepten, die unverändert von einer Generation zur nächsten überliefert würden.
Genauso wie die Rezepte, die sie gerade den Zuschauern präsentierte. Zum Reis gab es ein vergleichsweise unkompliziertes Hühnchen, und als Dessert machte sie Bastani Sonnati, Safranreis, mit Rosenwasser und Pistazien. Abbas saß während der ganzen Aufnahmen neben ihr auf der Arbeitsplatte, manchmal reichte er ihr sogar einen Löffel.
Die Pilotfolge der Sendung Conflict Kitchen wurde zu einem großen Erfolg. Nach dem Special mit dem Iran kam eine Sendung über Nord-Korea, Kuba, Afghanistan und schließlich eine über den Islamischen Staat. Die Zuschauerzahlen stiegen kontinuierlich und das Management zeigte sich recht zufrieden. Die Koalition der Bio-Supermärkte unterstützte die Sendung, und Anahita ließ sich immer wieder beim Einkaufen in Whole Foods fotografieren. Sie unterzeichnete einen Vertrag für zwei Staffeln, während Abbas einen eigenen Tiertrainer bekam, der ihn dazu brachte, Anahita während der Sendung zu assistieren. Auch Anahita hatte nun einen ganzen Stab, der an ihr und der Sendung feilte.
Es war eine gute Rolle, Anahita erlebte zum ersten Mal so etwas wie Würdigung und finanzielle Sicherheit durch ihre Arbeit und wurde sogar ab und an auf der Straße wiedererkannt. Es kamen sowohl Säcke mit Fanbriefen als auch einzelne Morddrohungen. Die Betreiber der Conflict Kitchen in Pittsburgh drohten mit einer Klage.
Abbas wurde immer größer und brauchte mehr Platz. Er war auch nicht mehr so umgänglich wie früher. Anahita vermutete hinter seinem Verhalten die Pubertät. Mathieu fing an, darauf zu beharren, Abbas durch einen kleineren und süßeren Affen zu ersetzten, doch Anahita gab nicht nach, drohte sogar, mit Abbas aus der Sendung auszusteigen.
Thomas kam nach Los Angeles geflogen, um die Krise zu entschärfen. Mathieu lenkte fürs erste ein. Anahita fand ein neues Haus, eine Villa nicht weit dem Felsen mit dem Riesenschriftzug HOLLYWOOD, mit einem Pool, der beinahe olympische Maße besaß, Holzterrassen und einer Fensterfront, die dem Hausbesitzer suggerierte, dass die ganze flimmernde Stadt ihm zu Füßen läge. Abbas bekam ein eigenes Gehege, aus dem er immer wieder ausbrach und von unschuldigen Regieassistenten wieder eingefangen werden musste.
Anahita wurde nun auf der Straße wiedererkannt, ihr Gesicht tauchte in den Klatschzeitungen auf, was Thomas als ein gutes Zeichen wertete. Für die Klatschpresse war sie die Lady mit dem Affen. Die Tierschützer machten sich zu einem Kampf gegen Anahita und ihren Fernsehsender bereit.
Auch Abbas entglitt immer mehr ihrer Kontrolle: Um ihn während der Dreharbeiten bei der Stange zu halten, hatten sie ihm heimlich immer wieder Beruhigungsmittel zugesteckt. Nun kam Abbas ohne diese nicht mehr aus – wenn sie ihn in den drehfreien Tagen entwöhnen wollte, war sein Verhalten so aggressiv, dass Anahita kurzerhand doch wieder zu den Pillen griff.
Dann fingen die Drohungen an, zuerst flatterten Postkarten ins Haus, auf denen Unbekannte Anahita aufforderten, den Affen freizulassen. „Sie kennen noch nicht mal seinen Namen“, echauffierte Anahita sich bei Thomas. Anschließend kamen die Drohanrufe, wobei man von Drohungen eigentlich kaum sprechen konnte – die Anrufer atmeten lediglich laut in den Hörer und legten nach einigen Sekunden auf. Einmal wurde Anahitas Wagenfenster eingeschlagen, und auf das Verdeck schrieb jemand mit roter Farbe „Tierquälerin“. Als die ersten Briefe eintrafen, die von Animal Liberation Front unterschrieben waren, trug Thomas ein sorgenvolles Gesicht zur Schau und gab zusammen mit Anahita eine Pressekonferenz.
Der Saal war voll, die Journalisten drängelten sich aneinander. Zu ihrer Erleichterung stellte Anahita fest, dass auch einige Vertreter der seriösen Medien anwesend waren. Thomas hatte eine Erklärung verfasst und las sie nun mit sicherer und lauter Stimme vor: Abbas war niemals geschadet worden, er sei ein durch und durch domestizierter Affe, der ohnehin in der freien Wildbahn nicht überleben würde.
Tierbefreiungsfront: Masken, Taschenlampen, Pfefferminz
Anahita sah aus ihrem Augenwinkel, wie eine Journalistin auflachte. Höhnisch, wie es ihr vorkam.
Nach der missglückten Pressekonferenz wurde überall heftige Kritik an der Show und Anahita geübt. Thomas wurde entlassen.
Anahita saß in ihrem neuen Wohnzimmer, trank kalifornischen Weißwein, der gar nicht so schlecht war, und sah zu, wie in der unter ihr weit hingebreiteten Stadt die Lichter angingen. Abbas war den ganzen Abend lang unruhig und rüttelte an den Stäben seines Käfigs. Wenig später ging Anahita zu Bett.
Sie kamen in der Nacht. Anahita hörte, wie ihre Haustür aufgebrochen wurde, doch sie dachte, es wäre ein Teil ihres Traums, drehte sich auf die andere Seite und schlief wieder ein. Im nächsten Augenblick war sie hellwach. Ihr Gesicht, gerade noch warm vom Schlaf, erstarrte. Sie trugen Masken, waren zu sechst und hatten Taschenlampen dabei. Das Licht der Taschenlampen glitt über den Fußboden, dann über ihr Bett und schließlich über ihren Körper. Erst jetzt bemerkte Anahita, dass der Strom abgestellt worden war. Einer drückte seine Hand auf ihren Mund. Sein Atem roch nach einem Pfefferminz, immerhin sind Manieren ihnen nicht ganz fremd, dachte Anahita.
„Wir sind die radikale Tierbefreiungsfront“, erklärte einer der Maskierten, der zugleich der Chef der Bande zu sein schien.
Wäre Anahitas Mund nicht mittelweile geknebelt gewesen, hätte sie laut losgelacht.
„Wir kommen, um den Affen zu befreien“, sagte derselbe Einbrecher, „du hast ihn nicht verdient.“
Anahita verdrehte ihre Augen, woraufhin der Mann, der sie festhielt, ihren Ellenbogen so drehte, dass Anahita fast vor Schmerz aufgeheult hätte.
Abbas schrie und warf sich in seinem Gehege hin und her. Eine schwarz-maskierte junge Frau näherte sich seinem Käfig, machte die Tür auf und versuchte, Abbas zu fassen, er entwischte ihr allerdings immer wieder, und als sie ihn doch schnappte, biss Abbas ihr in die linke Hand. Sie stieß einen Fluch aus und rannte mit Abbas in die dunkle Nacht hinaus. Die anderen folgten ihnen.
Anahita sah Abbas nie wieder, zwar wurde im Internet ein Bekennervideo veröffentlicht, aber die Untersuchungen der Polizei verliefen im Sande. Thomas gab Interviews, in denen er Anahita verunglimpfe, ihre Show wurde abgesagt. Abbas war nirgends aufzufinden.
Illustration: Veronika Neubauer