Wie konnte das nur passieren? Rechts neben mir wackelt ein Fuchs auf zwei Beinen vorbei, links von mir winkt ein menschengroßes Plüsch-Pferd ins Publikum, in einigen Metern Entfernung sehe ich, wie ein knallgrüner Dino einen Tiger umarmt. Mir tropft der Schweiß von der Stirn, es ist tierisch heiß unter meiner Maske. Und ein bisschen flauschig. Ich bin in diesem Moment nicht mehr Esther, die Reporterin. Sondern Snowi, der weiße Tundra-Wolf.
Der Schlamassel hatte mit meiner Kollegin Theresa begonnen. Sie war es, die ursprünglich zum Thema Furry-Bewegung recherchiert hatte. Von ihr lernte ich: „Furries“ sind Teil einer subkulturellen Strömung, die sich in den 80er und 90er Jahren aus der Comic- und Science-Fiction-Szene entwickelt hat. Menschen, die sich in dieser Szene tummeln, begeistern sich für fiktionale Tiergestalten mit menschlichen Charaktereigenschaften. Anthropomorphismus, so der wissenschaftliche Begriff.
Meine Neugierde war geweckt. Ich hatte schon immer ein Herz für schräge Typen. Und für Tiere. Deswegen möchte ich heute auch morphen. Ich will ausprobieren, wie es ist, ein Furry zu sein.
Im Vorfeld hatte ich mich schlau gemacht: Viele Fans zeichnen und erdenken ganze Geschichten zu ihren Tier-Mensch-Charakteren, manche erschaffen gleich einen eigenen für sich selbst, eine „Fursona“. In aufwendiger Kleinarbeit nähen und basteln sie menschengroße Kostüme, „Fursuits“, in die sie hineinschlüpfen. Manche sprechen nicht mehr, sobald sie verkleidet sind, oder wählen ihre plüschige Persönlichkeit nach Eigenschaften aus, die sie mit der jeweiligen Tierart verbinden. Andere tragen keine Kostüme, aber stehen auf Furry Pornos: Comics und animierte Bilder, die Tier-Mensch-Charaktere beim Sex zeigen. Und wieder andere interessieren sich nur für den künstlerischen Aspekt. Fürs Zeichnen, Basteln und Entwickeln der Fantasie-Kreaturen.
Als ich am Morgen zum Veranstaltungsort komme, ein Berliner Hotel, dauert es keine Minute, bis mir klar wird: Die Welt hier drinnen ist eine andere als draußen; selbst die Rezeptionistinnen haben sich kleine Kunstfellohren in ihre akkuraten Frisuren gesteckt. Überwiegend schlendern Männer über das Gelände der plüschigen Zusammenkunft, die den offiziellen Titel „Eurofurence“ trägt. Manche stecken schon in ihrer Fursona, wer darauf verzichtet hat, fällt eher durch Unscheinbarkeit auf. Zwei der vielen Teilnehmer, beide Typ schlaksiger Nerd, liegen sich einige Meter von mir entfernt in den Armen, einer krault dem anderen lächelnd den Rücken, der zweite hält etwas in der Hand, das wie ein riesiger künstlicher Fuchsschwanz aussieht. Ich bin irritiert, gehe weiter – und laufe fast einem Einhorn aus rosa Plüsch in die Arme.
Peinlich berührt entschuldige ich mich und werfe schnell einen Blick ins Programm, das so dick ist wie ein kleines Magazin. „Real World Furries?“, „The Fox Panel“, „Dancer Furs Meet“; fünf Tage lang werden auf der Eurofurence so viele verschiedene Workshops und Veranstaltungen angeboten, dass mir schon jetzt ordentlich der Kopf schwirrt. Sogar eine eigene Zeitung zur Veranstaltung gibt es, 200 Menschen umfasst allein das Organisations-Komitee. Zwei Teilnehmer sind aus Island angereist, sechs aus Malaysia, insgesamt sind 2.500 Menschen gekommen – längst ist das Furry Fandom keine kleine Szene mehr. Das amerikanische Magazin New Yorker rief im Februar den „neuen Anthropomorphismus“ aus. Eine amerikanische Forschergruppe, bestehend aus Soziologen und Psychologen, hat das Furry-Fandom gar wissenschaftlich untersucht. Fünf Jahre lang.
Aber mich interessiert jetzt nicht die Theorie, sondern die Praxis. Deswegen suche ich Patrizia. Sie würde mir ihre Fursona leihen, so hatten wir es im Vorfeld besprochen. Ich solle sie beim „Dealer’s Den“ suchen, dem veranstaltungsinternen Markt in der Hotel-Halle, auf dem die Furries alles kaufen können, was ein richtiger Fan braucht: die kuscheligsten Stoffe, die schönsten Comics, die besten Disney-DVDs. Patrizia wollte dort selbst gezeichnete Bilder von Furry-Charakteren verkaufen. Im richtigen Leben arbeitet die 25-Jährige als Grafikdesignerin. Sie war schon drei Tage vor dem offiziellen Beginn der Eurofurence angereist, zusammen mit ihrem Freund. Der ist auch ein Furry – und geht als Wildschwein.
Auf dem Weg zum „Dealer’s Den“ laufe ich an zwei Bonbon-bunten Hüpfburgen vorbei, sehe zwei Furries, die es sich übereinanderliegend auf einem riesigen Sitzsack bequem gemacht haben und erblicke einen lebensgroßen Fuchs, der scheinbar verloren allein in der Gegend herumsteht. Hellbraunes Kunstfell, weißer Bauch, grüne Augen. Knuffig. Auf dem Halsband, das der Fuchs trägt, steht auf einer Plakette sein Fursona-Name geschrieben: Keno. Ich beschließe, ihn anzusprechen. Allerdings weiß ich nicht, wie gut der Mensch im Kostüm mich hören kann, oder wo ich beim Gespräch mit Keno genau hinschauen muss, damit er mich auch sieht. „Äh, Hallo?“, sage ich (wie spricht man richtig mit einem Zwei-Meter-Fuchs?) „Kannst du mich hören?“. Ein leises „Ja!“ dringt aus dem Inneren des Fuchses nach außen. Ich muss mich nah heran beugen, um ihn hören zu können, aber es geht.
Keno will seinen wahren Namen nicht nennen, verrät mir aber, dass er 29 Jahre alt ist, in Leipzig lebt – und eigentlich als Polizist arbeitet. Seit zehn Jahren ist Keno Teil der Furry-Szene, für ihn fing alles über das Action-Computerspiel „Star Fox“ an: Der Fuchs McCloud soll in diesem Spiel einen Planeten retten, der auseinanderzubrechen droht. Erst zockte Keno nur, dann verbrachte er mehr und mehr Zeit im Star Fox-Fanforum. Er erfuhr von der Furry-Szene, war fasziniert. Irgendwann sagte eine Freundin zu ihm: „Du bist ja nicht nur ein Fan, sondern eher ein Fuchs von der Art und Weise!“ Keno, der damals noch nicht Keno war, überlegte und musste zustimmen: Ein Fuchs lebt in der Natur – Keno verbringt am liebsten Zeit draußen. Füchsen sagt man nach, sie seien clever und schnell im Denken – das sagen Freunde über Keno auch. Ein Fuchs hat eine schmale Statur und schnüffelt gern an Dingen – Keno ist für einen Mann ebenfalls schlank gebaut und legt Wert darauf, wie Menschen oder Dinge riechen.
„Der Fuchs ist mein absolutes Lieblingstier“, spricht Kenos Kunstfellschnauze jetzt zu mir. Er bleibt ruhig und freundlich bei all meinen Fragen, ein sehr sympathischer Fuchs, denke ich. Alle zwei Wochen tauscht der Polizist seine Uniform gegen die Fursona, seine Kollegen wissen Bescheid. Alles gut. Meist holt er Keno zu bestimmten Szene-Events aus dem Schrank. Warum? Weil das Leben durch Keno bunter wird, sagt der Polizist im Fuchsmantel, die Haare seines Kunstfells kitzeln lautlos an meinem Ohr. Zu Hause packt er den Fursuit eher selten aus. „Man muss vorsichtig sein, so ein Kostüm ist teuer, da geht bei jedem Tragen was kaputt“, erklärt der Polizist. Falls er sich aber doch mal nach Feierabend zu Hause auf der Coach in Keno verwandeln will: kein Problem. Kenos Mitbewohner hat dafür Verständnis. Auch er ist ein Furry.
Langsam weicht mein Gefühl der Befremdlichkeit meiner Neugierde. Auf meinem Weg zum Markt sehe ich immer wieder Furries, die sich umarmen. Ich will es auch versuchen. Zum Test umarme ich erst ein Pferd, dann einen Dino, danach noch einen Wolf. Fühlt sich gut an. Tatsächlich sehr flauschig.
Typische Fragen unter Teilnehmern, die als Fursona auf der Eurofurence unterwegs sind:
- „Ist mein Schwanz noch dran?“ (Könnte ja jemand drauftreten)
- „Wo ist der nächste Lüfter?“ (Viel zu heiß in so einem Ganzkörper-Fursuit)
- „Darf ich dich umarmen?“ (Wobei sich hier sowieso ständig alle umarmen)
Es wäre zu leicht, die Furries als Verrückte und die Eurofurence-Convention als Freakshow abzutun, auch, wenn „das Furry-Fandom ja schon ein bisschen geekig ist“, wie der lispelnde Pressesprecher eine Woche vor der Eurofurence am Telefon zu mir gesagt hatte. Hier treffen sich die Plüsch-Freunde und sind – ja was eigentlich? Neben menschengroßen Dinos, Häschen, Füchsen, Tigern und Wölfen zum Anfassen? Frei, denke ich. „Eine warme und empathische Familie“, hatte ein Teilnehmer zu mir gesagt, selig grinsend, wie es nur jemand kann, der an einem Ort angekommen ist, an dem er sich endlich gut aufgehoben fühlt.
Ich quetsche mich durch die Menschenmenge im „Dealer’s Den“, dann erspähe ich Patrizia. Eine zerbrechlich schmale, schüchterne Frau mit Jungs-Charme in zu weiten Jeans und klobigen Sneakers. Für Hotel, Essen und den Konferenz-Pass zahlen sie und ihr Freund einige hundert Euro. „Aber für uns ist das hier Urlaub, das Highlight im Jahr“, sagt sie und lächelt schüchtern, während wir im Fahrstuhl stehen, auf dem Weg in ihr Hotelzimmer. Dort angekommen liegt Snowi in seinen Einzelteilen schon im Flur parat: Kopf, Pfoten (für die Füße) und Tatzen (für die Hände), der Körpersuit baumelt noch an einem Bügel. Auf einer kleinen Kommode stehen Desinfektionsspray und ein kleiner Handlüfter für die Kopfmaske parat. Patrizia ist ganz Profi; Snowi besitzt sie schon, seit sie 15 ist. Schritt für Schritt hat sie Snowi zusammengespart. „Deswegen fühle ich mich auch sehr verbunden mit meiner Fursona“, sagt sie, Euphorie in den Augen. „Es ist, als ob durch den Fursuit ein Stück meiner Fantasie Wirklichkeit wird, das ist ja das Tolle!“
Ich nicke etwas zögernd und schlüpfe in meine Kunstpfoten. Dann der Kopf. Gar nicht so einfach. Durch welche Eigenschaften sich Snowi denn auszeichne, frage ich, während ich mit meinem Wolfskopf kämpfe. „Snowi ist schon so wie ich, also freundlich, offen und spontan“, sagt Patrizia. „Aber weniger schüchtern.“ Tatsächlich werde ich das später auch noch bemerken: Snowi, also mein Fursuit, baut Hemmungen ab. Im normalen Leben mache ich einen weiten Bogen um jeden Fotoapparat, aber in Patrizias Fursuit, der heute für kurze Zeit meiner sein soll: überhaupt kein Problem. Wo bitte ist die nächste Kamera?!
Mittlerweile stecke ich drin in den Pfoten, die Kopfmaske sitzt auch. Jetzt kommt der Ganzkörpersuit, der eng am Körper mit einem Gürtel befestigt wird. Meine Verwandlung nimmt Gestalt an. Ich werde bereits mutiger. Und stelle jetzt endlich die kniffligsten Fragen: Wieso fassen sich hier alle ständig an? Was soll das gegenseitige Kribbeln, das ich so oft am heutigen Tag beobachtet habe? Ein Fetisch mit sexueller Komponente? „Nein, das ist kein Fetisch“, sagt Patrizia. Aber Tiere könnten eben nicht sprechen, sie kommunizierten über körperliche Interaktion. Viele Furries sprächen nicht mehr, sobald sie in ihrem Fursuit steckten. Daher das gegenseitige Kribbeln.
Leuchtet mir ein. Also weiter zur kniffligsten aller Fragen: Ob Patrizias Begeisterung fürs Furry-Fandom nicht vielleicht daher rühre, dass sie lieber ein Tier als ein Mensch wäre? Denn von solchen Fällen hatte ich während meiner Recherche zur Vorbereitung gelesen. Dass manche Furries sich tatsächlich wünschten, lieber im Tier- als im Menschenreich zu leben. Im Wald. Auf dem Feld. In einer Höhle. Patrizia lacht herzlich und bleibt ruhig. „Nein, das nicht“, sagt sie. „Ich bin sehr begeistert dabei, aber es ist für mich ein Hobby.“ Ich bin mittlerweile so gut wie angezogen. Es fehlen nur doch die Tatzen-Handschuhe für meine Hände, bei denen Patrizia mir geduldig hilft. Überhaupt ist sie wahnsinnig freundlich, wie alle hier.
Wir verlassen das Hotelzimmer, ich tapse in meinem Fursuit in den Aufzug. In Etage zwei steigt ein Greifvogel dazu. Wir nicken uns wortlos zu, Patrizia lächelt, blickt schüchtern zu Boden. Und es passiert das, was sie schon angekündigt hatte: Ich beginne nach wenigen Minuten zu schwitzen. Das Kunstfell staut die Temperatur, das Gewicht des Fursuits drückt auf den Körper.
Als sich die Fahrstuhltüren im Erdgeschoss öffnen, hole ich einmal tief Luft. Patrizia redet mir gut zu, bevor ich meinen ersten Schritt als Snowi in die Empfangshalle setze. „Ganz vorsichtig, pass auf, dass du nirgendwo gegen läufst, die Sicht ist in der Maske ja eingeschränkt.“ Ich höre sie wie durch einen Schleier, setze bewusst einen Fuß vor den anderen, strecke die Arme als Schutz vor mir aus. Wir gehen langsam in Richtung Empfangshalle – und noch bevor ich es verstanden habe, bin ich in der Kostümparade gelandet, die sich einmal durchs ganze Hotel und das Gelände drum herum schlängelt. Ich sehe nur noch: winkende Furries und klickende Kameras. Oh Gott!
Ich verliere Patrizia aus den Augen. Und komme mir albern vor. Aber Stehenbleiben ist keine Option. Also laufe ich mit und pose auch in die Kameras. Erst fühlt es sich seltsam an. Dann befreiend, wie ein lustiger Scherz. Von irgendwo her schallt laute 80er-Musik zu mir herüber. Es ist unfassbar heiß unter der Maske. Ein anderer Furry hatte mir wenige Stunden zuvor fürsorglich geraten, genug zu trinken und zu essen, bevor ich in den Fursuit schlüpfen würde. „Nicht, dass du den Kreiskauf-Kasper machst und im Kostüm umkippst“, hatte er gesagt. Ich hatte natürlich beides vergessen. Langsam wird mir komisch zumute.
Dann sehe ich Patrizia. Ich rufe ihr über die Musik hinweg zu, dass ich dringend aus der Maske raus müsse. Bloß: Vor all den anderen Furries den Kopf abnehmen geht nicht, ein absolutes No-Go in der Szene. Dort heißt die unausgesprochene Regel: Man zeigt sich entweder im ganzen Kostüm oder als Normalo. Also raus auf die Terrasse. Schnell. Oder: So schnell es in Pfoten eben geht.
Die Handwerker, die dort gerade Pause machen und eine Zigarette rauchen, schauen irritiert und belustigt zugleich, als ein weißer Wolf in Menschengröße durch die Tür tritt und wenig später den flauschigen Kopf abnimmt. Endlich kann ich wieder atmen. Patrizia fragt, ob alles okay sei. Ja, alles okay.
Ein professioneller Furry aber wird aus mir nicht werden, das weiß ich jetzt. So weit reicht meine Tierliebe nicht. Vielleicht auch nicht meine Fantasie. Gemeinsam mit Patrizia gehe ich auf ihr Hotelzimmer, um mich wieder zurück zu verwandeln in Esther, die Reporterin.
Als ich zu Hause ankomme und meinen Pulli ausziehe, weil mir immer noch so heiß ist, fällt mir mein T-Shirt auf: von oben bis unten voll mit feinen, weißen Kunstfaserhaaren – Rückständen von Snowis Fell.
Man könnte es fast für echt halten.
Redaktion und Produktion: Rico Grimm; Aufmacherbild: Autorin Esther Göbel etwas zerzaust, nachdem sie den Kunstkopf ihres geliehenen Alter Egos „Snowi“ abgenommen hat. Foto: Frank Suffert.