Two Bicycles in China ist ein Projekt von Krautreporter und Casa Jurnalistului. Christian Gesellmann und Vlad Ursulean radelten von Peking aus Richtung Süden durch China. Sie wussten nicht, wohin die Reise genau geht und wie lang sie wird. Aber jeden Tag begegneten ihnen tolle Dinge und Menschen, und wir teilen unsere Eindrücke mit euch in Texten, Fotos und Videos (im Blogformat, das heißt, die jüngsten Artikel stehen oben).
November 2016, Nathan Road, Hongkong
„Here, brother, you smoke, brother!” Ein junger Typ aus Bangladesch, mit Schnäuzer, zwei Goldketten und einem Piratenohrring, reicht mir den Joint, den er gerade gedreht hat. Goooood hashish! Die Beine gespreizt, die Arme angewinkelt, die Pupillen weit. Aye Mama! Er rennt auf zwei Mädchen zu, die gerade aus dem Spalt zwischen zwei Hochhäusern aufgetaucht sind.
Ein gemütlicher Inder guckt mich an und rollt mit den Augen. „Brother is crazy.” Vier Stunden später wird Crazy Brother mit beiden Fäusten gegen unsere Tür klopfen, versuchen hereinzukommen, er schwitzt, die Goldketten sind verschwunden. Der gemütliche Inder wird sich hinter ihm auf dem Korridor die Hand vor die Stirn hauen und Stoßgebete Richtung Decke schicken, als warte dort ein vielarmiger Gott darauf, mit einer Reihe Schlägen auf den Hinterkopf die Situation zu beruhigen.
Wir sind in den Chungking Mansions, einem zerbröselnden 17 Stockwerke hohen Gebäude, in dem um die 4.000 Menschen aus irgendwas um die 120 Nationen leben und jedem legalen oder illegalen Business nachgehen, das man sich vorstellen kann. Rolex, Maßanzug, weed, coca, girl, boy? Ecstasy? Kriegt man alles angeboten, wenn man nur davorsteht. Du willst 200 Smartphones kaufen, Dir die Nägel machen lassen? Rupien verkaufen, Hehlerware oder gefälschte Markenartikel loswerden? Trete ein! Das ist der Ort dafür.
Es ist auch der Ort, an dem man die günstigsten Zimmer im sündhaft teuren Hongkong findet. Der gemütliche Inder gibt uns ein handtuchgroßes Doppelzimmer für 30 Euro. Brother Crazy gibt uns einen „Ich-stech-dich-später-ab“-Blick.
Die Chungking Mansions sind ein Stück Ghetto mitten auf einer der teuersten Straßen der Welt, Nathan Road in Hongkong. 200 Meter neben dem Afrikaner, der hier „Copy Rolex“ verscheuert, ist tatsächlich eine Filiale von Rolex. Zwischen zwei geparkten Autos kann man Maß nehmen lassen für einen neuen Anzug und dabei die Werbung der Gucci- und Versace-Läden auf der anderen Straßenseite betrachten. Ein bourgeoises Ghetto, nennt der Anthropologe Gordon Mathews die Mansions.
Dieser wahnsinnige Ort ist so sehr ein Ort des internationalen Handels, wie es eine laute, hektische Hölle und ein Wunder ist. Es ist die Börse derjenigen, deren Aktien nicht hoch genug hängen. Etwa 20 Prozent aller Smartphones, die in Schwarzafrika verkauft werden, sind hier gehandelt worden. Afrikanische Händler können ohne Visa nach Hongkong reisen, gestohlene oder gebrauchte Geräte aus Europa kaufen, sie schnell nach Shenzen in China schicken – über den meistgenutzten Grenzübergang der Welt –, wo sie aufpoliert, entsperrt und neu gebrandet werden. Neue Software drauf und ein paar Tage später sitzt der Händler mit einem Koffer voller neuer Telefone im Flugzeug nach Hause. In der Zwischenzeit hat er in den Mansions ein billiges Zimmer und afrikanisches Essen gefunden.
Nach diesem Prinzip funktioniert fast alles in den Mansions und das ist auch der Grund, warum der Ort in dem sonst so britisch durchreglementierten Hongkong toleriert wird – es ist ein richtig gutes Geschäft. Für Ladendiebstahl wird man direkt verhaftet, ich habe es gesehen, nur zwei Blöcke von den Mansions entfernt, mit Handschellen und allem Drum und Dran. Aber im großen Stil Drogen und gefälschte Markenartikel quer über die Kontinente handeln?
That’s the spirit, brother.
November 2016, Rückblick 2: China, die perfekte Diktatur
Als Journalist ein Touristen-Visum für China beantragen? „Das sieht nicht gut aus“, sagt die Frau von der Visa-Agentur. Ach, eigentlich bin ich doch nur ein Barkeeper, der ab und zu Kurzgeschichten schreibt, erörtere ich im Antrag.
Was ich in Afghanistan gemacht habe, in Russland, der Ukraine, im Kosovo - das wird die Botschaft auch wissen wollen, sagt die Frau von der Agentur. Ich mach ‘ne Weltreise, erklär ich, drei Monate China und dann geht’s weiter nach Indien.
Das mit der Fahrradtour, das sollten Sie besser nicht erwähnen, sagt man mir. Ich google Sehenswürdigkeiten, die auf dem Weg von Peking nach Hongkong liegen und schreibe sie in die Selbsterklärung, lege die Buchungsbestätigungen von sechs Hotels entlang der Strecke dazu.
Sie werden zum Interview in die Botschaft in Berlin kommen müssen, sagt man mir. Mein Kollege Vlad stellt sich zu dem Zeitpunkt seit drei Wochen vergeblich im Morgengrauen vor der chinesischen Botschaft in Bukarest an.
Am Ende bekommen wir unsere Touri-Visa ohne Interview, ohne Kommentar, ein paar Tage vor dem Abflugdatum. Vlad darf einen Monat bleiben, ich zwei.
Offene Tür, keine Waffen – auf der Polizeistation
Als wir in Peking ankommen, müssen wir uns binnen 24 Stunden bei der Polizei melden, erklären, bei wem wir übernachten. Die Tür zur Polizeistation steht offen, keiner trägt Waffen, es sieht aus wie ein Lehrerzimmer, ordentlicher Kitsch, Aktenordner mit aufgedruckten Herzchen, Zeichentrickpolizistchen gucken mit Kulleraugen von Plakaten, die Behördenkram erklären und zur Nettigkeit gegenüber Alten ermahnen, an der Wand hängt ein überdimensionales Smartphone, auf dem Nachrichten laufen.
Während der Beamte die Adressen der amerikanischen Lehrer, bei denen wir übernachten, registriert, laufen Menschen ein und aus wie sächsische Rentner durch Kaufhallen. Per Knopfdruck (die Knöpfe sind Emojis) könnte ich noch auf der Wache eine Bewertung darüber abgeben, wie zufrieden ich mit dem „Service“ war.
Ich hätte ein Smiley vergeben – wenn ich mich nicht gerade in einem autoritären Polizeistaat befinden würde, in dem regelmäßig Menschen ohne Anklage oder Verfahren in inoffizielle Internierungslager gesteckt werden, in dem Polizisten in Bordellen Allianzen mit Politikern und Baulöwen bebumsen und Schlägertrupps anheuern, um aufmüpfige Bürger in ihre Schranken zu verweisen.
Das Problem ist: Niemand weiß genau, wo diese Schranke ist. Es ist wie mit den Visa-Anträgen, der Zensur der Medien oder der Kontrolle ausländischer Journalisten – man kann nicht irgendwo mal eben nachgucken, was erlaubt ist und was nicht, und ebenso unklar ist, welche Strafen für ein Fehlverhalten drohen, von dem man nicht genau wissen kann, dass es ein Fehlverhalten war.
Der Staat schlägt selten, aber höchst willkürlich zu und stimuliert damit, dass das Individuum sich selbst kontrolliert. Die Diktatur funktioniert subtiler und effektiver, als wir uns das vorgestellt haben.
Sie funktioniert sogar so perfekt, „dass es manchmal so aussieht, als wäre es gar keine Diktatur”, sagt Stein Ringen, emeritierter Oxford-Professor. Er hat dafür den Begriff der Controlocracy kreiert. Mehr als zwei Millionen Menschen arbeiten zum Beispiel daran, im Auftrag des Staates das Internet zu zensieren und mit Propaganda zu füllen. Das sind mehr Menschen, als die Polizei oder die Volksarmee an Mitgliedern haben.
Präsident Xi Jinping hat in den vier Jahren seiner Amtszeit nicht nur beispiellos viel Macht in seiner Person gebündelt, er hat auch ein System der Kontrolle entwickelt, das auf die ekligen Insignien einer Diktatur zunehmend verzichten kann – weil somnambule Selbstzensur und poppige Propaganda Polizeigewalt und Geheimdienstschnüffelei ersetzen, wirkt China äußerlich liberaler als je zuvor.
Was der Parteiführung nicht passt, wird zerschlagen
Es darf konsumiert und geprasst und über den Staat geschimpft werden, aber was der Parteiführung nicht passt, wird zerschlagen. Starbucks darf die nächsten fünf Jahre jeden Tag eine neue Filiale aufmachen, aber Uber wird aus dem Markt gedrängt.
„Die Nation ist alles, die Menschen, die sie bilden, sind nichts“, sagt Xi (ersetze „Nation“ durch „Gesellschaft“ und es ist ein direktes Zitat aus Aldous Huxleys Brave New World).
Während unserer Fahrradtour übernachten wir meist in kleinen Hotels oder Gasthäusern. Oft werden wir abgewiesen. Manche Hotelbesitzer wollen sich den Stress nicht antun, uns polizeilich zu registrieren oder fürchten, etwas falsch zu machen, andere scheinen gar nicht zu wissen, dass sie Ausländer beherbergen dürfen.
Während es aber auch häufig vorkommt, dass wir einfach durchgewinkt werden (manchmal mit dem Hinweis, uns „unauffällig zu verhalten“), klopfte die Polizei auch schon mehrmals an unserer Zimmertür, um uns persönlich zu registrieren. Mal zu zweit, mal zu fünft, fragen uns die Beamten über Herkunft, Reiseroute, Tätigkeit und so weiter aus, kopieren unsere Pässe, notieren unsere Handy-Nummern. Alles ganz freundlich, wie in der Smiley-Wache in Peking, wir machen Selfies mit den Polizisten und teilen Zigaretten.
Trotzdem ist jeder Kontakt mit dem Staat eine Verabredung mit der Paranoia. Jedes Mal frage ich mich, ob es diesmal jemandem auffällt, dass wir etwas ganz anderes machen, als im Antrag für das Visum beschrieben ist. Jedes Mal frage ich mich, ob nicht irgendwann mal einer der Kommissare im Internet unsere Namen in eine Suchmaschine eingibt.
„Ruft die Polizei!“
Eines Abends tanzen wir mit ein paar Leuten auf einem Supermarktparkplatz und danach fügen sie uns zu ihrer WeChat-Gruppe hinzu (gleiches Prinzip wie bei einer Facebook-Gruppe). Wir tauschen uns im Chat über unsere Reise aus und plötzlich texten mehrere Leute: „Ruft die Polizei!“ Wir sitzen unregistriert in einem Hotel im Rotlichtbezirk und machen schnell unsere Handys aus.
Ein paar Tage später rät uns ein Teenager, wenn wir mal Probleme haben, eine Unterkunft zu finden, sollen wir einfach den Polizeinotruf wählen. Ich dachte, der Junge ist entweder naiv oder er macht einen Scherz. Aber es war sein Ernst. Und unsere Chat-Freunde wollten uns auch nicht einliefern, sondern nur helfen, wie wir später verstehen.
Während die Berliner Polizei gerade ihre #NoNotruf-Kampagne startet, weil die Leute wegen jedem Mist anrufen, ist es in China andersherum: Die Polizisten sind gesetzlich angehalten zu helfen, egal, um was es geht – von der entlaufenen Kuh über das vergessene Computer-Passwort bis zur nächtlichen Hotelsuche. Ich habe Polizisten den Gehweg fegen und alten Leuten beim Geld abheben helfen sehen. Anekdotisch heißt es, dass Polizisten öfter von Bürgern verprügelt werden, als andersherum.
Erst seit 2014 dürfen Polizisten Waffen tragen, meist sieht man sie aber ohne. Wenn man sie überhaupt sieht, in ländlichen Regionen sind sie kaum präsent. Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl hat China halb so viele Polizisten wie Deutschland oder die USA.
Ich habe erwartet, in China ein repressives kommunistisches Regime zu erleben, das dem der Sowjetunion, der DDR oder Ceausescus Rumänien ähnelt. Aber es gibt hier nichts, was man mit dem KGB, der Stasi oder der Securitate vergleichen kann.
China hat ein viel effizienteres System entwickelt, das seit Tausenden Jahren funktioniert: Bürger organisieren sich in einem hohen Maße selbst. Grob verallgemeinert funktioniert das so: Familien, Betriebe, Wohneinheiten entsenden Vertreter in informelle Räte, die die Angelegenheiten einer Straße oder einer Wohnsiedlung regeln.
Aus diesen Räten rekrutieren sich die Räte eines Dorfes oder eines Stadtteils und so weiter, bis auf Bezirksebene. Diese Räte haben nicht nur eine rituelle Funktion, sondern in ihnen werden Konflikte mediiert und Fragen der öffentlichen Ordnung und Wohlfahrt geklärt, sie erfüllen damit nicht nur oft eine polizeiähnliche Rolle, sie erlangen so auch einen realen Einfluss auf die lokalen Verwaltungen, solange sie nicht gegen die Leitlinien der Regierung verstoßen.
Das ist einer der Hauptgründe, warum staatliche Intervention nur sehr selten notwendig ist. Chinas politisches System trägt sowohl die Züge einer von Technokraten geführten partizipativen Demokratie als auch die eines von Bürgern verinnerlichten dystopischen Totalitarismus.
Eine der niedrigsten Kriminalitätsraten
Obwohl es verhältnismäßig wenig Polizisten gibt, ist die Kriminalitätsrate eine der niedrigsten der Welt. Die gesellschaftliche Solidarität ist groß, aber ebenso willkürlich wie die Machtausübung des Staates. Ein Beispiel: Im August ging der Fall einer Mutter durch die Medien und die sozialen Netzwerke, die sich selbst und ihre vier Kinder umgebracht hat.
Der tragische Suizid hatte viele Gründe, Armut, familiäre Konflikte, psychische Probleme und, wie sich heraus stellte wohl auch, dass die Frau von ihren Nachbarn um ihre staatliche Sozialhilfe gebracht worden ist. Diese hatten beschlossen, dass die Mutter gar nicht so arm dran ist und die lokale Verwaltung aufgefordert, die Zahlung einzustellen - und dem kam die Behörde nach.
Man hat in China als Bürger alle Rechte. Aber man kann sich auf keines verlassen. Für manche bedeutet das Gefängnis, für andere sozialen Aufstieg. Der Staat handelt mal repressiv, mal libertär. Was wie ein Widerspruch wirkt, ist Methode.
Um unsere Visa zu verlängern, unterbrechen wir unsere Fahrradtour und nehmen den Zug nach Hongkong. Dort gehen wir zu einer privaten Agentur, die im hoheitlichen Auftrag Visa-Anträge bearbeitet. Wir kommen mittags. Am nächsten Abend können wir eine Aufenthaltserlaubnis für einen weiteren Monat abholen. Ohne ein einziges Formular ausgefüllt zu haben, ohne eine einzige Frage darüber beantwortet zu haben, was wir in China vorhaben, wo wir uns aufhalten und was wir beruflich machen.
Manchmal ist es ganz einfach, zu vergessen, dass man es mit einer Diktatur zu tun hat.
November 2016, Rückblick 1: In den Fängen des Aberglaubens
„Ich glaub, ich hab ’nen Platten!“ Ich rolle langsam an eine Bushaltestelle. Ja, wirklich. Wir sind noch keine 50 Kilometer gefahren und aus meinem Vorderrad ist die Luft raus. Am Tag vorher, als wir in Peking noch schnell ein Fahrradreparatur-Set gekauft haben, dachte ich: Na klar, während einer 2.000-Kilometer-Tour kann ja alles mögliche passieren. Aber gleich am ersten Tag? Kurios.
Wie geht das gleich nochmal, die Stelle rund ums Loch aufrauhen, Kleber drauf, warten, Flicken drauf, drücken … die Sonne scheint und das alles fühlt sich an wie eine heitere Probe für die unvermeidbaren Unwegsamkeiten einer Fahrradreise durch zwei Klimazonen. Eine Reifenpanne nachts im strömenden Regen zum Beispiel, da will man nicht erst den chinesischen Beipackzettel fürs Reparaturkit googletranslaten müssen, denke ich mir.
Abends bekomme ich die Gelegenheit, noch einmal zu üben.
Ich beginne darüber nachzudenken, wieso der Mensch so ein intuitiv verkorkstes Verhältnis zur Wahrscheinlichkeitsrechnung hat. Wir spielen 20 Jahre Lotto und denken uns jedes Mal, das nächste Mal klappt’s. Bauen Häuser in Erdbebenregionen und denken, uns wird’s schon nicht erwischen. Ich steige aufs Fahrrad und denke, okay, das war die Sache mit dem platten Reifen, hab ich jetzt hinter mir. Die nächsten paar Hundert Kilometer können kommen. Als wäre das der Frühjahrsputz oder hätte was mit Gerechtigkeit zu tun. Als wüsste der gemeine Glassplitter des Abends von der Tat seines splittrigen Freundes am Morgen.
Während ich meinen zweiten Platten repariere, steht ein alter Mann neben mir und guckt. Er ruft Passanten die kurze Geschichte unserer Bekanntschaft zu und zeigt mit dem Finger auf mich.
Ich vermute sentimentale Gründe für seine Fasziniertheit, Erinnerungen an eine Jugend geschickter Hände, die nach Feierabend am Feldrand Dutzende Reifen flickten, an liebschüttelnde Fahrten mit der Dame des Herzens auf dem Gepäckträger.
Denn Fahrräder in China – sieht man heute nicht mehr viele. Heute fahren die Leute Elektroroller oder diese kleinen Elektroautos, für die man keinen Führerschein braucht.
Logik hin oder her, Reifenpanne Nummer drei lässt mich an höhere Gewalt glauben.
„Schon der dritte Tage ohne Platten“, sagte Vlad, Sarkastiker vor dem Herrn, hinter mir radelnd.
„Ich hab ein bisschen weniger Reifendruck, scheint zu helfen.“
„God help!“
„Maria und Josef!“
Eine Minute später muss ich mein Reparatur-Set wieder auspacken und schwöre mir, nie wieder über Reifenpannen zu reden oder daran zu denken – mit der gleichen bekloppten Logik, die einen Fußballer dazu bewegt, das Spielfeld immer mit dem linken Fuß zuerst zu betreten, oder die die Chinesen dazu treibt, ständig auszuspucken: Ich bin in die Fänge des Aberglaubens geraten.
Über Facebook empfiehlt jemand ein Pannenspray. Tagelang suche ich die Fahrradläden danach ab: Nicht zu bekommen. Ein neuer Mantel ebenfalls nicht. Touringräder sind super selten, alle kaufen entweder Rennräder oder Mountainbikes und wenn ich mal einen Mantel für mein Modell fand, dann nicht in der richtigen Größe. Es ist kein Vorurteil, Chinesen sind wirklich klein: Männer im Durchschnitt 1,65 Meter (Deutschland: 1,80).
Kilometer 400: die vierte Reifenpanne. Ich hadere mit Gott. Drei Männer stehen um mich herum, gucken mir zu, wie ich Schlamm aus der Felge kratze. Sie sagen nichts. Beobachten nur, rauchen. Ich frage sie nach ihrem Job, wir reden über Straßenverhältnisse, sie bieten Zigaretten an. Dann repariere ich weiter und sie gucken weiter.
Ich begreife, was wir bisher falsch gemacht haben: Hallo, wie geht’s, kann ich Sie was fragen, darf ich Sie fotografieren? – die Leute haben uns angeguckt als wären wir von der CIA. In China stellt man sich einfach dazu, platzt mitten rein. Erklärungen sind nicht notwendig.
„Wow, drei Wochen ohne Platten“, sagt Vlad, Sarkastiker vor dem Herrn, hinter mir radelnd.
Ich sage nix. Meine Strähne hält. Für eine weitere Woche. Dann greift Murphy’s Law: Was auch immer passieren kann, wird passieren. Nachts. Auf einer dunklen Landstraße. Im kalten, strömenden Regen. Mit dem platten Reifen trete ich noch einen guten Kilometer bergan, bis wir an einem Bretterverschlag mit einer Lampe dran vorbeikommen. Die Hütte steht auf einem Müllhaufen, hat nur drei Wände. Drinnen liegt ein alter Mann auf einem Bett und schaut Fernsehen. Fluchend, aber geübt, wuchte ich den vierfachgeflickten Schlauch aus dem Mantel. In meinen Taschen steckt Wasser. Der alte Mann guckt Nachrichten.
Im gegenseitigen Ignorieren, denke ich, liegt manchmal mehr Wärme als in hilfloser Anteilnahme, und fahre mit einem Gefühl der Verbundenheit weiter.
Plattfuß Nummer 6, am nächsten Tag, hat ebenfalls ein grauenhaftes Timing, aber einen wunderbaren Sinn für den richtigen Ort: Vor einem Imbiss mit hervorragenden Nudeln und einer Bedienung, die mir eine Schüssel warmes Wasser bringt, ein Handtuch und eine Flasche Erdnussmilch.
Nummer 7: Immerhin eine Attraktion für die Kinder im Ort.
Nummer 8: Ich beginne zu flicken, Regen setzt ein. Ich würde gern jedem vorbeifahrenden Auto, das hupt, die Scheiben einschmeißen. Als ich wieder auf dem Fahrrad sitze, ergreift mich das befriedigende Gefühl, das man bekommt, wenn man etwas Kaputtes ganz gemacht hat, man etwas verstanden hat. Der Reifen und ich, wir helfen uns gegenseitig. Und der Regen ist diesmal tropisch warm.
Ein bisschen Happiness steckt doch in everything ;)
15. November, Shenzen: „She wants you to stay at her house!“
Auf meiner Bettdecke kräuseln sich Sonnenstrahlen. Der Wecker hat noch nicht geklingelt und ich versuche, in den Traum zurückzuschlüpfen, der da irgendwo in meinem Kopf noch läuft, ohne Ton, worum ging es gleich nochmal?
„GOODE MONIN!!!“, ruft eine fröhliche Frauenstimme. Ohne zu klopfen kommt sie ins Zimmer gestürmt und trippelt dann genau so schnell wieder dem Geruch brutzelnder Eier hinterher in die Küche.
Das ist nicht mein Traum. Das ist Frühstückszeit. Und zwar sofort! Ich bin wieder ein Kind.
„Mein Sohn fährt mit dem Fahrrad durch China, genau wie ihr!“, erzählte uns die Frau am Abend zuvor. „Habt ihr einen Platz zum schlafen? Was esst ihr zum Abendbrot?“
Sie stand mit ihrem mobilen Grill auf dem Bürgersteig und sprach kein Englisch. Also rief sie den Direktor der Middle School Nr. 1 an, der wiederum einen Englischlehrer zu Hause anrief. Dieser unterbrach seine sonntägliche Violinstunde und kam in seiner Jogginghose die Straße runter gelaufen, damit wir endlich verstehen konnten, was die Frau vom Grill von uns will.
„She wants you to stay at her house!“
Der Englischlehrer und die Frau führen uns zu ihrer Wohnung. Sie zeigen uns unser Zimmer, wo man das Gas fürs warme Wasser andreht, geben uns das Wifi-Passwort und ein Handy in die Hand – am anderen Ende spricht der Sohn aus Peking. Dann geht der Lehrer zurück zu seiner Violine. Die Frau zurück zum Grill. Wir haben die ganze Wohnung für uns und inspizieren die Zimmer, wie Kinder auf Schatzsuche.
Eine Stunde später kommt der Ehemann nach Hause. Er packt einen Beutel Sonnenblumenkerne auf den Sofatisch. Bedient euch! Dann schaltet er den Fernseher ein und versinkt in einer Talentshow, als säßen wir jeden Tag in seinem Wohnzimmer.
Er ist Taxifahrer, selbstständig, wie seine Frau. Vor vier Jahren ist ihr Sohn nach Peking gezogen, fast 2.000 Kilometer entfernt. Ihre Tochter lebt ebenfalls in einer anderen Provinz. Das macht zwei große leere Zimmer.
Wir wollen etwas über ihr Leben wissen. Sie fragen: „Was haltet ihr von einem Mitternachtssnack? Esst ihr scharf?“
Dutzende Millionen Kinder in China wachsen ohne ihre Eltern auf, weil diese besseren Jobs und dem Glitzern der Shopping Malls in Großstädte oder reichere Provinzen gefolgt sind. Aber ebenso bleiben Dutzende Millionen Eltern zurück, weil ihre Kinder sich auf den Weg gemacht haben in ein Leben, das ihren Eltern nicht möglich, nicht mal vorstellbar war.
Generationenkonflikte kennt jede Gesellschaft, aber nirgendwo hat sich die Uhr schneller gedreht als in China, wo Eltern, die Hunger gelitten haben, nicht verstehen, warum ihre Kinder nicht zufrieden sind mit dem, was sie haben, und junge Erwachsene in eine digitalisierte und individualisierte Welt surfen, deren Browserverlauf gelöscht wurde.
Die Familie ist die kleinste und wichtigste Zelle des Stoffs, aus dem eine Gesellschaft gewebt ist. Darauf kann sich von Konfuzius bis CDU jeder einigen. Aber bei uns im Westen wird die Integrität der Familie – zum Beispiel durch Steueranreize – gefördert, und Migrationsbewegungen werden als Anzeichen einer politischen Krise gesehen. Deshalb kämpfen in mecklenburgischen oder sächsischen Gemeinden die Ratsfraktionen verbittert um den Erhalt des letzten Gymnasiums, der letzten Sparkasse oder Busverbindung, auch wenn es längst nicht mehr genug Schüler oder Sparer gibt und keiner mehr Bus fährt.
Und deshalb fragt man sich in Berlin oder München besorgt, ob so viel Zuwachs gut für eine Stadt sein kann.
Du magst dir deine Zeit für ein Auslandsstudium nehmen können und vielleicht musst du dir einen Job in einem anderen Bundesland suchen müssen. Aber die Frage „Wann kommst du wieder zurück?“, egal wie vergeblich, wird dich immer begleiten. Erst kommt die Familie, dann der Rest.
In China heißt es „Zuerst kommt das Land, dann die Familie“, wie eine Mutter ihrem verdutzten Sohn in der brillanten Doku High Tech Low Life erklärt.
Offiziell wird die Integrität der Familie auch in China hochgehalten. Aber in Wirklichkeit ist Migration ein politisches Instrument.
Chinesen sind immer gewandert. Über Jahrhunderte hinweg gingen sie dort hin, wo das Land gerade am meisten Entwicklung versprach: Im Moment sind wir in Shenzen, eine Stadt, in der 1980 gerade mal 30.000 Menschen lebten, als dort die freie Marktwirtschaft auf Probe eingeführt wurde. Heute sind es 12 Millionen, und in Shenzen wird mehr produziert als in Portugal.
Wenn sie nicht freiwillig gingen, wurden Chinesen von dem einen oder anderen Autokraten auf die Reise geschickt, um diese oder jene Provinz zu kultivieren oder gegen Barbaren zu verteidigen, Kommunen zu bilden oder das Land zu industrialisieren.
Vor 50 Jahren sollten die dekadenten Städter von den Bauern lernen. Heute sollen die zurückgebliebenen Bauern in die Städte ziehen. Während der Kulturrevolution war es fatal, reich zu sein. Während der digitalen Revolution ist es fatal, arm zu sein.
In vielen Fällen wird das Wachstum der urbanen Zentren erst durch Zwangsumsiedlung möglich gemacht. Bürger werden von ihrem Land und aus ihren Wohnungen vertrieben. Den Job erledigen meist Schlägerbanden, im Auftrag informeller regionaler Netzwerke aus Polizei, Beamten und Bauunternehmern, die die offizielle Wachstumspolitik umsetzen. Es entstehen neue Hochhauskomplexe mit vielen leeren Zimmern, die bezogen werden sollen.
Und so ziehen die Chinesen weiter.
„Wollt ihr nicht noch einen Tag bleiben und euch ausruhen?“, fragt uns die Frau vom Grill nach dem Frühstück, „ich geh nicht arbeiten, wenn ihr bleibt!“
Danke, aber wir müssen wieder los.
Unsere Taschen sind voll mit Süßigkeiten, als wir gehen. 🍭
13. November, Shaoshan: Mao Tse-tungs größter Feind tanzt auf seinem Grab.
Wir sind in Shaoshan, dem Geburtsort des Großen Vorsitzenden angekommen. Heute ist der Ort ein Freiluftmuseum, in dem der Kapitalismus Achterbahn fährt. Hunderte überteuerter Hotels beherbergten zuletzt 17 Millionen Besucher pro Jahr. An jeder Ecke kann man sich mit Maochandise eindecken: Mao-Statuen, Mao-Schnaps, Mao-Flachmänner, Mao-Kartenspiele, Mao-Schokolade, Mao-T-Shirts und so weiter.
An seinem Grab verkaufen alte Frauen Blumen, drücken ratlos guckenden Touristen auf ein Gebetsbänkchen und überreden sie, zu Ehren des Staatsgründers ein paar Runden Schnaps zu vergießen – für den sie dann eine Spende verlangen. Wenn die Touristen weg sind, nehmen die Frauen die Blumen wieder vom Grab und verkaufen sie dem nächsten Pilger. Mao würde sich wohl im Grab rumdrehen, würde er nicht in Peking im Mausoleum liegen.
Beerdigungsrituale und Erdbestattungen waren für ihn Hokuspokus, Ballast der Vergangenheit. Natürlich hat sich niemand getraut, den Mann, der fast 30 Jahre an der Spitze des Staates stand, einfach in den Wind zu blasen. Obwohl die Trauer über seinen Tod damals geringer war als die über das Ableben von Ministerpräsident Tschou Enlai.
Er selbst hatte per Gesetz verfügt, dass sein Körper nach dem Tod verbrannt wird, die Asche verstreut. So verlangte er es von seinem Volk. Nach dem Tod kann man doch wenigstens noch als Dünger taugen.
Als Mao 1976 starb, war China wahrscheinlich die am strengsten abgeschottete sozialistische Gesellschaft der Welt. Es dauerte rund ein Jahrzehnt, bis bekannt wurde, dass während der Hungersnot, die seine Politik des „Großen Sprungs nach vorn“ ausgelöst hat, rund 30 Millionen Menschen starben, während China weiterhin Getreide nach Russland exportierte, weil Mao seine Schulden als Ehrensache betrachtete.
Heute ist China der Kreditgeber anderer Staaten und in vielen Bereichen kapitalistischer als der Westen. Ein Prozent der Bevölkerung besitzen 30 Prozent des Vermögens, und der Wohlfahrtsstaat ist in weiter Ferne. Geld ist das einzige, das Schutz verspricht. Konsum ist patriotische Pflicht.
Der verteufelte Imperialismus hat sich in den Wohnzimmern eingenistet, in denen amerikanische Actionfilme kostenlos über den Flatscreen gestreamt werden - während in den Wal Marts der USA und den MäcGeizs Deutschlands Wegwerfprodukte verramscht werden, die in China zu Niedriglöhnen hergestellt wurden.
Während ich das hier schreibe, sitze ich in einem McDonald’s in einer glitzernden Mall einer chinesischen Millionenstadt und esse eine Teigtasche gefüllt mit Mango - die Frucht, die das Proletariat einst als heilig verehrte, nachdem Mao eine Kiste davon im Land verteilte, die er vom pakistanischen Außenminister geschenkt bekommen hatte.
Mao rief zum Klassenkampf gegen ein feudales System auf, aber seine Partei funktioniert heute nicht viel anders als die Dynastien der Vergangenheit. Nur dass Wirtschaftsbosse und Funktionäre die Rolle der Adeligen eingenommen haben.
Mao versuchte die chinesische Geschichte auszulöschen, ließ zahllose Monumente und Bibliotheken zerstören, religiöse Praktiken verbieten, Aberglauben und Glücksspiel ausrotten und den Konfuzianismus als Staatslehre und Philosophie ablösen.
Heute ist all das wieder auf dem Vormarsch und Präsident Xi Jinping hat sowohl Mao als auch Konfuzius rehabilitiert.
„Der Große Vorsitzende Mao Tse-tung hat uns gelehrt, nicht religiös zu sein“, erklärt uns ein Tourist beim Abendessen. „Ah, Ceauscesu! Großer Staatsmann“, sagt er, als Vlad erklärt, dass er aus Rumänien kommt. „Oh, Karl Marx, ein großer Philosoph“, ist sein erster Kommentar zu meiner Herkunft.
Zur gleichen Zeit verbeugen sich Touristengruppen mit gefalteten Händen drei mal vor der Statue Maos, angeleitet von ihren Reiseführern, und überall im Land hängen Mao-Porträts wie die Ikonen der Orthodoxen in Imbissen, Werkstätten und Wohnzimmern.
Neo-Maoisten sind die größte regierungskritische Bewegung. Wie Nationalisten überall auf der Welt nährt sich ihr Zuwachs aus dem Verlust an Bestimmung eines Lebens in der Moderne.
Ihre Mitglieder sind ältere Menschen, die das Leben in einer Vergangenheit verherrlichen, in der sie zwar arm waren, aber gleich und reinen Herzens, sowie junge Menschen, die in der Welt der Smartphones ihren Platz nicht finden und nicht wissen, dass Jugendliche zu Maos Zeiten ermutigt wurden, als Rotgardisten marodierend durchs Land zu ziehen und ihre Lehrer und jeden, der wie ein Kapitalist aussah, zu demütigen und zu töten.
„Mao hat China wieder großgemacht“, sagte mir ein Mann während eines Banketts anlässlich der Eröffnung einer Stammzellen-Klinik.
Das ist es, wofür er verehrt wird: Nach einem Jahrhundert der Schmach, als Briten, Deutsche, Portugiesen und Japaner das Land eroberten und den Handel dominierten, das Reich der Mitte sich erst der Gewissheit, nicht mehr der Nabel der Welt zu sein, stellen musste und dann in Bürgerkriegen zerbrach, vereinte Mao die Nation wieder und legte damit den Grundstein für den Wiederaufstieg in den Rang einer Supermacht.
Aber was würde Mao heute wohl von China halten?
12. November, ein verregnetes Hotel: „Alles tippitoppi bei den Taikonauten“
Der Ku Klux Klan freut sich über die Wahl Donald Trumps. Die Rechtsextremen in Rumänien freuen sich. Die AfD freut sich – so vielsagend wie die weltweite Empörung über die Wahl des Populisten mit dem goldenen Flugzeug zum Staatsoberhaupt der USA, so vielsagend ist, wer zum Club der Gratulanten gehört.
Am Wahl- und dem darauffolgenden Tag bleiben wir im Hotel, es regnet sowieso, und wir schauen den englischsprachigen Kanal des chinesischen Staatsfernsehens CCTV, lesen Analysen ausländischer Chinaexperten, allen voran die des exzellenten James Palmer.
Ich dachte, in China würde die Wahl Trumps vor allem mit Besorgnis aufgefasst werden, schließlich hat er angekündigt, chinesische Importe mit Strafzöllen zu belegen.
Allerdings ist es viel wahrscheinlicher, dass man sich auch im Regierungsviertel in Peking über diese Wahl freut. Dafür habe ich vor allem diese vier Gründe gefunden:
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Die Wahl Trumps dient Chinas Propagandamaschine als ein perfektes Feigenblatt dafür, die Vorzüge eines autoritären politischen Systems gegenüber einer Demokratie zu betonen. Um in politische Führungspositionen zu kommen, muss man sich in China jahrzehntelang durch die Instanzen und Intrigen der kommunistischen Partei schlagen und klettern, wird in das Wurzelwerk verschiedener ideologischer Strömungen und historischer Allianzen verflechtet. Dass ein Politiknewcomer und Reality TV-Star, der keine Steuern zahlt und noch nicht mal als Wirtschaftsmann Erfolge vorweisen kann, Staatsoberhaupt wird, wirkt aus chinesischer Perspektive so wahnsinnig, als würde das Amt ausgewürfelt. Der Verrückte ist ins Weiße Haus gewählt worden, sagte der Moderator im Staatsfernsehen am Dienstag und grinste.
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Mehr Menschen in den USA haben ihre Stimme für Hillary Clinton abgegeben als für Donald Trump. Nach einigen Schätzungen sogar rund zwei Millionen Menschen mehr. Wer auch immer die chinesische Führung vom Wert freier demokratischer Wahlen überzeugen will oder ihr eigenes hierarchisches Wahlsystem als undemokratisch kritisiert, der wird als Antwort bekommen: Schaut euch das Chaos in den USA an! Chinas Staatsführung ist im eigenen Land ausgesprochen populär, Präsident Xi Jinping unangefochten und beliebt. Die Hälfte der amerikanischen Gesellschaft hat hingegen Angst, von einem Clown regiert zu werden und nicht wenige sprechen vom Ende der Welt As We Know It. Das aus dem Land of the Free zu hören, ist natürlich auch ein Totschlagargument für chinesische Bürgerrechtler.
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Pekings außenpolitische Bedeutung hat sich gerade ordentlich vergrößert – Staaten wie Vietnam, die Philippinen oder Myanmar, die zwischen der Einflusssphäre Chinas und der USA pendeln, werden sich wahrscheinlich lieber für die Macht entscheiden, die ihre Versprechen hält, statt ihre Verträge neu verhandeln zu wollen. Staaten wie Taiwan, Japan oder Südkorea können sich hingegen nicht mehr so stark auf die militärische Allianz mit den USA verlassen wie bisher, um sich gegen die Ansprüche Chinas, zum Beispiel im Südpazifik, zu wehren.
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Trumps Drohung, chinesische Importe mit hohen Strafzöllen zu belegen bleibt eine reale Gefahr für das ohnehin ins Stocken geratene Wirtschaftswachstum Chinas. Andererseits arbeitet Peking seit langem daran, unabhängiger von Exporten in die USA zu werden und wird darin weitere neue Mitstreiter mobilisieren können. Im Inneren, in dem die eigene Bevölkerung zum patriotischen Konsumieren angetrieben wird, und durch die Stärkung der Handelsbeziehungen mit anderen Ländern. Während Europa darüber redet, die Fluchtursachen in Afrika zu bekämpfen, China der größte Investor des Kontinents geworden. Während die USA in Afghanistan jahrzehntelang Stellvertreterkriege ausgefochten hat, haben die Chinesen einige der lukrativsten Rohstoffabbaulizenzen eingesackt. Die USA schickt Drohnen nach Pakistan, China baut einen Highway durch das besetzte Kashmir und erweitert die alte Seidenstraße bis in den Persischen Golf. Und einen Tag vor der Wahl in den USA haben der chinesische und der russische Premierminister neue Handelsvereinbarungen in Milliardenhöhe unterzeichnet.
Im Gegensatz zu den westlichen Demokratien hat Peking keine Probleme damit, mit autoritären Regimen zu kooperieren, mit denen man riesige Infrastrukturprojekte umsetzen kann, ohne auf Umweltschützer oder Bürgerrechtler Rücksicht nehmen zu müssen.
Trumps erste Rede nach der Wahl wurde auch bei CCTV live gezeigt. Mitten im Satz schneidet die Moderatorin die Übertragung ab. Ein kleines Lächeln im Mundwinkel: „Und hier sind die weiteren Nachrichten des Tages.” Es folgt ein Beitrag über das neue chinesische Space-Shuttle mit Live-Schalte von Präsident Xi ins Weltall. „Ist alles Okay, habt ihr alles, was ihr braucht?“, fragt er. Alles tippitoppi bei den Taikonauten. Denen, die darüber anders denken, ist ein wichtiger Fürsprecher gerade verloren gegangen.
4. November, Hunan-Provinz: Der Kampf gegen die Dämonen
Ein Ruck geht durch den Witwer. Ha! Beten! Er springt vom Mah Jong-Spieltisch auf und kniet vor dem Sarg neben zwei alten Männern nieder, die lange weiße Leinenhemden tragen, eine Weste aus Seegras und eine Krone aus Draht und Papier, wie er selbst.
Der Sarg hat einen Glasdeckel und ist mit bunten Lichterketten verziert. Er könnte auch als Kühlschrank in einer Beach Bar an der Spree stehen.
Während draußen eine weitere Salve Feuerwerk auf die Straße knattert und ein Gong zum Angriff scheppert, unterbrechen drinnen weitere Zocker ihr Spiel, um in eine Flöte zu blasen oder auf eine kleine Trommel zu schlagen, so lange, bis die drei weißen, gekrönten Männer sich drei Mal verbeugt haben, bis ihre Stirn den Boden berührt.
Wir wurden zu dieser Beerdigung eingeladen, als wäre es die Eröffnung eines Opel-Autohauses. Am Eingang ein aufblasbarer blauer Gummi-Triumphbogen. Frauen reichen uns Bierbüchsen und Tee aus Ingwer und Pfeffer, Männer rauchen Kette, eine Kippe im Mund, eine hinterm Ohr, rechts steht der Sarg, links zocken die Gäste an sechs Spieltischen, als säße ihnen der Teufel auf der Schulter.
Ein Mädchen will ein Selfie mit mir machen. Kichern, Pose, Doppel-Peace. Bist du gar nicht traurig? Und wenn nicht, solltest du nicht wenigstens ein bisschen so tun, wie man es halt so macht auf Beerdigungen? In einer Ecke des Raumes liest ein Mann aus einem Textbuch und klopft dabei mit einem kleinen Holzschlägel einen Rhythmus. Was liest der Mann, frage ich. Das Mädchen dreht sich zu einer älteren Frau um und erklärt mir dann: Er liest Gebete.
Buddhistische Gebete?
Wieder dreht sie sich zu der älteren Frau um, nach einer Erklärung suchend. Diese kommt prompt und braucht keine Übersetzung.
Bist du blöd? Natürlich buddhistisch!
Der Witwer kehrt zum Tisch zurück. Er ist ein Bauer, drahtig; aufrecht sitzend lächelt er ohne Unterlass. Die Dämonen der Trauer und des Leides dürfen nicht die Oberhand gewinnen, nicht über seine Seele, nicht über die der Toten, nicht über diesen Ort, die alte, alte Großmutter, sie soll ordentlich wiedergeboren werden.
In Deutschland ist der Tod ein Tabuthema geworden, wir wollen beim Joggen sterben und nicht an die faltige, riechende Endlichkeit des Lebens erinnert werden. Während der Beerdigungen meiner Großeltern starrte ich auf Kisten in der Friedhofserde. Ich hatte sie Wochen oder Monate nicht gesehen, ich warf Blumen in ein Loch und mein Herz und meine Augen saßen in verschiedenen Filmen.
Hier, in Chinas Hunan Provinz, sitzen Familie, Freunde, Nachbarn Tag und Nacht mit der Verstorbenen zusammen und zocken und trinken und rauchen und machen Krach, um Dämonen zu verscheuchen, und um der Toten noch einmal „eine gute Gesellschaft zu sein“, erklärt mir der Witwer. Weinen ist erst nach vier Tagen, nach der Feuerbestattung, erlaubt.
Im Hof hinter dem Haus sind Kisten voller Feuerwerkskörper aufgestapelt. In sechs riesigen Woks brutzeln Dutzende Kilo Fleisch im Öl, die Vorfreude auf das Gelage wabert mit dem Essensduft durch die Räume, mit der jungenhaften Gelöstheit von Männern, die ums Feuer stehen, mit den Frauen, die subtil flirtend Berge Gemüse kleinhacken.
Bleibt doch zum Essen, sagt der Witwer. Er lächelt, aber er kann jede Hilfe in der Schlacht gegen das Traurigsein gebrauchen.
2. November, Hubei-Provinz: Eine Braut zum Mitnehmen
Die Braut, in weißem Hochzeitskleid und rotem Umhang, steht am Fenster eines kleinen kalten Raumes, wie ein Schwan am Ufer eines gefrorenen Sees. Sie ist allein hier, im zweiten Stock des Hauses ihrer Mutter, die Wände sind mit Schimmel und Glitzerherzen übersät.
Noch vor zehn Minuten knallten im Raum Gelächter und Konfetti, mit der Ankunft des Bräutigams stürmten ein Dutzend Freunde und Verwandte in die abschiedsschwere Stimmung. Draußen wehen die Palmen im Wind. Eine Marschkapelle, formiert aus Frauen aus der Nachbarschaft, in roten Jacken, beginnt zu trommeln. Die Braut schaut stumm zum Fenster hinaus. Durch meine Kamera betrachtet, steht sie in einer Korona aus weißem Morgenlicht.
Gestern Nachmittag waren wir in einer Kleinstadt in der Provinz Hubei, rund 1.200 Kilometer südlich von Peking, auf eine Gruppe Menschen gestoßen, die zwischen einem Truck und einem Festzelt tanzten. Wir hielten an, um zu sehen, was gefeiert wird, und wurden umgehend zu Tisch gebeten, wo man uns sieben Gerichte und soviel Reiswein, wie rein passt, servierte. Während des Essens hob man Kinder auf unsere Schöße, für gemeinsame Fotos.
„Die Hochzeit ist gegen acht oder neun. Ich will, dass ihr dann noch da seid“, sagt die Mutter der Braut, eine 53 Jahre alte, zerbrechliche Frau mit einem breiten Lächeln und sehr traurigen Augen.
Aber wir haben keine Unterkunft hier im Ort.
Sie klopft sich mit der flachen Hand auf die Brust. „Mein Sohn wird euch zu einem Hotel bringen. Seid meine Gäste.“ Die Nacht zuvor hatten wir unter einer Brücke geschlafen, und diese Einladung fühlt sich an wie Weihnachten.
Dass sie ihm Geld gibt für das Zimmer, sollen wir nicht sehen, und ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Andererseits fühlt es sich an, als buchte sie eine weitere Attraktion für die Hochzeitsfeier: Trinkt und macht Fotos mit den weißen Männern.
Noch bevor es zum Hotel geht, müssen wir liefern. Die Hochzeits-DJane, eine burschikose Mittvierzigern, kommt an unseren Tisch, sie spricht in ein Mikrofon, alles dreht sich in unsere Richtung und lacht.
„Komm, komm!“
Sie führt uns zur Musikanlage, die ein eingebautes Karaoke-Display hat. Vlad macht auf super beschäftigen Kameramann und grinst mich Haha!-mäßig an, wofür er hoffentlich, sollten wir irgendwann vor unseren Richter treten müssen, ein paar Stunden extra grillen muss.
Frau DJ drückt mir das Mikro in die Hand. Glücklicherweise muss ich nur eine geringe Hemmschwelle überschreiten, wenn mich jemand auffordert, die Blamage-Straße runter zu laufen. Dennoch lehne ich es dankend ab, zur Instrumentalversion eines chinesischen Popsongs vor Publikum zu fantasingen. Nach einer kurzen Inventur meiner sonstigen Entertainmentqualitäten entscheide ich mich dazu, ein Gedicht vorzulesen.
Mit mehr gutem Willen als Talent rezitiere ich etwas, das ich vor Jahren einmal zusammen gekritzelt habe. Ein halbes Dutzend Leute filmen mich dabei. Schmerzhafte Erinnerungen an die schlimmsten Seiten von Weihnachten, die endlosen Momente meiner Kindheit, in denen ich „was aufsagen“ oder singen musste, um mein Geschenk zu bekommen, werden in mir wach, und ich bin mehr als erlöst, als ich entlassen bin und meine Gastrolle wieder im Hinterstürzen miesen Reisweins ihre Erfüllung erfährt.
Nach einer Dusche und einem kurzen Nickerchen im Hotel kehren wir kurz nach neun zurück zur Party, in würdigeren Klamotten, darauf erpicht, unseren Verpflichtungen als Gäste nachzukommen - müssen jedoch feststellen, dass das andere neun Uhr gemeint war, das am Morgen.
Wie bei Weihnachten – um diesen miesen Vergleich endgültig überzustrapazieren – geht es bei Hochzeiten in China mindestens genauso sehr ums Geschäft wie um Liebe.
Der Druck zu heiraten, ist enorm, denn aus Ehen sind die Maschen des Netzes sozialer und finanzieller Absicherung geknüpft, das die Abwesenheit des Wohlfahrtsstaates ersetzen muss. 30 und noch Single? Sowas nennt man hier „unappetitlichen Rest“. Von Kindern wird erwartet, einmal die Eltern zu versorgen. Dem nicht nachzukommen, kann einen sogar ins Gefängnis bringen. Auch wenn das entsprechende Gesetz äußerst selten angewendet wird, ist der gesellschaftliche Druck, sich dem Willen der Eltern zu beugen, riesig. Noch bis 2003 war sogar das Einverständnis der Arbeitsstelle zur Partnerwahl Voraussetzung.
Wie alles in China, ist der Hochzeitsmarkt in hohem Maße wettbewerbsorientiert. Während die Braut früher in der Regel ins Haus der Schwiegereltern zog, hat der Mann heute eine eigene Wohnung in die Ehe mitzubringen, insbesondere, da von jungen Leuten sowieso erwartet wird, vom Land in die Städte zu ziehen, neue Jobs zu finden und zur Aufwärtsspirale aus Produktion und Konsum beizutragen, die Chinas Wirtschaftswachstum sichern soll. In den vergangenen zehn Jahren stieg der Anteil der Bevölkerung, die in Städten wohnt, von 30 auf 50 Prozent - und soll sich bis 2020 auf 60 Prozent erhöhen.
Das Problem ist, dass eine Einzimmerwohnung in der Stadt im Durchschnitt 80.000 Euro kostet und das Durchschnittsgehalt in China bei rund 600 Euro monatlich liegt.
Einen Priester oder eine offizielle Zeremonie braucht man hingegen nicht, um in China zu heiraten, „nur die Zustimmung der Eltern und Freunde“, erklärt mir ein Friseur an meinem Tisch. Er ist 31 Jahre alt und hat vor fünf Jahren ein Mädchen aus seiner Schule geheiratet. Er ist einer der wenigen jungen Leute auf der Hochzeit, und lebt mit seinen Eltern, zwei Geschwistern, seiner Frau und der gemeinsamen Tochter im Haus der Eltern. Sie sind für ihn auf Brautschau gegangen, sagt er, „weil sie sich in diesen Dingen besser auskennen“.
Am Tag der Hochzeit verbrennt das Ehepaar Totengeld aus Reispapier vor einem Foto des verstorbenen Vaters der Braut. Die Frauen im Raum weinen. Draußen verstauen die Freunde des Bräutigams die Hochzeitsgeschenke in den Autos, unter anderem Bettdecken.
Dann nimmt der Bräutigam seine Frau Huckepack und trägt sie in den Hof, begleitet von dem Krachen von Feuerwerk, dem Trommeln der Kapelle und dem Brummen der Autokolonne, zieht die kleine Hochzeitsprozession zum Ortsrand.
Dort steigt das Brautpaar in einen mit roten Schleifen verzierten Audi Q7 und fährt nach Wuhan, die Hauptstadt der Provinz, wo die beiden eine gemeinsame Wohnung beziehen.
Im Regen laufen wir zurück, vorbei an den stummen Resten der Feuerwerkscontainer. Im Hof, im Festzelt, sitzen wir noch einmal zum Essen zusammen.
Bei Fleisch und Fisch und Schnaps wird mir warm ums Herz, ich beginne mich extrem dankbar für die Gastfreundschaft zu fühlen, mit der wir in die Runde dieser Hochzeitsgesellschaft aufgenommen wurden und bekomme gar nicht mit, dass um uns herum das Zelt bereits abgebaut wird.
Das Essen ist noch gar nicht kalt, da wird uns mitgeteilt, dass die Party vorbei ist. Es ist zwölf Uhr mittags, keine Zeit, sich in sentimentalen Gefühlen zu verlieren. Zeit, zu gehen.
29. Oktober, im Zug nach Wuhan: Kleine Nachtmusik
Spätestens nach einer halben Stunde wache ich auf, weil mir der Hintern weh tut. Für diesen Zug fehlt mir einfach das Sitzfleisch. Ich rutsche ein bisschen vor oder zurück und meine vier Sitznachbarn rutschen mit.
Wenn ich mein linkes Bein ausstrecke, muss jemand anderes sein rechtes Bein einziehen. Wenn ich meine Arme verschränke, muss jemand anderes die Hände in den Schoß legen. Das alles passiert mit geschlossenen Augen, ohne Reden oder Gesten, Entschuldigung oder Dankeschön.
Als Passagiere dieses Nachtzugs spielen wir ein zwölfstündiges Stück Schlaftrunkenheit, bis wir Wuhan erreichen, etwa auf halber Strecke unserer Tour von Peking nach Hongkong.
Chinas Züge sind die Ameisenstraßen eines Landes im Umbau, sie verbinden Hunderte Millionen Arbeitsmigranten mit ihren Familien – oder trennen sie von ihnen. Jährlich werden rund 2,4 Milliarden Fahrkarten für das zweitgrößte Schienennetz der Welt gelöst. Für unsere rund 1.000 Kilometer lange Fahrt von Guangzhou nach Wuhan zahlen wir umgerechnet etwa 20 Euro.
Ein junger Mann, barfuß und mit einem Gesicht so rund und schreiend wie der Vollmond, plumpst auf den Sitz neben mir. Wir sitzen Schulter an Schulter. Hcchhracht. Er spuckt auf den Boden.
Ein Mann mit spitzen braunen Zähnen, in Jeans und einem grauen Hemd, sitzt mit geschlossenen Augen in der Sitzreihe neben uns. Sein Rücken ist durchgedrückt, die Arme wie Säulen auf die Knie gestemmt, als würde er auf dem Gehweg vor einer Bar einem Kartenspiel zusehen. Aus seinem Smartphone schallt die Unchained Melody der Righteous Brothers.
Vollmond-Mann dreht sich zu mir und plappert und plappert und ich plapper zurück und ich habe das Gefühl, dass gerade nichts störender wäre als eine gemeinsame Sprache, mehr gemeinsame Worte als „Ganbei!“ (Prost).
Wir prosten uns zu, dann springt er aus seinem Sitz, um mit drei anderen Männern einen Film anzuschauen. Ein Mädchen wirft ein Taschentuch über die Spuckepfütze und verreibt sie mit ihrem Schuh. Als ich einschlafe, weckt sie mich auf. Lass dein Telefon nicht einfach auf dem Tisch liegen!
Im Durchgang zwischen zwei Abteilen teilen Männer Zigaretten mit mir. Sie sind auf Dienstreise. Wenn ich frage, was ihr Job ist, zeigen sie auf verschiedene Komponenten ihrer Smartphones.
Der Zug rattert. Fingernägel klippen. Das Schmatzen und Schnurpsen von heißen Nudelsuppen und kalten Hühnerfüßen. Das Schnarchen. Wir rollen in einem schwitzenden Orchestergraben durch die Zwischenwelt.
Ich gehe zurück und nehme meinen Platz wieder ein. Ich habe schon schlechter geschlafen.
26. Oktober, Hongkong: Club Tropicana
„Bist du eher so Typ Karl-Heinz Riedle oder Karl-Heinz Rummenigge?“, fragt mich der Trainer des Clubs Tropicana FC Hongkong. Er ist Engländer und arbeitet seit 20 Jahren als Anwalt in der ehemaligen britischen Kolonie. Nebenbei coacht er die Amateurfußballer, die mich heute nach gelungener Blitzregistrierung beim Verband mitspielen lassen wollen. Hoffe ich zumindestens.
Es geht gegen die Erzrivalen, einen Verein mit dem pathetischen Name „Spartans“. Die Stimmung ist etwas angespannt. Tropicana hat die ersten fünf Spiele der 1. Legal League verloren, 25 Tore kassiert, kein einziges geschossen. Der Kapitän, ein rotbärtiger Schotte, hat gerade abgesagt, seine Frau ist schwanger, sein Hund gelähmt, er muss mit ihm in die Tierklinik nach Mong Kok.
Ich bin mir nicht sicher, was im Anwalt vorgeht, ob es der Mut der Verzweiflung ist, ein psychologischer Trick oder britischer Sarkasmus, als er mir das Trikot mit der Nummer 10 zuwirft. Am Tag zuvor hat Bayern-Vorstand Karl-Heinz Rummenigge den Clubs der Premier League vorgeworfen, ausländische Nachwuchstalente quasi zu kidnappen und nach England zu verschleppen. Das hat man auch in Hongkong registriert, Manchester United und der FC Chelsea haben hier Fußballschulen.
Als Deutscher mit Engländern über Fußball zu reden, ist sowieso ein Minenfeld. Kalle Riedle zum Beispiel hat eines der Tore geschossen, die Englands größtes Fußball-Trauma verursachten, das Aus im WM-Halbfinale 1990 im Elfmeterschießen.
Wie der Linksverkehr, die Doppeldeckerbusse, das akkurate Anstehen und Regeln für alles außer die Marktwirtschaft, gehört der Fußball zum Erbe der britischen Besetzung Hongkongs. In der Heimat von Kung-Fu-Legende Bruce Lee ist Fußball heute der populärste Sport.
1886 wurde hier der erste Club gegründet, seit 1889 werden Meisterschaften ausgespielt. Und obwohl Hongkong als Sonderverwaltungszone seit 1997 offiziell wieder zu China gehört, hat es weiterhin eine eigene Nationalmannschaft, dem politischen Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ folgend. Für eine Weltmeisterschaft konnte sie sich noch nie qualifizieren. Als ihr größter Erfolg gilt ein 2:1-Sieg gegen China, 1985 in Peking.
Die Meisterschaft hat dieses Jahr Eastern AA gewonnen, ein Club mit Spielern aus Brasilien, Kroatien, Serbien und England sowie dem ehemaligen deutschen Drittligaprofi Andreas Nägelein. Trainerin Chan Yuen-Ting ist die erste Frau weltweit, die mit einem Männer-Profi-Team eine nationale Meisterschaft gewinnen konnte.
Über die ganze Stadt verteilt findet man Kunstrasenplätze und kleine Fußballstadien. Die Spielstätte der Spartans ist traumhaft schön, umgeben von Palmen und Hochhäusern, über uns gleitet die Metro, einen Steinwurf entfernt fliegen die Fische im Shing Mun, der Platzwart verbrennt Weihrauch vor einem Buddha-Schrein.
Ich bin in Hongkong, weil wir unsere China-Tour unterbrechen mussten, um unsere Visa zu verlängern. Gerade saßen wir noch mit Bauern in schäbigen Hutongs, vor denen alte Frauen Maiskolben schälten. Jetzt wohnen wir im 18. Stock eines Hochhauses mit Portier bei einem Engländer, der an einer Privatschule unterrichtet. „Meine Schüler haben keine Ahnung vom Leben in China“, sagt er. Vielleicht können wir einen Vortrag über unsere Reise halten, wenn wir wieder kommen, fragt er.
In Hongkong fühle ich mich Lichtjahre von China entfernt. Es ist eine der reichsten Städte der Welt, die Luft und die Straßen sind peinlich sauber, selbst die Möbelpacker sagen „Excuse me, Sir“. Statt Muskeln vom Arbeiten haben die Menschen hier Muskeln vom Trainieren.
Als die Briten das Gebiet im Opiumkrieg 1841 eroberten, lebten in Hongkong etwa 7.500 Menschen, die meisten vom Fischen. Später wurden hier billig Textilien hergestellt, dann wurde die Stadt zum internationalen Finanzzentrum entwickelt und zählt heute rund 7,3 Millionen Einwohner. In keiner Stadt der Welt ist die Kluft zwischen Armen und Reichen größer als hier.
Mong Kok, der Stadtteil, in dem Tropicanas rotbärtiger Kapitän seinen Hund zur Tierklinik bringt, ist der am dichtesten bevölkerte Flecken Erde. Innerhalb von fünf Minuten kann man durch einen Straßenmarkt, eine Shopping Mall, eine Hochhausschlucht, ein chinesisches Restaurant laufen, unter Wäscheleinen hindurch, Leuchtreklamen, Palmen, Überwachungskameras, als gäbe es keine Wände.
Nach einer halben Stunde auf der Tribüne schickt mich der Coach aufs Feld. Ich habe ewig nicht gespielt, es sind 30 Grad, die Luftfeuchtigkeit beträgt 90 Prozent und ich bin viel zu langsam für das Niveau dieser Liga. Trotzdem ist es toll, mal wieder Fußball zu spielen, und ein paar Chancen kriege ich auch. Nach 65 Minuten werde ich ausgewechselt. Kurz darauf gehen wir mit 1:0 in Führung. „Come on, lads!“
Kurz vor Schluss erzielen wir das zweite Tor und Tropicana gewinnt sein erstes Spiel in dieser Saison. „Good game“, sagen die Jungs. Ich glaube, das ist eher Höflichkeit. Aber, well, dieser Deutsche hat ihnen wenigstens mal Glück gebracht ;-).
22. Oktober, Hongkong: Im Reich der Kippe
Für Raucher ist China das Paradies. Rauchen ist billig und man kann sich praktisch überall eine Kippe anstecken, unter dem Rauchverbotsschild im Restaurant gibt dir der Koch Feuer, am Ende des Zugabteils pafft der Schaffner.
Rund 350 Millionen Chinesen rauchen, 42 Prozent alle weltweit konsumierten Zigaretten werden hier hergestellt – vom Staatskonzern China Tobacco, der dadurch jedes Jahr um die sieben Prozent der Staatseinnahmen generiert. Umgerechnet sind das mehr als 100 Milliarden Euro, etwa dreimal so viel wie der Etat der Bundeswehr.
Hier sind auf den Zigarettenpackungen keine Fotos von offenen Krebswunden und schwarzen Zähnen abgebildet, sondern Pandabären, goldene Blätter und zuversichtlich schmökernde alte Männer. Hier bietet man uns bei jeder Gelegenheit Zigaretten an.
Ich habe die Attitüde, mit der sich Männer in Schwarz-Weiß-Filmen Zigaretten anboten, immer geliebt. Es gehörte zu ihnen wie der Hut. Die Taschenspielersicherheit, mit der sie das Feuerzeug aus dem Jackett zauberten.
„Darf ich?“
Ich fand das immer eine großartige Geste, großzügig, höflich – und gleichzeitig erzählt sie so viel über die Beziehung zweier Menschen zueinander, kann bevormundend, gönnerhaft, schmierig oder kameradschaftlich wirken, eine Statusstudie in bewegten Bildern.
In Restaurants in chinesischen Kleinstädten kommen regelmäßig Männer zu uns und legen Zigaretten auf dem Tisch ab. Manchmal ist es die Belohnung für ein Selfie. Meist wollen sie einen etwas genaueren Blick auf uns werfen. Wenn ich nicht gerade esse oder sowieso schon rauche, bieten sie mir Feuer an, nicken wie Bogart und gehen wieder.
In einer Hotellobby mussten wir einmal eine Stunde darauf warten, registriert zu werden. Die Eigentümer hatten die Polizei gerufen. Ein Mann, der uns das Hotel empfohlen hatte, bot den drei Polizisten Zigaretten an, dann mir, dann steckte er sich selbst eine an. Wir sitzen doch alle im selben Boot, war die Botschaft. Ich liebe diese Jungs-Rituale - aber so viel wie hier habe ich noch nie geraucht.
Zur Zeit sind wir in Hongkong, wir mussten unsere Fahrradtour kurz unterbrechen, um unsere Visa zu verlängern. Hier, in der ehemaligen britischen Kolonie, ist Rauchen aus dem öffentlichen Raum weitgehend verbannt worden, ist zum Beispiel in Parks, Stadien, Bars, Bahnhöfen, an Stränden und auf Fußgängerbrücken verboten und wird mit bis zu 5000 HK$ (etwa 600 Euro) geahndet.
Hongkong begann Anfang der Achtziger Jahre das Rauchen schrittweise einzudämmen und zu sanktionieren. Heute rauchen nur noch 10 Prozent der Gesamtbevölkerung. In China gibt es seit vergangenem Jahr ebenfalls ein striktes Anti-Raucher-Gesetz. Aber es hält sich keiner daran. 68 Prozent der Männer und 3 Prozent der Frauen rauchen.
In Deutschland rauchen noch etwa 25 Prozent der Menschen, wobei abzusehen ist, dass die Quote weiter sinkt, denn junge Menschen finden es zunehmend uncool. Es guckt ja auch keiner mehr Filme aus den Fünfzigern.
In Hongkong leben wir bei einem Englischlehrer, den wir aus Bukarest kennen. Ich frage ihn, ob man in seiner Wohnung rauchen kann. Nein, sagt er, ist im gesamten Gebäude verboten. Wir sind im 18. Stock.
Nee, dann rauch ich jetzt doch keine mehr.
15. Oktober: Waisenkinder des Fortschritts
„Oh my God, ohmygod!“ - Ein drahtiger, 14 Jahre alter Teenager mit Brille springt vor uns auf den Gehweg. Er bittet um ein Foto und zieht seine Freunde am Schulranzen mit. Wir sind die ersten Ausländer, die sie je gesehen haben.
„Und wo übernachtet ihr?“
„Wissen wir noch nicht. Wir sind gerade aus diesem Hotel geflogen.“
„Wollt ihr heute Nacht bei uns bleiben?“
Jetzt hätte ich beinahe Oh my God! gerufen. Der 14-Jährige ist der erste, der er uns einen Schlafplatz in seinem Zuhause anbietet.
„Aber müsst ihr nicht erst eure Eltern fragen?“
Müssen sie nicht. Wie fast 30 Millionen andere Kinder in China, haben sie beide Elternteile an einen Job in einer anderen Stadt verloren. Sie sind Waisenkinder des Fortschritts, der hunderte Millionen Chinesen vom Land in die Städte drängt. Die Eltern leben hunderte Kilometer weit weg, arbeiten in einer Schuhfabrik und in einer Autowaschanlage.
„Viel können wir euch leider nicht bieten“, sagt das Mädchen, „wir haben nicht viel Geld.“
Den ganzen Tag sind wir durch den Regen gefahren. Jetzt wird mir warm ums Herz. Die drei Teenager leben in einem Raum mit zerbröselnden Wänden, drei mal drei Meter, mit Schimmel in den Rissen. Der 14-Jährige ist rastlos, redet und hüpft ununterbrochen, der andere Junge sagt den ganzen Abend kein Wort. Das 17-jährige Mädchen sieht kaum älter aus als die Jungs, ist aber wie eine Mutter zu ihnen.
Die ganze Einrichtung besteht aus einem Koffer, in dem sie Klamotten und Snacks aufbewahren, ein paar Bücherstapeln und zerfledderten Aufgabenheften, zwei Nachttischen und zwei schmalen Betten aus Eisenrohren. Die Toilette ist auf dem Flur eine Etage tiefer.
Sie beschießen uns mit Fragen:
- Warst du auf einer berühmten Universität?
- Muss man im Examen sehr gut sein, um auf deine Universität gehen zu können?
- Vermisst du deine Familie?
Sie sind überglücklich, mit jemandem Englisch reden zu können. Die Englischprüfung macht ein Viertel der Punktzahl im Eignungstest für die Hochschule aus. Sie wollen Jura studieren und Anwälte werden.
Wir teilen uns eine Dose Walnussmilch und einen kleinen Kuchen. Der Rastlose hat zwei Mädchen aus seiner Klasse angerufen, sie kommen vorbei, um mit uns zu reden.
Der Junge nimmt eine Postkarte aus seinem Nachttisch und zeigt sie uns. Darauf ist ein Bild der Xianmen-Universität. „Mein Traum“, sagt er und drückt es an seine Brust. Als ich 14 war, war die Uni so ziemlich das letzte, an was ich gedacht hab. Er steht mit dem Gedanken daran auf.
Der Wettbewerb um Akademiker-Jobs ist enorm, die Arbeitslosenquote unter Hochschulabsolventen liegt bei 16 Prozent. Auf welche Uni man geht, ist daher entscheidend für die Karriere. Allerdings schafft es nur einer von 50.000 Abiturienten in China auf eine der Top-Universitäten.
Um dort akzeptiert zu werden, zählt nur eins: die Punktzahl im Examen, dem berüchtigten Gaokao. Er gilt als der härteste Hochschultest der Welt und dauert neun Stunden. Neun Millionen Schüler absolvieren ihn jedes Jahr.
Das ganze Land nimmt an der Tortur teil. Die Polizei sperrt Straßen rund um Schulen, es gibt ein Moratorium für Bauarbeiten. Im Fernsehen und Radio werden die Fragen diskutiert. Um Betrug zu verhindern, müssen sich die Schüler an vielen Schulen per Fingerabdruck oder Iris-Abgleich identifizieren, die Prüfungsräume sind kameraüberwacht. Bis zu sieben Jahre Haft drohen Test-Betrügern.
Jedes Jahr berichten Medien über Schüler, die sich das Leben nehmen, weil sie dem Druck nicht standhalten. Niemand hier streitet ab, dass der Gaokao grausam ist. Aber wenigstens ist er gerecht, ist die Meinung der absoluten Mehrheit. Nur die Leistung zählt, nicht der Status oder die Beziehungen.
Und das einzelne Examen, das über die Zukunft eines jungen Menschen entscheidet, hat in China eine lange Tradition, die bis in die Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220) zurückreicht, als das Keju, das Reichs-Examen für angehende Beamte eingeführt wurde. Es dauerte drei Tage. Nervenzusammenbrüche waren üblich. Nur ein Prozent der Bewerber bestand den Test, der bis 1905 durchgeführt wurde.
Die Teens schreiben ihre Namen auf die Postkarte von der Xianmeng-Universität und geben sie uns. Dann holt der rastlose Junge sechs weitere aus seinem Schreibtisch. „Schreib was für uns, bitte!“
Eher aus Verlegenheit schreibe ich: „Be good students!“ Ohmygodohmygod! Der Junge hüpft auf und ab und klatscht in die Hände. Und ich hatte Angst, dass ich etwas entsetzlich Langweiliges geschrieben habe. Besucht uns irgendwann mal in Deutschland oder Rumänien, ergänze ich noch.
„Wollt ihr ein Auslandssemester machen?“
„Ja, aber das können wir uns nicht leisten“, sagt das Mädchen, „wir sind arm.“
Ihre Eltern verdienen rund 500 Euro im Monat, gerade genug, um die Kinder in der Schule zu halten.
Ein Nachbar ruft über den Hof. Wir sollen nicht mehr so laut sein. Es ist 23 Uhr.
„Wir legen uns jetzt schlafen“, sagt das Mädchen, „ich mach mir Sorgen, dass wir sonst zu spät zur Schule kommen.“ Sie nimmt zwei kleine Flaschen süße Milch aus dem Koffer und gibt sie uns. „Für morgen.“ Wir machen das Licht aus.
Ich teile mir ein Bett mit Vlad. Die anderen drei schlafen in Schichten im kleineren Bett, einer bleibt immer mit dem Smartphone in der Hand am Bettrand sitzen.
Im Dunkeln schreibt mir das Mädchen noch eine WeChat-Nachricht, entschuldigt sich für die „prekären Umstände“ und fügt eine Rose hinzu🌹
Am Morgen stehen wir 5.30 Uhr auf, im Hof kräht ein Hahn. Die Schule beginnt um 6 Uhr mit einer Stunde selbsständigem Lesen. Sie endet 21 Uhr mit den Hausaufgaben. Yep, das sind 15 Stunden, auch wenn nicht alles Unterricht ist, auch Sport und Arbeitsgruppen von Schönschreiben bis Programmieren gehören dazu, das Ganze wirkt trotzdem wie eine Mischung aus Ganztagesschule und Armee.
Sie freuen sich trotzdem auf die Schule. Wir verabschieden uns im Regen:
„Goodbye, ihr Hübschen!“
„Bleibt stark, junge Freunde!“
13. Oktober, Weishi: „Wie viel hast du für mich bezahlt, Papa?“
Wir erreichen Weishi, rund 700 Kilometer von Peking entfernt, über eine breiten Boulevard. Nachdem wir stundenlang von schlaglochübersäten, stockdunklen Landstraßen durchgeschüttelt wurden, haben wir nun sechs Spuren makellosen Asphalt fast für uns allein, beleuchtet von Laternen, die wie Kronleuchter aussehen. Ab und zu begegnet uns ein Auto, überholen wir ein Dreirad oder einen Elektroroller, rummst ein mit Sand überladener Truck vorbei.
Diese Straße ist offenbar für die Zukunft gebaut, eine Zukunft, in der in Weishi weit mehr als 870.000 Menschen leben. Die Häuser für die Menschen, die noch nicht hier leben, werden schon gebaut. Leere Betontürme stehen zwischen Feldern, schäbigen Imbissbuden und Fabriken und bilden eine alptraumhafte Skyline, die an senkrecht im Ozean versinkende Kreuzfahrtschiffe erinnert.
Wir halten vor einem kleinen Hotel, durch die Glastür kann man den Inhaber am Computer sitzen sehen, einen Meter vom Eingang entfernt. Er ist fasziniert von meiner Übersetzungs-App, er spuckt mir aufs Display und schreit mir ins Ohr und ich fürchte, seine großen gelben Zähnen werden mich im Traum verfolgen. Er nimmt seine Lesebrille aus der Schublade, schaut mit zusammen gekniffenen Augen in unsere Reisepässe, dann schlägt er sie zu. Argh, hier nimm, geht einfach hoch aufs Zimmer!
Die Bettwäsche fühlt sich speckig an. Durch Fenster blind vor Dreck blinkt grün und rot die Werbung am Haus gegenüber ins Zimmer. An den Wänden im Bad auf dem Flur ein Labyrinth aus Kabeln und Rohren, alte Zahnbürsten und Waschmittel auf dem Fensterbrett.
Am nächsten Morgen, als ich die Treppe herunter komme, hängt der Hotel-Inhaber gerade Bettlaken zum Trocknen auf. Seine älteste Tochter hackt Fleisch und schneidet Gemüse.
Sein Sohn, ein Verkäufer und Hochzeits-DJ, kommt in der Mittagspause zum Essen vorbei. Er fragt, ob ich reich bin, und ruft seine Freundin auf Arbeit an, zeigt ihr im Video-Chat den bärtigen Typ aus Deutschland. Ich habe eine Jogginghose an, bin erkältet und habe seit zwei Tagen nicht geduscht. „You are so cool!“, sagt die Freundin.
Die jüngste Tochter des Hotel-Inhabers ist Englischlehrerin, aber sie liest nicht gern. Sie mag Filme mit Helden wie Iron Man. Sie gibt ihrem drei Monate altem Baby, dessen Name Wundervoll bedeutet, die Brust, während ihr Bruder American Wrestling im Internet streamt.
Die Hotellobby, in der das alles geschieht, ist nicht mal halb so groß wie der Wrestling-Ring. Wundervoll verliert ständig ihre Schühchen. Ich ziehe sie ihr wieder an, einen Teller auf den Knien.
Der Hotel-Inhaber hat drei Töchter und einen Sohn. Wie geht das?, fragen wir. Hatte China nicht 1980 die Ein-Kind-Regel eingeführt, Abtreibungen und Sterilisationen erzwungen?
„Mein Vater hat viel Geld an die Polizei gezahlt.“
Wie viel?
Das erste Kind war umsonst.
Das zweite 950 Yuan.
Und wieviel habe ich gekostet, Papa, fragt die drittgeborene Tochter.
1.450 Yuan.
Weniger, als ich in Peking für mein (gebrauchtes) Fahrrad bezahlt habe.
Um den Sohn, das vierte Kind, behalten zu können, musste der Vater 10.000 Yuan bezahlen.
Nicht jeder musste die Behörden bestechen. Es gab Ausnahmen von der Regel, für die Landbevölkerung und für Minderheiten zum Beispiel. Die Ein-Kind-Regel galt für etwa 30 Prozent der chinesischen Haushalte, in den Städten waren jedoch rund 90 Prozent davon betroffen. Dieses Jahr hat China offiziell den Kurswechsel in der Familienpolitik beschlossen.
Zwischen 1965 und 2012 ist die Geburtenrate von 6,16 Kindern pro Frau auf 1,66 gesunken. Will China in den Riesenschritten weiterwachsen wie bisher, braucht es mehr Kinder, hat die Regierung in Peking erklärt.
Denn derzeit altert die Gesellschaft schneller, als sie reich wird. Bald wird es mehr neue Rentner als neue Arbeiter geben. Die Ein-Kind-Regel wurde daher nicht nur aufgehoben, nun drängt die Propagandamaschine der kommunistischen Partei Familien dazu, mindestens zwei Kinder zu haben, schickt Beamten Briefe, in den sie aufgefordert werden, sich für das Wohl der Nation zu vermehren und stigmatisiert unverheiratete Frauen mit Hochschulbildung als unappetitliche „Übriggebliebene“, sheng nu.
Schließlich gilt es, eine Menge leuchtender Boulevards and leerer Hochhäuser mit Leben zu füllen.
Für die Familie, bei der wir gerade sind, ist das Gastgewerbe nur ein Nebenjob. Früher bauten sie Baumwolle an, aber vor ein paar Jahren mieteten sie das Hotel. Sie zahlen 30.000 Yuan Miete im Jahr und machen damit die Hälfte ihres Einkommens. Die Gäste sind Händler oder Fabrikarbeiter, die auf der Durchreise für eine Nacht absteigen.
Ihre Felder bewirtschaftet die Familie weiterhin, jetzt mit Futtermais, Weizen, Erdnüssen und Sojabohnen.
Nun verstehen wir auch, wieso so viele Traktoren noch spät nachts unterwegs sind, warum so viele Bauern in Jeans und Sneakers Furchen ziehen oder Dünger streuen: Sie pendeln zwischen Feld und Tagesjob.
Mit ganzem Herzen Bauern und halbem Arsch Hotel-Besitzer - unser Gastgeber steht für eine typische Transformation in einem China, das sich rasend schnell wandelt. Immer häufiger ist es jedoch ein Familienmitglied mit einem Fabrikjob in der Großstadt, das das Einkommen wesentlich aufbessert. Für diese Form der Migration sind die ballsaalähnlichen Boulevards gebaut worden. Eine Einladung zum Tanz mit dem Kapitalismus.
Als wir gehen, gibt uns der Inhaber seine Vistenkarte. Der Name des Hotels ist Viel Glück. Er kann aber auch Viel Reichtum bedeuten, sagt seine Tochter.
8. Oktober, Baozhuangcun: „Follow us!“
„Ich hab’s noch gesagt. Diesmal haben wir es zu weit getrieben“, sagt Vlad. Vor uns fährt die Polizei. Das Blaulicht auf dem Dach des alten VW Santana wird vom Staub, der Nacht, den kleinen Ziegelhäusern in Baozhuangcun zurückgeworfen.
Wir waren die große Sehenswürdigkeit im Dorf. Das hat vielleicht nicht jedem gefallen. Dass wir überall gefilmt haben. Dass uns Essen gebracht wurde. Dass wir den Sängern die Show gestohlen haben. Da war dieser alte Mann, der mir zweimal signalisiert hat, ich soll die Kamera ausmachen. Ich habe ihn ignoriert.
„Falls sie uns getrennt befragen sollten, halten wir uns einfach an die Angaben aus unseren Visa-Anträgen“, sage ich. Der Polizeiwagen biegt nach links ab auf einen Feldweg. „Fahrt uns hinterher“, haben sie gesagt.
Am Tag zuvor begannen wir etwas trübselig zu werden. Wir hatten Tausend nette Begegnungen mit Menschen, aber sie blieben nur sehr kurz und oberflächlich. Wie alt bist du, was ist dein Beruf, bist du verheiratet und so weiter. Das obligatorische Selfie, und das wars. Persönlichere Fragen: Kopfschütteln, Wegwinken. Als hätte jemand auf Stummschalten gedrückt.
Oft starren uns Menschen einfach nur an, als wären wir Außerirdische. Irgendwie stimmt das ja auch. Für die allermeisten Menschen hier auf dem Land sind wir die ersten Ausländer, die sie jemals gesehen haben.
Also entschieden wir uns, die Taktik zu ändern. Aufdringlicher zu werden. Schließlich wollen wir herausfinden, wie die Menschen hier leben und wie sie denken, wollen einen Blick in die Hinterhöfe und Häuser werfen.
Der nächste Tag beginnt fantastisch. Mittags platzen wir in die Eröffnungsfeier einer Klinik für Stammzellentherapie und werden zum Essen eingeladen, ein dreistündiges Gelage mit Schnaps und Trinkspielen. Am Ende bekommen wir noch eine Arznei mit auf den Weg, die einfach alles heilt und uns obendrein noch reich macht.
Am Nachmittag lädt uns ein Maisbauer auf ein Glas heißes Wasser in sein Haus ein, sitzen mit seiner ganzen Familie auf dem Sofa.
Am Abend erreichen wir schließlich Baozhuangcun, ein Dorf mit sechs Straßen. Auf einer davon ist eine große Bühne aufgebaut. Eine Band spielt traditionelle Musik, eine Frau singt dazu eine Art Arie, sehr dramatisch, unglaublich laut. Goldene aufblasbare Löwen säumen den Straßenrand, unter bunten Lichterketten sitzen Menschen auf Hockern und verfolgen gebannt die Show.
Bis wir kommen. Wir filmen und die Menschen fangen an, uns beim Filmen zu filmen. Schon bald schauen mehr Leute zu uns, als zur Bühne. Ein Schwarm Kinder folgt mir, aber wenn ich versuche sie zu fotografieren, ist es wie mit dem Hund, der versucht, sich in den eigenen Schwanz zu beißen: Ich drehe mich um und die Kinder drehen sich ebenfalls um oder laufen schreiend weg.
Am Ende der Straße sitzen Menschen in einem Zelt aus Tüchern. Sie tragen weiße Binden auf dem Kopf und schweigen. Vielleicht sind sie nur konzentriert, haben gleich ihren Auftritt, denke ich.
Auf einem Tisch stehen Platten und Etagèren mit Früchten. Kann man hier Essen kaufen? Nein, aber ich kann dir etwas besorgen, sagt eine junge Frau. Ein älterer Mann zupft mir am Ärmel rum und zeigt Richtung Ausgang.
Es stellt sich heraus, wir sind auf einer Beerdigungsfeier gelandet.
Wir gehen zurück zu unseren Fahrrädern, aber ein Mann drückt uns Schüsseln mit Sellerie und Rindfleisch in die Hand. Man bringt uns eine kleine Bank, Stäbchen, gedämpftes Brot, Wasserflaschen.
Wir sitzen mit Blick Richtung Bühne und essen, aber wir können den Sänger kaum sehen, weil so viele Menschen um uns herum stehen. Ein geistig behinderter Junge springt auf und ab, lacht und klatscht in die Hände.
Zeit zu gehen, sagt Vlad. Wir sollten unser Glück nicht herausfordern. Wir radeln aus dem Dorf. Eine Menschentraube folgt uns, angeführt von drei Polizisten. Jemand ruft Halt! Wartet! Abhauen, denke ich, aber es ist zu spät.
„Have a passport?“
Wir zeigen auf der Karten-App auf ein Hotel in der nächsten Stadt. Einer der Polizisten geht telefonierend weg. Als er wiederkommt, werden wir zum Polizeiauto geführt.
„Follow us!“
Wir fahren hinter der Polizei her und gleichen unsere Geschichten ab. Was können wir über die Fahrradtour sagen, was nicht. Was ist unser Ziel? Werden sie uns festnehmen?
Wir erreichen die Schnellstraße, die Polizei biegt links ab und bleibt unter einer Autobahnbrücke stehen. Die Polizisten steigen aus, signalisieren uns, anzuhalten.
„Let’s make a photo“, sagte einer von ihnen. Foto? Ein Foto?! Na klar, lasst uns Fotos machen! Wir sind so erleichtert, dass wir fast schreien. Die drei Polizisten machen abwechselnd Selfies mit uns, legen die Arme um unsere Hüften, am VW rotiert immer noch das Blaulicht.
„Thank you. Hotel, ten kilometers this way.“
6. Oktober, Shijiazhuang: „Zum ersten Mal seit zwei Wochen sehe ich die Sonne“
Wir fahren an der blinkenden Skyline einer weiteren Millionen-Stadt vorbei, direkt in braune Felder, die im horizontlosen Smog verschwimmen. Alles hier fühlt sich an wie ein Foto, das aus Versehen doppelt belichtet wurde. Kurz denkt man, allein auf einem Weg durch abgeerntete Maisfelder unterwegs zu sein, da tauchen aus dem Weiß wie Geister Bauern auf dem Fahrrad auf, eine Harke auf der Schulter, eine Kippe im Mundwinkel. In einem Buddha-Tempel bringt man uns das Beten bei.
Ein Hochspannungsmast brummt. Ein alter Mann schläft auf der Ladefläche seines Dreirads. Auf der Bahntrasse über uns donnert der „Harmony Express“ mit 350 Sachen vorbei, wie ein Flugzeug im Tiefflug. Gegen diesen Zug wirkt der ICE wie eine Straßenbahn, in viereinhalb Stunden verbindet er die Metropolen Peking und Shanghai, eine Distanz von 1318 Kilometern.
„Was wächst auf deinem Feld“, frage ich eine Frau. „Nicht viel“, sagt sie. Aus einem Eimer verstreut sie blaue Düngerkügelchen. An einer Kreuzung sitzen Greise um ein Brettspiel herum und ignorieren uns.
Kinder fallen fast vom Roller, wenn sie uns sehen. Ein dicker Mann haut mir auf die Schulter und will ein Selfie. Abends, in der Stadt Xingtai, essen wir an Tischen, die auf dem Bürgersteig aufgestellt sind. Nudeln braten in einem Wok, der auf einer brennenden Tonne steht. Das Hotel, das wir angesteuert hatten, nimmt keine ausländischen Gäste. Überall liegt Müll.
Während wir essen, stellen sich mehrere Männer um unseren Tisch. Einer krempelt sein Hemd über den Bauch. Der Koch gibt uns Hoteltipps. Wir werden wieder abgewiesen. Mit Baidu, dem chinesischen Google Maps, finden wir ein Inn für 8 Euro die Nacht. Toilette auf dem Gang. Am nächsten Morgen bittet der Hotelbesitzer mich, ein Foto mit seiner Frau zu machen.
Und dann, für zwei volle Stunden, öffnet sich der Himmel. Zum ersten Mal seit zwei Wochen sehe ich die Sonne. Wir fahren weiter gen Süden.
https://www.facebook.com/vlad.ursulean/posts/10153749963501890
3. Oktober, Quyang: Atemlos durch Hebei
Yep, bisher haben wir über Tanzen berichtet, darüber wie herzlich die Chinesen sind und wie einfach die Kommunikation hier ist dank Smartphones (Google stellt übrigens seine Übersetzungs-App seit vergangener Woche vom bisher handelsüblichen Algorithmus um auf eine neue Version, die mit Artificial Intelligence bis zu 80 Prozent besser sein soll. Die erste Sprache, für die „Neural Translation“ angewandt wird, ist Chinesisch. Bisher funktioniert die chinesische App Youdao hier aber noch deutlich besser).
Es gibt aber natürlich auch unangenehme Themen. Die unfassbare Luftverschmutzung zum Beispiel. Samstag sind wir von Shunping nach Quyang in der Provinz Hebei gefahren, rund 250 Kilometer südlich von Peking, und es ist gar nicht möglich zu übertreiben, wie dreckig es dort ist.
Die Augen brennen und tränen, das Herz rast, die Nase läuft, man möchte alle paar Minuten ausspucken. Und es geht nicht nur uns so, die wir nicht daran gewöhnt sind. An diesen Dreck gibt es keine Gewöhnung. Das, was die Menschen hier jeden Tag einatmen ist laut Index „Hazardous“, gefährlich.
Viele tragen Atemmasken oder Robocop-mäßige Plastikvisiere vor dem Gesicht, selbst im Auto oder im Bus. In die Gesichter alter Menschen hat das Blinzeln vertikale Furchen gegraben, Kinder halten sich auf der Straße die Nase zu, um sich vor den Abgasen der Trucks, der Kohleöfen, der offenen Feuerstellen, der brennenden Reifen, Müllhaufen und dem Geruch von Gülle und herumdünstenden Chemikalien zu schützen.
Als wir losgefahren sind hatten wir ziemlich großen Hunger und kauften uns an einem Straßenimbiss ein paar Snacks, die noch zu heiß waren, um sie gleich zu essen. Aber je weiter wir in den Smog fuhren, umso mehr ging nicht nur unser Appetit verloren, allein der Gedanke, unter diesem apokalyptischen Himmel etwas zu essen, oder überhaupt nur irgendetwas, das man noch essen will, dieser Luft auszusetzen, erschien hirnrissig.
Der Smog war so dicht, man konnte kaum 50 Meter weit sehen. An einem Tag, der normalerweise spätsommerlich heiter gewesen wäre, verkümmerte die Sonne zu einem stecknadelkopfgroßen orangefarbenem Stück Mitleid. Die Luft war so mit giftigen Dämpfen gesättigt, dass man sie buchstäblich in Stücke hätte schneiden können.
Kann man Luft so sehr mit Dreck anreichern, dass sie von ihrem gasförmigen Zustand in eine feste Form umschlägt? So stell ich mir das Ende vor für uns alle hier: Keiner kann sich mehr bewegen, keiner mehr atmen, wir sind gefangen in einem giftigen Wackelpudding.
Ja, die Luft in Peking war dreckig in einem Maße, dass ich dachte, es ist eigentlich fahrlässig, hier freiwillig viel Zeit zu verbringen. Aber was wir zwischen Shunping und Quyang gesehen haben, lässt einen ans Ende der Welt denken.
Während wir nur durchreisen und uns irgendwann wieder über die frische Luft zuhause freuen können, wird der Dreck hier die Menschen wahrscheinlich noch für Generationen krank machen. Das Traurige daran ist, dass das zu einem großen Teil auch der Dreck ist, den wir Konsumenten im Westen von unseren Schwellen gekehrt haben. Das Smartphone, auf dem ich diesen Text schreibe, und die Klamotten, die ich im Moment trage, sind in China produziert. Natürlich wusste ich das auch vorher, es steht ja auf den Sachen drauf. Aber hustend und spuckend wird mir hier klar, was die Entkopplung von Produktion und Konsum bei uns für Menschen 6000 Kilometer weit weg bedeutet.
Auf diesen Luftverschmutzungskarten kann man die aktuelle Lage in Deutschland und China live vergleichen. Hier gibt es weitere Informationen dazu.
30. September. Auf einen Walzer in Xushui: Zuckerbrot und Peitsche
So wie es aussieht, haben wir uns letzte Nacht in Xushui eine Menge Freunde gemacht. Xushui ist eine Stadt mit knapp 600.000 Einwohnern, 130 Kilometer südlich von Peking. Wir hatten nicht vor, hier zu bleiben. Aber wer kann schon Nein zu einem Tanz sagen. Wir jedenfalls nicht. Aber eine Wahl hatten wir eh nicht.
Der Boulevard war eine sechsspurige Allee, gesäumt mit gigantischen Kronleuchtern, die im Smog hingen. Sieht aus wie ein Ballsaal, meinte Vlad. Rechts von uns tauchte ein öffentlicher Platz auf. Im Geflicker rotierender Werbesäulen droschen junge Männer mit Peitschen auf riesige Kreisel ein. Als jagten sie Ratten. Hinter ihnen ein Dreirad mit einem Lautsprecher. Pärchen, die eine Art Tango tanzen. Am Rande ein Soldat.
Ein Mann mit zwei goldenen Siegelringen zieht mich am Ärmel. Tanz, tanz! Mit der anderen Hand hält er eine Frau in einem schwarzen Kleid und Mantel am Arm fest. 1,2,3 – 1,2,3. Sie führt. Ein Typ in halboffenem lila Hemd spielt Trompete. Die Nacht dreht sich um uns, der Platz ein Walzer.
„Where to sleep?”
Das Lied ist zu Ende. Um mich herum eine Menschentraube. Sie wollen WeChat-Freunde werden. Vlad ruft an: Komm rüber zu mir, Kreisel peitschen! Ich kann nicht, sage ich, ich bin hier gerade eingespannt.
„Have a chance to Xushui, I served you.”
WeChat! WeChat! Scan QR code. Add friend. Add friend. Add friend. Der Typ mit den Siegelringen, er hat ein Video von mir und Lady Walzer gemacht. Jemand gibt mir ein Stück Melone. Jemand anderes nimmt es mir wieder weg. Vlad kommt vorbei. Die Musik setzt wieder ein. Wir wirbeln. Vlad hat jetzt auch eine Lady Walzer.
„Put on more clothes on.”
Sie will ein Foto mit mir. Alle wollen Fotos mit uns. Ookaayy! Ookaayy! Sie legen unsere Arme um ihre Hüften. Nach drei Dutzend Selfies brechen wir auf.
„Where are you two?”
Es ist zu spät geworden, um noch in das Dorf am Fuß des Gebirges zu fahren. Wir suchen ein Hotel. Vlad, ich glaube, wir sind im Rotlichtbezirk. In den Lobbys sitzen junge Frauen und tippen in ihre Smartphones. Drei Hotels schicken uns weg.
„Foreign friends. You sent big red envelope.”
Einer meiner neuen WeChat-Freunde schreibt mir Textnachrichten auf Chinesisch. Ein Video-Anruf: Er liegt auf dem Bett, im Bademantel, leckt sich über die Lippen. Komm, komm, macht sein Zeigefinger.
„Still, I’m the police. Let you call her sister.”
Ein weiterer Hotelbesitzer weist uns ab. Aber bei dem dort, sagt er, könnt ihr bestimmt bleiben. Der dort ist ein dünner, schwarz gekleideter 35-Jähriger. Großer Goldring. Sturzbetrunken. Oh, yes, you my friend, sagt er. Er hat sehr weiche Hände. Bisschen halbseiden, das Ganze, sagt Vlad.
„Someone call the police.”
Lady Walzer schickt ein paar der Selfies von letzter Nacht. „Last night went to the station to send sister dance shoes need them“, schreibt sie in einer Nachricht auf WeChat.
Nachrichten bekommen wir jetzt sehr viele.
https://www.youtube.com/watch?v=VFXDuA0vwAs
26. September, Peking
Als ich gestern auf der Suche nach einer Fahrradtasche durch Peking lief, fiel mir ein kleiner Imbiss auf, in dem eine junge Frau ein ziemlich kurioses Stück Gemüse in Scheiben schnitt. Ich zückte mein Smartphone, öffnete die Google-translate-App und hielt es ihr an den Mund. Sie sagte „金針“ (sprich: jin zheng gu). Das ist eine Pilzart, die aussieht, als wäre sie im erzgebirgischen Seiffen geschnitzt worden. Die drei Silben noch im Ohr, habe ich sie sofort wiederholt und in meine Übersetzungs-App gesprochen. Die spuckte aber nicht „Nadelpilz“ aus, sondern: „Golden Monkey treasure bar.“
Deutschland heißt auf Chinesisch „德國“ (duh gwoh) – gerade mal zwei Silben. Aber wenn ich sie Google translate diktiere, übersetzt es meist: Rettich. Manchmal auch Hose. Immerhin ist es meist ein Grund zum Lachen, wenn ich jemandem sage, dass ich aus Rettich bin.
Der Fehler liegt nicht bei der App, wohlgemerkt. Es sind die vier verschiedenen Betonungen, die es im Chinesischen für jede Silbe gibt, die ich nicht hinkriege. Dennoch ist es kein Problem, sich in Peking zu orientieren. Zum einen sind die meisten Straßennamen auch auf Englisch ausgeschildert, und in Bussen wie U-Bahnen gibt es ebenfalls englischsprachige Durchsagen und Kennzeichnungen. Die Fahrkartenautomaten sind auf jeden Fall leichter zu bedienen als in Berlin.
Und auch, wenn nur ganz wenige Menschen eine Fremdsprache beherrschen, kann man mit jedem, der willens ist, kommunizieren, denn fast jeder spricht hier Smartphone.
Apple produziert seine iPhones nicht nur in China, seit zwei Jahren verkauft das Unternehmen hier auch mehr Smartphones als in den USA. Und dabei ist Apple mittlerweile nur noch der fünftgrößte Anbieter auf dem Markt hinter den lokalen Marken Huawei, Vivo, Oppo and Xiaomi.
Zwischen 2008 und 2015 ist die Zahl der Chinesen mit Internetzugang von 253 Millionen auf 688 Millionen gestiegen. China hat nun die USA als größten Online-Handelsplatz der Welt abgelöst. Und dieser Markt wuchs zuletzt jährlich um 33 Prozent.
Das ist aus verschiedenen Gründen interessant. Zum einen verdeutlicht es, wie schnell sich das Wirtschaftsmodell Chinas ändert, denn der Online-Markt ist fast ausschließlich in der Hand privater Firmen, und die machen damit viel Boden gut auf die Staatsunternehmen. Sie erschließen zudem vor allem neuen kleinen, ebenfalls privaten Firmen einen Absatzmarkt, die nun an den Start gehen können, ohne erstmal viel in Ladengeschäfte oder Logistik investieren zu müssen.
Und aus einem zweiten Grund ist die rasante Digitalisierung Chinas einen näheren Blick wert: Das Wachstum im Online-Handel wird insbesondere von einkommensschwachen ländlichen Regionen aus angeschoben, denn dort bestellen die meisten Menschen mit ihrem Smartphone. Diese Entwicklung markiert den Übergang von einer produzierenden zu einer konsumierenden Gesellschaft. Jedes Jahr konsumieren die Chinesen rund zehn Prozent mehr Waren.
Mein rumänischer Kollege Vlad Ursulean und ich dachten uns also: Da passiert gerade etwas richtig Großes auf der anderen Seite der Welt, und wir haben eigentlich keine Ahnung, was das bedeutet. Hunderte Millionen Chinesen vom Land sind mitten im Prozess der Industrialisierung und Digitalisierung.
Sie werden die einflussreichste soziale Gruppe und Käuferschicht des 21. Jahrhunderts sein und damit einen Teil ihrer Kultur auf uns projizieren. Wir werden wahrscheinlich alle ein bisschen Chinese sein, so wie wir jetzt alle ein bisschen Amerikaner sind.
Also haben wir unsere Taschen gepackt und sind nach Peking geflogen. Wir haben uns ein paar gebrauchte Fahrräder gekauft und radeln nun Richtung Süden. Einmal quer durchs Land.
https://www.facebook.com/photo.php?fbid=10153732182391890&set=a.437529406889.239046.610041889&type=3
Was uns in Peking schon überrascht hat – und im Nachhinein klingt es saublöd, das zu sagen – ist, wie offen und fröhlich und niedlich die Chinesen sind, die wir bisher getroffen haben. Am liebsten würde ich alle paar Minuten jemanden kneifen. Und wenn du ehrlich bist, dann sind Menschen, die auf den Straßen tanzen, nicht das erste, woran man denkt, wenn man sich eine Art kommunistische Diktatur vorstellt.
Aber die Chinesen lieben es ganz offensichtlich zu tanzen und zu singen. Egal, wo aus einer kleinen Boombox oder dem Verstärker einer klapprigen Kapelle ein Schlager-, Folklore- oder Popsong brömmelt, sieht man Pärchen alter Frauen und junger Liebender schunkeln und wuppen, präzise ausgerichtete Reihen oder ganze Formationen von Menschen tanzen vorm Einkaufscenter simultane Choreografien – oder eben auf Arbeit, in Parks, auf öffentlichen Plätzen, auf Fußwegen, überall, wie gesagt.
Grüppchen rauchender Männer sitzen auf dem Bordstein und spielen Karten, zwischen Müll und Myriaden von Dreirädern. Bei spontanen Karaoke-Auftritten im Wohngebiet brandet Applaus auf, Kinder spielen Badminton in Hauseingängen. Und vor zwei Tagen sah ich, wie sich die halbe Belegschaft eines Carrefour-Supermarktes in der Elektroabteilung vor Lachen die Bäuche hielt, während sie auf einem der ausgestellten Flat Screens einen Jackie-Chan-Film guckte.
In Peking ist man außerdem nie sehr weit von einem Starbucks, KFC oder McDonald’s entfernt. Man kann fast überall mit dem Smartphone bezahlen. Meine Fahrradtasche hab ich schließlich bei Decathlon gekauft, und als wir eines Nachts die letzte U-Bahn um 23.03 Uhr verpasst haben, haben wir uns über die Uber App ein Taxi bestellt.
Der Fahrer fuhr einen Toyota Hybrid und im Radio lief Rihanna. Und wären wir Hinterwäldler noch immer unsere Facebook-Freunde adden, indem wir Namen in ein Suchfeld eintippen, scannen die Chinesen einfach den QR-Code ihres WeChat-Profils.
Später am Tag bin ich zu einem Friseur gegangen. Auch dort haben wir uns mit einer Übersetzungsapp verständigt, die chinesische Version sieht der von Google ziemlich ähnlich. Man kann einen Text klassisch tippen, einsprechen, oder sich über Augmented Reality direkt im Foto übersetzen lassen.
Ich beschrieb also, wie ich mein Haar gern hätte, und der Friseur legte los. In dem Salon arbeiteten ungefähr 20 dünne junge Männer, die alle ganz in Schwarz gekleidet waren und entweder Asics, Nikes oder Stoffschuhe trugen, aus denen lauter Metallspitzen ragten. Die ganze Belegschaft nahm sich aus wie eine Gang; wie (hervorragend frisierte) Jungs, die nach Feierabend an der Feuertreppe mit ihren Zippos klicken.
Als mein Friseur fertig mit Schneiden und gerade am Föhnen war, und es ums Thema Styling ging, tippte ich in das Handy eines seiner Kollegen ein: „Danke, ist gut so!“
Der Kollege zuckte mit den Achseln und sprach etwas in sein Smartphone. Dann zeigte er mir den Bildschirm. Dort stand: „Do you want to blow like him?“ Beide nickten mir aufmunternd zu und zeigten auf das Gesicht meines Friseurs.
Ich lehnte höflich ab und entschied, mich nicht auf die App zu verlassen, um zu erklären, was daran so zweideutig ist.
Trotz solcher Pannen: The Great Firewall ist kein Problem, wenn man in China unterwegs ist. Die staatliche Internetzensur ist kinderleicht per VPN zu umgehen, den man im Appstore runterladen kann. Die einzige Firewall für uns in China ist die Sprache.
Illustration: Matei Branea. Bilder: Christian Gesellmann, Vlad Ursulean.